09 Januar 2006

Der Klozechpreller

Obwohl ich mir sehr wohl ein verfeinertes kulinarisches Empfinden zurechne, verschleppt mich Kollege J. mittags immer mal wieder in unfassbare Niederungen der Essensaufnahme, die er in fröhlicher Offenheit auf den Nenner „Heiß und fettig“ bringt. Man kann ihm das nicht verübeln, er ist Franke von Geburt. Gottergeben trotte ich heute wieder mal hinter ihm her, obgleich ich mir im Lauf meiner hedonistischen Reifung einen natürlichen Ekel gegenüber ölgeduschten Frikadellen und Lasagnebrei vom Stehimbiss antrainiert habe. Doch mit meinem opferbereiten Begleitservice kann ich demonstrieren, wie hoch Kollegialität letztlich in meinem Wertesystem rangiert. Ob er das merkt, weiß ich jedoch nicht; in seinen Augen sehe ich nur die wilde, ungezügelte Gier nach Frikadellen.

Erste Adresse für „Heiß und fettig“ in Ottensen ist das Einkaufszentrum Mercado. Vorm Essen muss ich noch mal wohin und stelle fest: Die Herrentoilette des Mercado ist fest in afrikanischer Hand. Zwei, wenn nicht gar drei Bedienstete beiderlei Geschlechts wirken hier frohgemut im Dienste sauberer Keramik. Man kann sogar von einer Art Party des Toilettenpersonals sprechen. Die gelassenen Reggaerhythmen von „The Lion sleeps tonight“ hallen noch hinüber bis in die Klokabine, wo man versucht ist, mitzuwippen, was unter diesen Umständen allerdings dem Toilettenpersonal mehr Arbeit verschaffen würde als notwendig.


Im Waschraum wird die Gebühr für den angebotenen Komplettservice unmissverständlich mit 30 Cent taxiert. Zumindest künden blutrote Großlettern davon. Sie stehen auf einem Zettel, der sorgfältig über einem praktischerweise aufnahmebereiten Schälchen drapiert wurde. Kein Zweifel, die Brigade weiß, was ihr Job aus Putzen und Party wert ist. Das Schälchen selbst erfreut sich offenbar ständiger Leerung, denn es befinden sich nur zwei Münzen darin. Sie ergeben addiert – natürlich – 30 Cent.


Mein Problem: Ich habe ausschließlich Scheine in der Tasche. Eine unangenehme Situation. Denn ich muss vorwegschicken, dass es für mich mit einem hohen Schamgehalt belastet ist, Toilettenpersonal um Wechselgeld zu bitten. Vielleicht ein Kindheitstrauma, ich weiß es nicht. Verfüge ich zufällig nur über Münzgrößen, welche die zu honorierende Dienstleistung m. E. deutlich überbewerten – also Ein- oder Zwei-Euro-Stücke –, dann lege ich sie gemeinhin ins Schälchen, fingere fahrig und errötend ein angemessenes Wechselgeld heraus und fliehe diesen Ort eilends.


Aber hier liegen nur 30 Cent, und ich habe nur vermaledeite Scheine, derweil im Nebenraum die afrikanische Frohsinnstruppe Party macht zu „The Lion sleeps tonight“, mit Sichtkontakt zum Schälchen.


Die Situation hat etwas Verfahrenes. Es gibt nur eine Lösung. Aber es ist keine, die mir Ehre einbringt. Ich nutze einen der zahlreichen Momente partybedingter Unaufmerksamkeit und entschwinde wie ein Dieb in der Nacht, ohne Obolus.


Wie nennt man so etwas, Herr Staatsanwalt – Erschleichung von Dienstleistungen, lachhaft begründet mit einem irrationalen Schamempfinden? Nein, nein: Der Löwe, er mag schlafen heute Nacht, aber Gott, der sieht alles. J., ein geborener Katholik, würde das fröhlich bestätigen, doch ihm gegenüber verschweige ich lieber die Klozechprellerei.


Bei „Heiß und fettig“ halte ich den Frikadellen des Franken einen Spießbraten und ölgeduschte Bratkartoffeln entgegen, dazu matschige Sauerkrautsträhnen. Und auf dem Heimweg fotografiere ich lustlos eine Reeperbahnstraßenlampe mit dem Mond als Begleitservice. Heute ist eh alles egal.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Kisses“ von Bent, „Alison“ von Slowdive und „Refugees“ von Van der Graaf Generator.

08 Januar 2006

Die Forellen

Bisher kennen wir das Steakhaus an der Reeperbahn nur von außen, heute, vorm Kino, wollen wir doch mal sehen, wie sich diese Toplage auf Innendeko und kulinarisches Konzept auswirkt. Um es kurz zu machen: nachteilig.

Die Tische sind kaum größer als die Teller, ich werde im Lauf des kurzen Aufenthaltes – das Essen kommt so schnell, wie die leeren Teller uns wenig später wieder entrissen werden – mit dem Ellbogen innig an der Wandtäfelung schaben. Und als mir Tölpel einmal die Gabel herunterfällt, stellt sich heraus, dass es praktisch unmöglich ist, unter den Tisch zu langen. Meine Bewegungsfreiheit erinnert ans Innere eines Computertomografen. Bei der Bergung der Gabel hole ich mir eine Rippenprellung.


Doch ich greife vor. Erst mal soll bestellt werden. Auf der Speisekarte fällt eine echte Weltsensation auf: „Lebend – frische Forelle vom Grill“. Offenbar springen die Teufelskerle einem vom Gitterrost auf den Teller und müssen, obgleich braungebacken, erst mal mit Messer und Gabel gebändigt werden. Die englische Erläuterung darunter – wir sind in einem multilingualen Touristenladen – bringt Klarheit: „freshly killed“ steht da in kaltherziger Lakonie.


Erwähnte ich schon unseren Platz direkt neben dem Aquarium? Zwar bin ich ein großer Freund von Fischen in jedweder zubereiteten Form, doch nach erstem Augenkontakt mit den treuherzig ahnungslosen Salmoniden ist es mir natürlich schlechterdings unmöglich, sie noch zu ordern.

