Noch Anfang dieses Jahrtausends brach jeden Sommer eine weltweite Epidemie aus, und Millionen Infizierter wankten willenlos hinaus ins Grüne, zu Musikfestivals. Inzwischen ist die Massenerkrankung besiegt. Ein Rückblick mit Schaudern – aus dem Jahr 2054.
Aus der Sicht von heute – Sommer 2054 – wirkt das Verhalten junger Leute Anfang des Jahrtausends bizarr. Schuld war ein Virus. Immer im Sommer schlug es zu und zwang die Menschen zunächst dazu, sogenannte „Vorverkaufsstellen“ aufzusuchen.
Die von solcher Hirnvernebelung Befallenen beschlossen dann wie ferngesteuert, ein ganzes Wochenende lang alle Bequemlichkeiten der Zivilisation abzustreifen und sich in eine archaische Situation zu begeben, die ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit unbedingt abträglich war. Das Groteske: Sie bezahlten sogar dafür! Um die 100 Euro Tribut forderte das Virus pro „Open-Air-Festival“, wie man damals den Ort der Krankheitsausübung beschönigend nannte.
Die Folgen waren grausam: Wer unterm euphorisierenden Einfluss des Woodstockvirus (so sein wissenschaftlicher Name) Wald und Wiesen aufsuchte, neigte binnen kurzem dazu, sich zu entkleiden, selbst wenn ästhetische Erwägungen dagegen sprachen.
Im Furor des Virenfiebers nahmen die Enthemmten alkoholhaltige Getränke im Übermaß zu sich und verschmutzten ihre unmittelbare Umgebung alsbald mit Abfällen aller Art, darunter Körpersäfte und –stoffe. Abends krochen die Infizierten in feuchte Zelte statt ins heimische Bett, holten sich frohgemut Halsentzündungen mitten im Sommer und erlebten das gemeinsame Klobenutzen mit 80 000 Leidensgenossen irrigerweise als beglückend – und das, obwohl viele der Kranken ein virusbedingt sehr lockeres Verhältnis zur Körper- und Raumhygiene hatten.
Oftmals verwandelte Regen die weitläufigen Areale vor den Bühnen in schlammige Seen. Gesunde hätten darauf mit einer Mischung aus Ekel, Dusch- und Abreisezwang reagiert, doch seit dem erstmaligen Ausbruch des Virus 1969 gehörte es zur Symptomatik des Befalls, das meist nackige Sichsuhlen im Dreck als toll zu empfinden und sich zur Not lieber mit einem Trecker aus dem Schlamm ziehen zu lassen, als dieses vermeintliche Vergnügen panisch zu fliehen.
Am schlimmsten jedoch waren die Darbietungen selbst, zu deren Besuch das Virus die Menschen trieb. Wer heute Musik hört, die ja seit 2031 nicht mehr öffentlich, sondern nur noch privat abgespielt werden darf, kann sich kaum vorstellen, welches Inferno regelmäßig über die Virusträger hereinbrach.
Auf den gewaltigen Bühnen spielten sogenannte „Bands“: selbst Erkrankte, die spezielle Parallelsymptome (Kreativität, Exhibitionismus) dazu trieben, öffentlich im Freien zu lärmen. Und technisch waren die Menschen jener Ära wirklich in der Lage, Lärm zu machen, o ja!
Hoch aufragende Boxenwände prügelten mit Tausenden von Watt auf die Kranken vor den Bühnen ein, und unter dieser Tortur begannen sie verweifelt zu schreien, ihre schlammverkrusteten Extremitäten zuckten konvulsivisch, und ihre nicht mehr steuerbaren Hände schlugen brutal aufeinander ein, bis sich die Innenflächen röteten.
So zwang das Virus die Infizierten nicht nur willenlos in die Wildnis; dort erwartete sie auch noch eine rundum fürchterliche Situation aus bedrückender Beengtheit, null Hygiene und Schallterror. So konnte es natürlich nicht weitergehen, und schon einige Jahre bevor das weltweit letzte Großkonzert vor echten Zuschauern über die Bühne ging (Tokio Hotel, Maracanã-Stadion, Rio de Janeiro, 2022), zeichnete sich das Ende der Liveära ab.
Für die vielen Kranken war es immer gefährlicher geworden, allsommerlich Festivals zu besuchen. Hörschutz aus der Sprengbranche, Schienbeinschoner und Kevlarwesten gehörten spätestens seit Hurricane 2014 zur Standardausrüstung jedes Infizierten. Die Gefahr, bei einem Kreislaufkollaps von merkbefreiten Mitpatienten totgetrampelt zu werden, ließ sich dagegen nur mit dem Ganzkörperairbag (vulgo „Festivalwurst“) abwenden.
Das pfiffige Teil kam um 2015 in Mode: Sobald ein eingebauter Sensor an der Brust „horizontale Lage“ signalisierte, pumpte es sich explosiv auf wie eine Schwimmweste und verschaffte dem Kranken zugleich eine Liegefläche von anderthalb Quadratmetern. Während der Massenpanik 2017 im dänischen Roskilde, einer der europaweit größten Versammlungsstätten Viruskranker, verhinderte die Festivalwurst das Schlimmste.
