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30 September 2010
Der herrenlose Koffer
Die S1 fährt proppenvoll in die Station Reeperbahn ein, wir kriegen keinen Sitzplatz mehr. Beim Anfahren rollt mir plötzlich ein Koffer ans Bein. Ich schiebe ihn zurück.
Beim nächsten Abbremsen der Bahn zockelt er willenlos Richtung Lokführerkabine, ohne dass jemand Notiz von seinen Kapriolen nimmt. Vorwurfsvoll schaue ich seine vermeintliche Besitzerin an, eine Frau südländischer Herkunft, die am dichtesten dran saß am Koffer. „Ist das nicht Ihrer?“, frage ich sie. „Nein“, antwortet sie.
Ich blicke mich um: Nicht nur sie, überhaupt niemand in der Nähe fühlt sich verantwortlich für den irrlichternden grauen Trumm, der mit breiten umlaufenden Spannbändern gesichert ist und sich lustig in die Kurven legt.
Mir wird ein wenig mulmig. Ein damen- und herrenloser Koffer in der S-Bahn, die gerade die Station Sodom und Gomorrha hinter sich gelassen hat: Wonach klingt das noch mal …?
„Lass uns ans andere Ende des Wagens gehen“, raune ich Ms. Columbo zu. Das würde zwar ziemlich wenig nützen, wenn sich 50 Kilo Trinitrotoluol dazu aufrafften, ihrem Dasein einen finalen Sinn zu geben, aber egal: Abstand schafft wenigstens die Illusion von Sicherheit.
„So, jetzt kann er hochgehen“, sage ich nach dem Standortwechsel mit schiefem Grinsen zu Ms. Columbo. „Deine Fingerabdrücke sind drauf“, stellt sie fest. „Aber zurückzugehen, um sie abzuwischen“, ergänzt sie, „das wäre auch doof.“ Zweifellos.
Wir steigen Jungfernstieg aus, wo ich ein paar nächtliche Alsterfotos schieße, und da bis jetzt noch immer nichts die Hamburger S-Bahn Betreffendes über den Ticker lief, gehe ich einfach mal davon aus, dass meinen Fingerabdrücken ein geruhsames Restleben auf einem wildfremden Koffergriff bevorsteht – bis irgendwann ein Putztuch ihre fragile Existenz auf die denkbar natürlichste Weise beendet.
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Allerdings war tatsächlich was in den Nachrichten.
AntwortenLöschenUdn das ist der Grund warum Terroristen überhaupt keinen Sprengstoff mehr brauchen. Nur einen Haufen leere Koffer und ein paar Leute, die sich um die anonymen Anrufe kümmern, schon schon kann man einmal pro Woche einen Flughafen, einen Bahnhof, etc. lamlegen, ohne irgendeine Gefahr eingehen zu müssen. Das nenne ich mal "sauberen" Terrorismus.
AntwortenLöschen@ Anonym 01:02
AntwortenLöschen"Sauberer Terrorismus": Das wäre eine ganz neue Dimension. Zum Beispiel auch sehr umweltverträglich. Allerdings kommt es mir immer häufiger so vor, als würde diese Form des "sauberen Terrorismus" bereits allgegenwärtig sein. Denken wir mal an die Mär von der Klimaerwärmung.
@ Matt
Ihre Fingerabdrücke wären nullkommanix atomisiert worden. Sollten Sie noch einmal eine solche Begegnung mit einem herrenlosen Koffer habe, empfehle ich Ihnen, sich nicht an das andere Ende des Wagens zu gehen. Am besten setzen Sie sich auf den Koffer. Das hat gleich drei Vorteile: Im Falle eines Falles würde dies das Leiden erheblich verkürzen. Sie hätten außerdem in der rappelvollen Bahn einen Sitzplatz. Und ein eventuell doch anwesender Besitzer des Koffers würde sich spätestens dann zu erkennen geben.
Ich habe selten einmal so sinnfällige und -volle Vorschläge in einem Blogkommentar gelesen wie Ihre, Anonym 07:44. Dafür herzlichen Dank!
AntwortenLöschenDa waren einfach nur eine Menge englischer Briefmarken drin.
AntwortenLöschenHätten Sie ihn mal mitgenommen.....
@ Matt:
AntwortenLöschenGern geschehen. Ich freue mich doch immer wieder, meinen Mitmenschen mit Ratschlägen zur Seite stehen zu können, die ihr Leben bereichern, vereinfachern und verschönern.
Ich bin zwar froh darüber, dass es nicht so ist, aber: Ich habe mich auch schon oft gefragt, warum die bösen Jungs nicht längst dazu übergegangen sind, wöchentlich (oder öfter) sämtliche Flughäfen und Bahnhöfe mit Bombendrohungen zu überziehen.
AntwortenLöschenErfolgreich wäre es in jedem Fall: Entweder würde der Verkehr lahm liegen oder man würde dazu übergehen, die Drohungen nicht mehr ernst zu nehmen, womit ein Warnmechanismus deaktiviert wäre.
Ein bisschen Offtopic erlaube ich mir an dieser Stelle mal: "Danny Wilde" ist tot. R.I.P. :-(
http://www.zeit.de/kultur/film/2010-09/tony-curtis-gestorben
> [...]
AntwortenLöschen> Ich habe mich auch schon oft gefragt, warum die > bösen Jungs nicht längst dazu übergegangen sind,
> wöchentlich (oder öfter) sämtliche Flughäfen und
> Bahnhöfe mit Bombendrohungen zu überziehen.
> [...]
Das liegt daran, daß es gar nicht so viele "böse Jungs" gibt, wie *sie* uns weismachen wollen. Eigentlich werden die "bösen Jungs" nur als Argument für weiter zu steigernde, und als Überwachungsmaßnahmen getarnte Drangsalierungen gebraucht. Denn Überwachung und Drangsalierung ist ein Milliardenmarkt.
Gruß Paddy
Nicht so viele böse Jungs? Kann sein. Aber unabhängig von der Frage, wie viele es denn sind, von mindestens dreistelligen Zahlen reden wir doch schon, oder? Und die dürften - jeder ein Telefon in der Hand - schon einiges an Anrufen absetzen können. Selbst zwei können das schon.
AntwortenLöschenGanz zu schweigen von den ganzen Spinnern, die zwar nicht zu den bösen Jungs gehören, es aber witzig finden, Bombendrohungen an Flughäfen, Bahnhöfe und Schulen (bevorzugt zu schwierigen Klausurterminen) zu schicken.