Ich weiß, ich weiß: Ausschließlich solche Lebewesen zu verzehren, die in konspirativer Heimlichkeit von sabbernden Schlachtern und sardonisch grinsenden Köchen gemetzelt wurden, ist feige, inkonsequent und im Sinne Walter Benjamins geradezu unanständig. Aber diese vier hier neben mir … nein, das geht nicht. Man kennt sich inzwischen, wenn auch nur flüchtig, da grillt man sich nicht mehr.


Also läuft es bei Ms. Columbo und mir auf Steaks hinaus. Dann fällt mir die Gabel herunter, ich hole mir eine Rippenprellung, man entreißt uns die Teller, wir zahlen bar. Die Steakhausstoiker verkneifen sich routiniert jede geheuchelte Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen.

Klar: Sie halten uns für Touristen; die sieht man nur einmal im Leben.


Die Forellen schauen uns treuherzig nach. Sie ahnen nichts.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Burn baby“ von Mother Tongue, „Refugees“ von The Tears und „Someone“ von Thee Hypnotics.


07 Januar 2006

Der Rückzug (bitte!)

Kanzlerin Merkel findet die US-Gefangenenlager auf Guantanamo Bay neuerdings nicht gut, und das will sie Präsident Bush auch sagen, ins Gesicht.

Zur Erinnerung: Bush hat auf Kuba diese Lager eingerichtet, damit er gefahrlos gegen das Völkerrecht verstoßen kann, ohne von seiner eigenen Justiz dafür vor Gericht gezerrt zu werden.

Ein Trick, den Merkels Innenminister Schäuble ganz bezaubernd findet. Er setzt ja weiterhin auf Geständnisse, die in Guantanamo mithilfe „innovativer Verhörmethoden“ aus den rechtlosen Gefangenen herausgeholt werden, muss sich dafür aber die eigenen Hände nicht schmutzig machen. Klasse Deal.


Doch jetzt, nach Merkels Statement, ist Schäuble total blamiert. Er steht nicht nur da als Unmensch, dem das Menschen- und Völkerrecht pimpe ist, solange er’s nicht selbst verletzt, sondern er muss sich auch noch von seiner Chefin dafür indirekt abwatschen lasssen. Armes Schäuble.


Um sein Gesicht zu wahren, bleibt ihm doch nur noch die Niederlegung seines Amtes und der Rückzug nach Schmoll im Winkel (wo mir vor einiger Zeit dieses Foto gelang). Das wäre ganz bezaubernd.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Charly“ von Hannes Wader, „She lives by the castle“ von Felt und „By the dawn's early light“ von Thee Madkatt Courtship.


06 Januar 2006

Der Besuchsversuch

Nach ernstzunehmender Kritik an der ausufernden Länge meiner Blog-Beiträge wird nun gekürzt. Ich bin schließlich beeinflussbar und stolz darauf.

Also erwähne ich nur kurz die heute Abend explosionsartig auftretende dramatische Unterversorgung mit Single Malt Scotch Whisky (Laphroaig, zehnjährig), die ich erst feststelle, als die Dinnergäste schon auf dem Weg sein müssen.

Ein unerträglicher Zustand, da ich zum Dessert mit der goldbraunen Kreszenz von der Insel Islay glänzen will – und selbst schon spüre, wie sich die eine oder andere Geschmacksknospe erwartungsfroh der Verkostung entgegenreckt. Ich behebe den Mangel sofort und zielsicher in der Kastanienallee. Später stellt sich allerdings heraus, dass niemand Whiskey möchte. Selbst ich nicht.


Gestern Nacht müssen übrigens die beiden Fantasiepsychopathen German Psycho und Pat Bateman nach eigener Aussage wirr brabbelnd die Rückseite der Reeperbahn durchtorkelt haben, um dem Urheber dieses Blogs ihre Aufwartung zu machen. Ein schmeichelhaftes Ansinnen, in seinem Reiz vergleichbar mit jenem von Jack Nicholson in „Shining“
, als er seine Frau in der Abstellkammer (korrigiert mich, wenn's doch die Küche war) partout besuchen möchte – in Begleitung einer formidablen Axt.

Ich fühle mich selbstverständlich geehrt!


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „He was a friend of mine“ von Willie Nelson, „Everybody sounds like Coldplay now“ von Mitch Benn & The Distractions und „A song for Nicole“ von Minor Majority.


05 Januar 2006

Der Dude

Spontan gehe ich nach der Arbeit noch mit dem Franken auf ein Bier in die Kneipe. Unsere Wahl fällt nicht auf die Ente (Foto), obwohl sie nur eine Abzweigung entfernt liegt, sondern aufs noch nähere Aurel.

Dort läuft meist kühle Elektronik und aus dem Zapfhahn Große Freiheit, eine Biermarke, die man selbst in Hamburg kaum noch findet (wahrscheinlich nicht mal mehr in der Großen Freiheit).


Kaum haben wir uns gesetzt und nippen am Glas, betritt ein Faktotum den Raum. Der Franke nennt ihn sofort flüsternd „den Dude“, weil er unverkennbar an „The Big Lebowski“ erinnert.

Sein helles Haar ist kragenlang und struppig, sein dünner Bart gepflegt wie ein Vogelnest im Winter. Bekleidet ist er mit einem undefinierbaren Etwas von Mantel aus hellem Leder mit weißem Wollkragen – eine Entsetzlichkeit, die mich sofort auf eine angenehme innere Zeitreise in die Siebziger schickt. Nicht zu vergessen seine Sonnenbrille, die der Dude auch angesichts der trüben Aurel-Beleuchtung offenbar nicht abzusetzen bereit ist.


Vielleicht fehlt ihm dazu auch einfach die Kraft, denn er wirkt angeschlagen. Seine Bewegungen haben etwas von einer 200-jährigen Galapagos-Schildkröte. Mit Ach und Krach hievt er sich auf die Sitzbank am Bistrotisch neben uns.

Augenblicks schlage ich dem Franken eine Wette vor. „Ich wette mit dir“, flüstere ich, „er merkt mindestens zehn Minuten lang nicht, dass er zum Bestellen an die Theke gehen muss.“ So ist es nämlich üblich im Aurel. Der Franke ist einverstanden, die Uhr läuft.


Der Dude sitzt schwankend da. Er scheint die Rückseite seiner Sonnenbrillengläser anzustarren. Indizien dafür, dass irgendetwas jenseits davon seine Synapsen ins Flirren versetzt, gibt es nicht. Er sitzt einfach da und tut nichts.