Open-Air-Besuche jedenfalls mussten irgendwann geplant werden wie Himalaya-Erstbesteigungen. Doch die Erkrankten waren wegen ihrer herabgesetzten Ratio dazu einfach nicht mehr in der Lage. Ab 2016 weigerten sich zudem alle Krankenkassen, die Behandlung von Knochenbrüchen, Gehörschäden und schlammbedingter Diarrhö zu finanzieren, wenn der Patient nicht nachweisen konnte, innerhalb des letzten Monats kein Open-Air-Konzert besucht zu haben.
Die Lage geriet allmählich außer Kontrolle, der volkswirtschaftliche Schaden ging ins Unermessliche. So entschlossen sich weltweit die Gesundheitsministerien in einer dramatischen Gesetzesinitiative, globale Massenimpfungen gegen das Woodstockvirus schon bei der Einschulung durchzusetzen. Mit Erfolg: Seit 2022 gibt es keine Freiluftfestivals mehr, in öffentlichen Innenräumen (damals: „Liveclubs“ oder einfach „Clubs“) wurde schließlich 2030 die letzte Monitorbox ausgemustert.
Heute, ein Vierteljahrhundet nach dem Scheitelpunkt der Krise, scheint die Krankheit im Griff, das Virus eingedämmt. Und wenn mal wieder ein Fall publik wird, wo sich jemand schreiend, zuckend und mit aufgedrehtem iPod in ein Schlammloch geworfen hat, um sich mitten im Sommer eine Erkältung zu holen und ein unter falschem Namen gemietetes und sorgsam verdrecktes Dixieklo zu benutzen, dann behandeln die Gesundheitsämter das sehr diskret.
Aber auch mit aller gebotenen Härte.
Dies ist die gekürzte Fassung eines Textes, den ich für das U_mag geschrieben habe. Er ist in der aktuellen Ausgabe nachzulesen, mit viel schöneren Fotos.
und ebenjene längere Fassung las ich heute morgen auf dem Klo. Wirklich schön.
AntwortenLöschenJa, wie stünde es wohl um unsere Allgemeinbildung ohne das Refugium namens Toilette?
AntwortenLöschenSchlecht, ganz schlecht (zumindest um meine).
Das Örtchen des neuen Terrassencafés Salmonella im Allgäu ist natürlich mit einem entsprechenden Screen ausgerüstet, um den Aufenthalt dort noch angenehmer zu gestalten.
AntwortenLöschenUnd mit einem Glory Hole zum Durchreichen von Zötler Bier für die Agenten und Besucher aus Hamburg.
Das nenn ich mal Komfort, Opa!
AntwortenLöschenAbgesehen davon bin ich mehr als erschüttert über den Text und ganz besonders über die Zeile "Tokio Hotel Konzert 2022"!!
Das heisst, man muss die so lange noch ertragen? Kann man denn nicht in die Zukunft eingreifen, so aus der Vergangenheit heraus? Wäre das technisch vielleicht machbar? Zurück in die Zukunft und wieder zurück?
Ich kenn mich da leider nicht so aus..
Opa, das klingt so attraktiv, dass Sie sich vor Besuchern wohl kaum retten werden können.
AntwortenLöschenAnna, schon der umgekehrte Weg hat immer wieder zu Problemen geführt. Aber das Schöne ist: Sie SIND momentan ja in der Vergangenheit. Wenn Sie also ernsthaft einen Auftritt von Tokio Hotel im Jahr 2022 verhindern möchten, wer könnte Sie davon abhalten? Falls Sie Tipps zu Methodik etc. benötigen, so wenden Sie sich einfach an den ersten Kommentator dieses Beitrags.
Gerade bei ungeübten Schützen ist dringend vom Gebrauch eines Scharfschützengewehres abzuraten. Sie werden nichts treffen. Außerdem sind da ja Entfernungen von über 20km zu überbrücken - oder verwechsele ich da schon wieder die Veranstaltungen?
AntwortenLöschenTokio Hotel wohnen zurzeit in Hamburg. Bis zum Jahr 2022 dürfte ein „Treffen“ (har, har) arrangierbar sein.
AntwortenLöschenMatt, ach so! Ich BIN in der Vergangenheit! Ich dachte ja immer, das wäre die Gegenwart, aber egal, wenn Sie das sagen, dann lass ich mich gern eines Besseren belehren!
AntwortenLöschenIch vermute mal, German Psycho, Sie sind ein Freund eher ein bisschen radikalerer Lösungen? Klingt irgendwie so ein bisschen zwischen Ihren Zeilen an..
Ich kann mich aber auch täuschen!
Wie Sie ja deutlich, zwar nicht zwischen, dafür aber in den Zeilen lesen können, habe ich ja gerade ausdrücklich vor dem Benutzen radikaler Lösungen abgeraten! Ich als patriotisch-friedliebender Staatsbürger könnte mich niemals dazu hinreissen lassen, Gewalt als erste Wahl zu thematisieren.
AntwortenLöschenAllerdings muß man Matt ja auch zustimmen: Keine Gewalt ist auch keine Lösung.
Hallo Matt,
AntwortenLöschenich glaube, ich habe diese Woche nichts schöneres gelesen. Danke dafür!
Ich schon: diesen Kommentar …
AntwortenLöschen