Ich bin siegessicher. Der Franke versucht mich in eine die Wette relativierende Diskussion über die Motivation des Dude’schen Kneipenbesuches zu verwickeln. Vielleicht, führt er wenig fundiert aus, wolle der Dude sich ja nur aufwärmen. Ich wende überzeugend ein, dass schon der gesunde Menschenverstand die Annahme gebietet, das Betreten einer Kneipe sei weitgehend gleichzusetzen mit einem ausgeprägten Trinkwillen. Ja, bereits das Öffnen der Tür sei geradezu die Manifestation dessen und gleichsam schon eine Bestellung, ob nun Bier oder Brause, das sei ja mal egal.


Aber er sei der Dude, versucht er einen Konter, da müsse man auch aufs Außergewöhnliche gefasst sein. Papperlapapp, wende ich ultimativ ein, und sehe die Uhr ticken, zu meinen Gunsten.

Doch plötzlich, nach nur zwei Minuten, rutscht der Dude von der Sitzbank wie eine Düne Richtung Deich und kommt auf die Füße. Sein rechter Arm führt knirschend die Hand Richtung Gesicht, und irgendwie trifft sein irrlichternder Daumen den Steg der Sonnenbrille, um ihn etwas nach oben zu schieben.


Kein Zweifel, der Dude hat etwas vor. Geht er jetzt zur Theke? Hat er die Lage gerafft? Verliere ich die Wette? Nein: Er karriolt zur Tür. Er öffnet sie, er ist verschwunden.


Sofort entbrennt zwischen uns eine Diskussion über die Folgen für unsere Wette. Der Franke ist überzeugt, der Dude sei kotzen gegangen. Gut, ich gebe zu, sein Zustand hatte etwas unzweifelhaft Prävomitives. Die Frage ist nur: Läuft trotzdem die Wettzeit weiter ab? Was, wenn er zum Beispiel in sieben Minuten wieder seinen scheußlichen Mantel durch die Tür schiebt, den alten Platz erneut ein- und das vergebliche Warten auf die Aurel-Bedienung wieder aufnimmt – habe ich dann gewonnen? Oder hat die vermutliche Brechunterbrechung aufschiebende Wirkung auf unsere Wette?


Es geht hin und her zwischen uns. Doch der Dude kommt nicht mehr. Er ist weg. Obgleich es angesichts der Ereignisse argumentative Winkelzüge gäbe, gebe ich mich geschlagen. Der Franke holt zufrieden noch zwei Große Freiheit. Auf dem Heimweg beschließe ich, bald mal wieder „The Big Lebowski“ zu schauen. Guter Film.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Silence flows“ von Malory, „Mary Brown“ von Dave Alvin und „Sister golden hair“ von America.


04 Januar 2006

Der Googler aus dem Morgenland

Zunächst einmal: Ich bin noch auf freiem Fuß, trotz des Eintrags von gestern. Yeah.

Mein Lieblingsblogeintrag 2005 war Poodles hochkomische Erörterung über den Einfluss der TV-Serie „Die Waltons“ auf eine Kindheit im Schwäbischen. Dieser fulminante Crash von Ideal und Wirklichkeit und seine im doppelten Wortsinn dialektische Umsetzung verdienen höchsten Respekt. Ein Lob der Blogosphäre, die solche virtuosen Texte hervorbringt! Also bitte Poodle lesen. Ganz generell.


Neulich um 7:20 MEZ googelte jemand aus dem saudi-arabischen Riad nach „Reeperbahn“ und landete unversehens in der heimeligen, aber auch anrüchigen Welt meines Blogs. Die Bedürfnisse sind offenbar überall auf der Welt ähnlich, unter welchem Regime auch immer.


Übrigens zeigt Google im arabischen Raum die Ergebnisse natürlich rechtsbündig an … Und es liefert für „Reeperbahn“ knapp 1,6 Millionen Treffer, während die deutsche Version nur auf eine gute Million kommt. Das verstehe einer. Doch bei beiden Googles rangiert dieser kleine kuschelige Blog hier glorios unter den ersten 20 – was ich noch viel weniger verstehe.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „On some faraway beach“ von Brian Eno, „It takes a lot to laugh, it takes a train to cry“ von Jerry Garcia und „Devil's right hand“ von Steve Earle.


03 Januar 2006

Der Fall HEIDI KLUM

Na, da hat Blogger-Kollege Patrick Breitenbach aber einen Bock geschossen! So geht's ja auch wirklich nicht, Patrick. Nachdem er in einer Blog-Überschrift gedankenlos den Namen des Models HEIDI KLUM erwähnt hatte, wurde er per Mail aufgefordert, dies zu unterlassen, und zwar von HEIDI KLUMs Vater Günther Klum.

Und das ist auch völlig okay so. Das macht man einfach nicht, mal eben HEIDI KLUM in einem Blog-Titel unterzubringen. Schließlich wird dadurch eine Website mit eigener Adresse erzeugt, also eine URL, die den Namen HEIDI KLUM enthält. Und dadurch könnten glatt arglose Googler, die völlig berechtigt nach HEIDI KLUM suchen, auf der falschen Seite landen – nämlich der, die nur dank eines Blog-Eintrags den Namen HEIDI KLUM im Titel trägt. Und das würde natürlich zum sofortigen Verlust des Marktwertes der echten HEIDI KLUM führen.


Dabei hat HEIDI KLUM circa zwei Kinder und muss sehen, wie sie die Racker durchbringt. Klar, dass Günther, der Vater von HEIDI KLUM, gegen so etwas entschiedenst vorgehen muss. Ich möchte ihm diesbezüglich hier und jetzt meine volle Solidarität zusichern. Da könnte ja jeder Blogger kommen und einfach mal HEIDI KLUM erwähnen, und schon verdiente er sich eine weiße, äh goldene Nase mit seinem Eintrag, und HEIDI KLUM fehlt plötzlich das Geld für die Rürup-Rente.


Näh. Der Günther liegt voll auf Kurs mit seiner Unterlassungsaufforderung. Wehret den Anfängen, nämlich dem Erwähnen von HEIDI KLUM in Blog-Titeln. Sonst kommt es noch so weit, dass HEIDI KLUM auch noch im Blog-Beitrag selbst vorkommt! Plötzlich hat dann noch irgendwer die Idee und schreibt gar nichts Richtiges mehr in seinen Blog, sondern verstreut einfach mal hier, mal da ein HEIDI KLUM! HEIDI KLUM!! HEIDI KLUM!!! Dagegen muss man sich doch wehren können als Topmodelpapa. Ganz klar.


Das Foto zeigt übrigens nicht die Füße von HEIDI KLUM, sondern die von jemand ganz anderem, der nicht mal Topmodel ist. HEIDI KLUMs Füße dürfte ich hier nämlich gar nicht abbilden, sonst bekäme auch ich Post von Günther, dem Vater von HEIDI KLUM. Und dabei bin ich doch sein Freund. Näh.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Glósóli“ von Sigur Rós, „My secret“ von Anna Ternheim und „“ von „We all lose one another“ von Jason Collett.


02 Januar 2006

Die 16-Jährigen

Ach, Busse sind doch ein steter Quell der Freude! Gegenüber ÖPNV-Fans wie mir leben einsame Autofahrer doch geradezu in einer sozialen Wüste. Was passiert denn schon in so einer Individualblechkiste? Gasgeben, bremsen, wütend hupen; laut und ungehört die anderen verfluchen. Mehr nicht. Arme Monaden am Steuer.

Wie prall und lehrreich hingegen das Leben im Bus! Man ist sich nah, auf den Sitzen tummeln sich prototypische Vertreter praktisch aller sozialen Schichten; der Bus als solcher blickt gleichmütig milde auf Alter, Rang und Namen herab. Er lässt jeden herein, solange der einen Beförderungsberechtigungsschein mit sich führt oder in allernächster Kürze zu erwerben bereit ist.


Heute Abend steigen in Altona zwei wahrscheinlich türkische Teenage-Queenies zu. Sie sind auf genau jene Weise aufgetakelt, wie man es sich nur in einem sehr engen Zeitfenster zwischen 16 und 16 1/4 leisten kann: mit Ohrringen groß wie Frisbeescheiben, mit Leopardenjäckchen, breitesten Nietengürteln auf den noch knochigen Hüften und mit Hosen von einer Enge, die eine Durchblutung südlicher Regionen zuverlässig verhindern muss.


Die Mädchen setzen sich nach hinten, schräg neben mich, doch der Fahrer zitiert sie noch vor der Abfahrt wegen eines Ticketproblems nach vorne.

Das nervt die Grazien natürlich. Sie stehen auf, und die eine zischt „Wichser!“ – aber nicht so laut, dass es beide Silben durch den ganzen Bus bis zum Fahrersitz schaffen. Dann schweben sie energisch nach vorne, klären die Lage, kommen zurück, setzen sich wieder gemeinsam auf ihren Teenage-Queenie-Sitz – und holen wie auf Kommando wortlos und unisono Ohrhörer hervor, um sich hinfort in stummer Isolation ganz und gar ihren Ganglien zu widmen.


Das verwirrt mich enorm. Haben Teenies nicht seit jeher die verdammte Pflicht zu kichern und zu giggeln, sich anzustupsen, mit den Augen zu rollen, halblaut aufzukreischen und sich meinethalben Handy-Textmeldungen vorzuflüstern, um wieder Gründe zum Kichern, Giggeln, Augenrollen und Halblautaufkreischen zu haben? Jeder von uns hat doch seinen Job zu tun hienieden. Und in der Welt, die ich kenne, gehört all das zur Stellenbeschreibung von Teenies dazu.


Doch diese beiden setzen sich nebeneinander und drehen sämtliche Sinne nach innen. In weiter Ferne, so nah. Und bis ich an der Davidstraße aussteige (nicht weit von diesem neuen, teeniepinken Waschsalon), bleibt das einzige Wort, das zwischen ihnen gefallen ist, dieses hier: „Wichser!“


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Cocaine blues“ von Joaquin Phoenix sowie „I can't stop“ und „Here I am (come and take me)“ von Al Green.


01 Januar 2006

Der Morgen danach

Als ich gegen halb zwölf zum Brötchenholen gehe, ist für erstaunlich viele die Silvesterparty noch voll im Gange. Am Hamburger Berg sind die Kneipen überfüllt, Menschen quellen heraus auf den Gehweg, bestens versorgt mit Getränken, innen wie außen.

Die Kaschemmen erbrechen dumpfe Beats. Aus dem Roschinskys torkelt mir ein Paar vor die Füße; die grell geschminkte rothaarige Frau ist schwer angeschlagen, sie atmet prustend aus mit knatternden Lippen, als müsste sie sich in der nächsten Sekunde übergeben.

Ich halte Sicherheitsabstand. Eine andere junge Frau läuft auf die Straße und lässt die Arme flattern wie ein Vogel; sie trägt eine ärmellose Bluse, die ihren Rücken fast gänzlich unbedeckt lässt, und quiekt: „Mir ist kalt!“ Ein Junge trottet ergeben hinter ihr her.


Über die Bürgersteige röhren schon unerbittlich die Reinigungsfahrzeuge, Passanten gehen unwillig beiseite. Überall liegen die Reste des Feuerwerks. Ihre Besitzer haben jegliches Interesse an ihnen verloren. Wenn man sie gestern Nacht aufgefordert hätte, die ausgebrannten Kartuschen, leeren Flaschen, die Scherben und zurückgebliebenen Raketenstöckchen wegzuräumen, sie hätten dich wahrscheinlich angeglotzt wie ein Alien. Wozu gibt es die Stadtreinigung?


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rapture“ von Antony & The Johnsons, „Maybe I wish“ von Embrace und „Milk and honey“ von Jackson C. Frank.


31 Dezember 2005

Die Weinspende

Wir haben noch vier Flaschen 1999er Syrbec übrig. Der Rotwein, obzwar beileibe keine Plörre, gehört nicht zu unseren Favoriten. Zu säurebetont, ein wenig zu streng. Eine Flasche aus dem Sechserkarton haben wir getrunken und dabei die Mängel lokalisiert. Eine zweite bekam kürzlicher Besuch in die Hand gedrückt („Vielleicht schmeckt er euch ja!“). Die restlichen vier sollen heute verschenkt werden. Und zwar an Reeperbahnbettler.

Vor der Sparkasse sehe ich zwei erste Kandidaten. Der eine hilft dem anderen gerade beim Aufstehen, was nur mühsam vonstatten gehen will. Der Gehweg ist verschneit und glatt, und sie sind nicht gerade die Drahtigsten. Beide ächzen. Und die ganze Zeit wird traulich geplaudert. Ich wage nicht zu stören und hebe mir das Paar für den Rückweg auf. Falls dann noch Flaschen übrig sind. Wenn nicht: Pech für sie.


Nächste Station: Hamburger Berg. Sonst ist diese kleine Schmuddelecke am Kasino eine sichere Bettlerbank, heute aber silvesterlich verwaist. Also steige ich hinab in die S-Bahn-Station, wo die Erfolgsquote normalerweise hoch ist, wie bereits im Oktober einmal thematisiert. Doch auch hier niemand, der in Frage käme. Vor der Discothek La Rocca: keine Bettler. Aber der Eingangsbereich zum Fotografieren schön.


Bei manchem Passanten gibt es immerhin eine gewisse Schnittmenge zu Insignien des Bettlertums. Zum Beispiel diese leicht verlottert wirkenden jungen Bartstoppelträger mit ihren halbvollen Bierflaschen, die sie ungerührt mit bloßen Händen durch die Minusgrade tragen. Aber sie scheinen sich nur einzugrooven für den großen Knall heute Nacht. Unten an den Landungsbrücken werden sie sich wahrscheinlich die Kante geben. Vielleicht bringt sie das letztlich der Obdachlosigkeit näher, als sie jetzt einzusehen bereit wären, doch noch ist es nicht soweit. Nein, sie sind keine Weinkandidaten. Sie haben ja ihr Bier.


Aber dieser offenbar nicht unter Termindruck stehende Mann jenseits der besten Jahre an der Fußgängerampel Talstraße, dessen ebenfalls halbvolle Pilsbuddel neben ihm im Schnee steht? Hm. Soll ich ihn wirklich ansprechen, ihm Wein for free offerieren, ohne mir seines Obdachlosentums sicher sein zu können? Zu Recht könnte er meine Avance als beleidigend empfinden; und möglicherweise würde er dieser Verletzung seiner Gefühle sehr nachhaltig entgegentreten wollen.


Das möchte ich nicht. Also trage ich meinen Wein weiter, gehe die Reeperbahn in östlicher Richtung zurück. Doch keine Bettler, nirgends. Selbst die zwei Ächzer vor der Haspa sind inzwischen verschwunden. Auch vorm Steakhaus: nur Passanten, aber nicht die erhofften Punks mit ihren Hunden. Wahrscheinlich zieht es sie zwischen den Jahren doch wieder heim zu Mutti, um der alten Zeiten willen.


Ich erreiche das Ende der Reeperbahn, den Millerntorplatz. Letzte Chance U-Bahn-Eingang. Et voilà: Da ist er, mein Weinabnehmer. Es handelt sich um einen jener Hoffnungslosen, die alle Sprüche schon weggesagt haben. Jetzt steht er stumm und illusionslos da und wackelt müde mit seinem Plastikbecher. Kleingeld rasselt darin; das muss reichen als Verdeutlichung seines Anliegens.


Ein Bekannter von mir gibt übrigens niemals etwas bedingungslos. Er spendet stets zweckgebunden und möchte vom Bettler die verbale Zusicherung, mithilfe dieses Obolus’ ein warmes Essen zu erwerben und nicht Alkoholika oder Schlimmeres. Dieses moralische Almosengeben ist mir zuwider. Wenn ich schon etwas rausrücke, dann soll der Empfänger es auch nach Gutdünken verwenden. Warum sollte er sich damit sein Elend nicht sporadisch schöntrinken oder -fixen dürfen? Ein erhobener Zeigefinger ändert die Welt nicht.


Aber zwei Fläschchen Wein –
vier scheinen mir zu viele für einen – können sie ändern, wenigstens für eine Weile. Der Mann mit dem rasselnden Kleingeld im Becher ist noch jung, vielleicht Ende 30. Doch seine Haare sind fahl und verstruppt, über lückenhaften Zahnreihen und einer leichten Hasenscharte wuchert ein verwahrloster Seehundschnauzer. Und an seinen Fingerknöcheln wachsen dicke milchige Blasen oder Geschwüre.

Er rasselt mich stumm an. „Darf ich Ihnen zwei Flaschen Wein schenken?“, frage ich und öffne die Tüte. Er schaut hinein und sagt zögernd: „ … Ja?“ Bitte schön, sage ich und reiche sie ihm. Danke, sagt er. „Haben Sie einen Korkenzieher?“, frage ich. Für alle Fälle führe ich einen als verschenkbares Zubehör mit. Aber er ist versorgt, und ich verabschiede mich.


Eine prosaische Begegnung. Aber letztlich erfolgreich im Sinne der Anklage.

Bleiben noch zwei Flaschen. Vielleicht werde ich sie morgen los – wenn sie wieder zurückkommen, die Reeperbahnbettler. Es hört sich zynisch an, aber: Ich würde sie vermissen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Bird gherl“ von Antony & The Johnsons, „In the ghetto“ von Candi Staton und „Tonight“ von Iggy Pop.


30 Dezember 2005

Das Album des Jahres

Jetzt endlich zu meinem Album des Jahres. (Ende Dezember darf man ja darüber reden.)

Es kommt von Antony & The Johnsons und heißt „I am a Bird now“. Man könnte über diese Platte auch sagen: Alle Songs haben etwas Schweres und nehmen dir doch eine Last von den Schultern.

Antony ist ein trauriger, schwuler Moppel aus New York, ein androgyner Punk, und sein Vibrato flattert wie Lametta, in dem sich der Wintermond spiegelt. Wer diese Stimme hört, der weiß sofort, dass alles hoffnungslos ist, und findet zugleich Trost in ihrer gebrochenen Schönheit.

„I am a Bird now" ist voller neoromantischer Balladen zu Piano und Kammerstreichern, und es sind lauter Wunder, selbst in jenen grande finales, wenn sich alles in epische Zerrissenheit hineinsteigert. Diese fassungslosen Lieder verzehren sich nach Gemeinschaft, und Antonys wamer, nasaler Tenor vibriert vor heiligem Ernst und Verletzlichkeit. Seine Stimme ahnt das jenseitige Nichts und flieht davor in bitterschönste Melancholie. Das ganze Werk: ein einziges Flehen.

Es wird schwer sein, ein Album wie „I am a Bird now“ nächstes Jahr zu toppen. Nur einer könnte das schaffen: Antony, mit seiner nächsten Platte.


Übrigens verströmt das heutige Foto, aufgenommen an der Elbchaussee weit draußen im Westen, eine ähnliche Atmosphäre: aufmunternde Melancholie. Und dazu passt auch die …


… große Musik, die heute durch den iPod floss: „Just like the rain“ von Richard Hawley, „Twenty three“ und „The postcard“ von Stephen Duffy.


29 Dezember 2005

Die weiße Nacht

Der Kiez, ein Wintertraum. Dreck, Elend, Glamour und Blendwerk: alles eingeebnet, gleichgemacht vom großen Weiß des Winters. Man geht wie verzaubert durch Tage wie diese, wenn der Schnee wirklich liegen bleibt, wenn er sich nicht gleich verwandelt in jenen braunen Matsch, der Städte, die kaum höher liegen als das Meer, allwinterlich heimsucht.

In der Seilerstraße herrscht eine Ruhe wie lange nicht mehr. Der Schnee würde alle Geräusche dämpfen, doch es gibt keine. Der Verkehr ruht, und wer zu Fuß vorüberhastet, der zieht sich in sich selbst zurück, der duckt sich tief in seinen Mantel und sucht den schnellsten Weg nach Hause. Oder in die nächste Kneipe.


Gelassen dämmern die Autos im Parkverbot durch die Seilerstraßennacht. Wer jetzt keinen Anwohnerparkschein hat, der braucht auch keinen mehr. Denn keine Politesse wird sich herbemühen, um den dicken Schnee von den Scheiben zu wischen und die Finsternis dahinter nach dem richtigen Wisch abzusuchen.


Nächte wie diese sind heller als unter Vollmond. Denn die unermüdlichen urbanen Lichter spiegeln und verdoppeln sich in jeder Flocke und lullen alles ein in sattes milchiges Weiß – sogar den Himmel über der Stadt.


Der Kiez, ein Wintertraum. Wer jetzt allein ist, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Straßen hin und her mit geradem Blicke wandern, wenn die Flocken treiben – denn man sieht sie ja eh nicht mehr unter all dem Schnee, die Hundekacke.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „For all we know“ von Parov Stelar, „I'd rather go blind“ von Rod Stewart und „Last dance“ von Dirty Three.


28 Dezember 2005

Der Zwangskauf

Ms. Columbo moniert eine entscheidende Lücke im gestrigen Beitrag: „Eva Sibylle Haule-Frimpong – wie konntest du die vergessen?“ Ja, kaum zu fassen.

Heute bei Spar entdeckte ich lecker aussehende israelische Cherry-Tomaten, und ich entschied mich ausnahmsweise gegen die gemeinhin bevorzugten aus dem Hamburger Speckgürtel. Immerhin hat Sharon den Gaza-Streifen geräumt; das muss ja auch mal honoriert werden.

Nur wenige Meter weiter sehe ich plötzlich etwas für die Jahreszeit schier Surrealistisches: frische Erdbeeren. Noch während ich mich innerlich angewidert über die Perversionen der Globalisierung, die Dekadenz unserer Rundumversorgungsmentalität und das grundsätzlich Falsche am Import nichtsaisonaler Früchte echauffiere, fällt mir das auf der Packung ausgewiesene Herkunftsland ins Auge: Palästina.


Genau: Palästina. Und die Tomaten aus Israel. Jetzt sach du was.

Kurz: Ich konnte nicht anders, ich musste ein Päckchen kaufen. Schon aus Fairness.

Auf dem Heiliggeistfeld gibt es zurzeit in einem noch mal derbe runtergekühlten Zelt eine Ausstellung mit Eisskulpturen. Leider stellt deren Kitschgehalt (Meerjungfrauen, Nager auf Rutschbahnen, Architektur wie vom bayerischen Gagakönig Ludwig ausgedacht) das handwerkliche Geschick der Skulpteure weit in den Schatten. Aber manches ist recht ansehnlich illuminiert.

Abends erfuhr ich übrigens hier, dass pro Kilo palästinensischer Erdbeeren ein Liter Kerosin verbraucht wird. Für mein Pfund also ein halber Liter. Aber dafür fliege ich nie, was wiederum Kerosin spart, tonnenweise. Zudem haben auch israelische Tomaten einiges auf dem Kerosinkerbholz. Und man kann – verdammt noch mal – eh kein richtiges Leben im falschen leben. Oder doch …?

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Losing my religion“ von MakroSoft, „Handsome Molly“ von Bill Morrissey und „Crime“ von Stina Nordenstam.

27 Dezember 2005

Die Unjubelbaren

Die Kampagne „Du bist Deutschland“ behauptet ja u. a. „Du bist Claudia Pechstein“ – und außerdem noch, dass man nicht nur den von Claudia Pechstein, sondern „jeden Namen jubeln“ könne.

Beides aber ist falsch.


Versucht bitte mal, „Sabine Leutheusser-Schnarrenberger“ zu jubeln. Geht nicht. Und selbst wenn: Man hat selten so viel Zeit. Auch „Birgit Schnieber-Jastram“ funktioniert nicht, ebensowenig wie „Dr. Christiane Nüsslein-Volhard“, „Gunda Niemann-Stirnemann“, „Dorkas Schlotterbeck-Eberspächer“, „Elfriede Heiland-Sackschewski“ oder „Hildegard Krüpfganz-Kräck“.

Und was ist eigentlich mit „Kerstin Schlapper-Rammelmann“, „Oda-Gebiene Hölze-Stäblein“, „Ottokar Büchsenschütz-Nothdurft“ und „Martina Rindfleisch-Junghähnel“ – sind diese Krüppelkiefern von Namen etwa jubelbar, „Du bist Deutschland“-Kampagne? Nur unter Inkaufnahme eines Zungensplitterbruchs.

Die Kampagne lügt also. Und sie hat jede Verballhornung verdient.

Ach, ja: Der Astra-Turm (Fotos: nachher/vorher) in der Hopfenstraße war auch mal Deutschland. Jetzt trägt ihn ein Kran gemütlich ab, von oben nach unten. Prost.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Homebase (live)“ von Dzihan & Kamien, „Indi“ von Egberto Gismonti und „Xiong“ von Dao.


26 Dezember 2005

Die Fundstücke des Tages (2)

1. Ich weiß nicht, ob ich mir und meinem Blog dafür eine Kerbe in den Colt ritzen darf, aber die berüchtigte Bruchbude mit dem hochgestochenen Namen Hotel Hohenzollern gibt es nicht mehr. Dort, in der Clemens-Schulz-Straße, klafft neuerdings statt des Schandflecks eine geröllhaltige Baulücke, wodurch die Adresse deutlich gewonnen hat. Ach, ich ritze mir und meinem Blog einfach eine Kerbe in den Colt.

2. Im Penny-Markt heißt das Klopapier allen Ernstes „Happy End“.


3. Zwei Kalauerideen während des Fitnesstrainings: Das Leben von Altkanzler Schröder könnte man verfilmen unter dem Titel „Der Mann, den sie Gerd nannten“. Und der US-Rasenmäherverband möge sich doch bitte folgenden Namen geben: „Brothers in Lawn“ …


4. Heute erprobte ich mich in der charmant bescheuerten neuen Disziplin kinetische Fotografie. Statt jedoch die Kamera hochzuwerfen, sie irgendetwas knipsen zu lassen und optional wieder aufzufangen, schüttelte ich sie wild, während ich einen Weihnachtsbaum in der Mönckebergstraße passierte. Ergebnis: schon sehr kinetisch.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Te amo corazon“ von Prince, „The reputation of Ross Francis“ von My Latest Novel und „The days of Pearly Spencer“ von David McWilliams.

25 Dezember 2005

Der Elbstrand

Gestern in der Drogerie bekam ich auf einen 50-Euroschein exakt 47,11 raus. Ich fand das lustig und schmunzelte der Kassiererin ermunternd zu, erntete aber keine Reaktion.

Zu Hause erzählte ich humorheischend von diesem kleinen feinen Zufall, aber auch da: kein Lächeln über die 4711. „Ja, wenn du Parfüm gekauft hättest“, erläuterte Ms. Columbo, „dann wäre das lustig gewesen.“ Muss ich mit leben.


Heute nachmittag setzten wir uns in den Bus und zockelten die Elbchaussee entlang, raus nach Westen, ins feine Blankenese. Kleine mediterrane Häuschen und prachtvolle weiße Villen schmiegen sich im Treppenviertel an den höchsten Hang Hamburgs, und ihre Fenster werfen sehnsuchtsvolle Blicke auf den Fluss und in die Ferne.

Am Strand geben sich Elbe, Himmel und Wolken winterlich stimmungsvoll. Und wie man sieht, halten sich alle Hanseaten an das, was Schilder ihnen auferlegen – sogar die Blankeneser Möwen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Mother's little helper“ von Liz Phair, „Cowboy romance“ von Natalie Merchant und „On the nighttrain“ von Gerold Kukulenz.


24 Dezember 2005

Die Beatles-Tour

Heiligabend in Hamburg, das Wetter ist sonnigschön, wenngleich ein unchristlicher Wind an Jacke und Laune zerrt. Bewaffnet mit Ulf Krügers „Beatles Guide Hamburg“ gehen wir auf eine kleine pophistorische Sightseeing-Tour durch unser Viertel.
 
In der Wohlwillstraße gibt es die Jägerpassage, und dort, im Hauseingang Nr. 1, hatte der Hamburger Fotograf Jürgen Vollmer 1961 John Lennon abgelichtet. 14 Jahre später kramte Lennon das Foto wieder aus der Schublade und verewigte es als Cover seines Albums „Rock’n’Roll“.
 
Ms. Columbo und ich gönnen uns den Spaß, uns in diesem Hauseingang gegenseitig lennonesk zu fotografieren. (Ich habe später meinen gegen Lennons Kopf ausgetauscht – Dr. Freud, übernehmen Sie!)
 
Als ich versonnen in historischer Pose am Klinkerrahmen lehne, steckt plötzlich ein Mann seinen Kopf aus dem Fenster im ersten Stock. „Hier wohnen Leute“, motzt er, „das Dauerklingeln nervt!“ Stimmt, mein Arm hatte versehentlich multiplen Klingelknopfkontakt. Ich entschuldige mich, bin aber zugleich etwas enttäuscht von seinem wenig weihnachtlichen Ton. Aber wahrscheinlich haben die Jägerpassagiere im Lauf der Jahrzehnte bereits jeden Beatles-Fan der Welt durch die Rabatten stolpern sehen; ich sollte nachsichtig sein.
 
Danach laufen wir die anderen berühmten Stellen ab. Zum Beispiel die Paul-Roosen-Straße 33, wo einst das Bambi-Kino war. Dort im Flur zündeten Paul McCartney und Pete Best 1960 ein Kondom an. Wegen Brandstiftung buchtete man sie in der Davidwache ein und verwies sie anschließend des Landes. Gut, dass die Liverpooler noch mal wiederkamen, sonst sähe die Popgeschichte heute anders aus.

Ich hätte jedenfalls wohl keinen Anlass gehabt, im Jahr 2005 die Weihnachtsruhe eines Anwohners zu stören. Aber müsste sich der Mann nach einem Moment innerer Einkehr nicht sagen: Besser von diesem Dauerklingler genervt werden, als dass es „St. Pepper’s lonely Hearts Club Band“ nicht gäbe? Und genau das hätte ich ihm nach einem einleitenden „Let it be!“ heroisch entgegenhalten sollen, statt mich kleinmütig zu entschuldigen. Die besten Repliken fallen einem immer erst hinterher ein.

Vielleicht sollte ich noch mal hingehen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Homebase (live)“ von Dzihan & Kamien, „Indi“ von Egberto Gismonti und „Xiong“ von Dao.



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23 Dezember 2005

Das Grauen, das Grauen!

Wir waren eingeladen zu Marks allvorweihnachtlichem Greuljulklapp, konnten aber nicht. Die Idee dieser Veranstaltung ist ultrabrutal: Jeder bringt etwas mit, das er unter keinen Umständen mehr besitzen möchte, und alle Mitbringsel wandern dann mithilfe eines perfiden Distributionsverfahrens reihum in neue angewiderte Hände. Es kann also sein, dass man feixend mit Plüschhandschellen antanzt und später mit einer trüben Lavalampe und säuerlichem Lächeln davonschlurft. Hmpf.

Mark hat den Verlauf der diesjährigen Veranstaltung protokolliert. Wir wissen jetzt, was wir verpasst haben. Zum Beispiel einen Petersilienhacker, ein Muscheldöschen, Selbstgetöpfertes zur Teeerwärmung, ein Seifenblasenset, ein Mikro-Fimo-Schweinchen, das Parfum „Tet a Tet" (vulgo: russischer Nuttendiesel) und ein silbern eingefasstes Märchenschlossfoto in Metallic.

Tja, was wäre ggflls. von uns gekommen? Vielleicht die hölzerne thailändische Glücksgöttin, die seit Jahren statt einer Leuchte an der Wohnzimmerdecke hängt und uns alltäglich dazu zwingt, im Dunkeln fluchend nach dem Trittschalter der Stehlampe zu suchen? Nein, sie ist zu alt und war zu teuer.

Oder die treuherzige Memoente, die tagein, tagaus als stummer oranger Butler Rechnungen, Kinokarten oder Paketquittungen im Schnabel hält und uns diese monotone Tätigkeit unablässig mit stummer Verbitterung vorhält? Nein, sie ist zu nützlich.


Im Grunde braucht man nur ein einziges bestürzend grauenhaftes Objekt, um ein für alle Mal am Höllenkreis des Greuljulklapp teilnehmen zu können. Denn was man dieses Jahr bekommt, kann man ja nächstes Jahr wieder in die Runde werfen.

„Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“ Sagt Camus.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Miss Sarajewo“ von George Michael, „The moon is down“ von Explosions In The Sky und „Nightlife at 3:33“ von Buscemi.

22 Dezember 2005

Die Gesetzesinitiative

Eins der letzten Konzerte in der Weltbühne. Das Gebäude an der Holstenstraße wird nächstes Jahr abgerissen, alles riecht nach Abschied. Die halblegendäre Hamburger Band Huah! reuniert sich speziell zum Tschüs-Sagen. Einst hatte sie eine subtile Analyse unseres Gesellschaftssystem zur hartleibigen Aussage „Scheiß Kapitalismus“ verdichtet, und heute legt sie sie noch einmal die ganze Strecke von den 50ern bis zum Punk zurück.

Das Publikum schwankt zwischen Melancholie und Euphorie, auch jener Teil, der wenig sehen kann. Ich plädiere übrigens für ein Gesetz, dass Menschen, die größer sind als andere, dazu zwingt, sich bei Konzerten hinter jedwedem Kleineren aufzuhalten. Die Durchführung wäre recht simpel: Jeder schaut sich prüfend um, und sobald er jemanden entdeckt, den er überragt, begibt er sich ohne viel Federlesens hinter dessen Rücken. Zweifelsfälle könnten leicht mit mitgeführten Zollstöcken geklärt werden. Schon ergäbe sich in jedem beliebigen Konzertsaal eine treppenstufenartige Staffelung des Publikums, die vertikal Benachteiligte – evolutionstechnisch also vor allem Frauen – automatisch in Bühnennähe platzierte. Alle wären glücklich.

Doch dieses Gesetz existiert noch nicht, und der Typ vor mir – schätzungsweise 195 Zentimeter hoch und damit rund 15 höher als ich – sieht auch keinerlei Notwendigkeit, sein Verhalten freiwilig an Kants kategorischem Imperativ zu orientieren („Stell dich immer so hin, dass du zugleich wollen kannst, dass alle sich so hinstellen"). Nicht genug damit, er muss auch noch ständig seinem Kumpel irgendwelche Wichtigkeiten zubrüllen, so dass der Blick auf die Bühne gänzlich verstellt ist durch zwei blöde Hinterköpfe.


Mehrere Becks müssen Trost spenden.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Vera C“ von Hector Zazou, „Beloved, where would I go?“ von Kronos Quartet & Asha Bosle und „Wayfaring stranger“ von Andreas Scholl.


21 Dezember 2005

Der Fußball

Ah, er tobt, der Kiez, Freude schäumt durch die Straßen! Hertha ist geschlagen im Pokal, in dramatischer Manier nach 0:2-Rückstand, mit Verlängerung, Schlammbädern auf dem Fußballacker und finalem Astra unter der Dusche. Und der nächste Gegner heißt Werder Bremen, da wird man ausscheiden, aber mit Glanz und Gloria und vielleicht ja doch nicht. Kann das Leben schöner sein?

Doch hier kommt Waldi. Der entweder sardonische oder bloß sedierte ARD-Hartmann erzählt dem bis zum Beginn des Interviews noch quietschglücklichen St.-Pauli-Trainer Andi Bergmann, das nächste Pokalspiel seiner Kiezkicker fände im Bremer Weserstadion statt. Bergmann ist baff, er wirkt schlagartig wie eine ausgeblasene Kerze. Denn er dachte, Amateure hätten gegen Profis immer Heimrecht – und so ist es ja auch. Das weiß jeder, vielleicht sogar Thomas Hässler.

Nur Waldi nicht. Und als er dann noch Oliver Bierhoff dafür lobt, seine Sache bei der Auslosung der nächsten Runde „als Debütant ganz fantastisch“ gemacht zu haben, und Bierhoff ihn irritiert lächelnd darauf hinweist, schon einmal in dieser Sache tätig gewesen zu sein, da ist Waldis Tag endgültig von einer Konsistenz, die an Schonmalgegessenes erinnert.

Werden wir ihn bei der WM wiedersehen?

Apropos Fußball: Heute erkundigten sich diverse „Freunde“ mit hämischer Pseudobesorgtheit bei mir, was denn nun aus meinem Premiere-Abo würde, wo der Pay-TV-Sender doch jetzt die Bundesligarechte verloren habe. Nun, was schon? Ich werde mir „aus dem Decoder ein Vogelhäuschen basteln“ (Harald Schmidt).

Warum hat sich die Fifa beim WM-Ball-Design eigentlich von Slipeinlagen inspirieren lassen? Das ist eine viel wichtigere Frage als die nach meinem Premiere-Abo. Verstanden?

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Marseille“ von Roy Budd, „Love theme“ von Seductive Souls und „Some velvet morning“ von Nancy Sinatra & Lee Hazlewood.