03 März 2011

St. Pauli hat gewählt – und wie!




Wie der Rest der Welt aus einem hiesigen Blogbeitrag erfuhr, hatten wir am 20. Februar eine Bürgerschaftswahl, was anderswo einer Landtagswahl entspricht.

Erst jetzt bin ich dazu gekommen, mir die Wahlstatistik von St. Pauli in mühevollster Kleinarbeit als relativ junger Nichtfamilienvater einmal näher anzuschauen. Und siehe da: Sie ist nicht gerade repräsentativ für unsere Stadt. Hätten alle Hamburger so gewählt wie wir, wäre zum Beispiel die CDU nur gerade so eben noch in die Bürgerschaft gerutscht.

5,5 Prozent sind kein Ruhmesblatt, CDU, irgendwas macht ihr falsch, ihr sprecht St. Pauli nicht korrekt an, ihr habt den Rotlichtsound nicht drauf. Vielleicht habt ihr aber auch einfach nur zu viele Baugenehmigungen für leerstehende Bürotürme erteilt, wer weiß das schon. Zur Strafe fuhren düpierenderweise sogar Exoten wie die Piraten eine doppelt so hohe Ernte ein wie die CDU.

Alle linken oder linksorientierten Parteien (SPD, GAL, Linke, Piraten) zusammen kommen in St. Pauli übrigens auf einen Stimmenanteil von stattlichen 91,6 Prozent. Das ist ja fast schon honneckeresk, meine Lieben!

Angesichts dieser gewaltigen Übermacht dürfte den ungefähr 150 Kieznazis ziemlich die Muffe gehen, nicht nur auf der Reeperbahn nachts um halb eins, sondern ganz generell. Mein Vorschlag zur Güte: wegziehen.

Noch jemand vergessen? Ach ja, die FDP. Passable 1,6 Prozent vermochte jene Partei zu verbuchen, die mit einer gelben Regenjacke als Testimonial an den Start gegangen war. Doch St. Pauli sehnt sich nach Sonne; somit war das einfach das falsche Signal für einen Februar.

Wie überall in Hamburg stellten übrigens auch bei uns die Nichtwähler mit Abstand die stärkste Partei. Sie kamen auf über 55 Prozent.

Würde man sie ebenfalls in die Wahlstatistik einfließen lassen, käme die CDU auf eine Zahl, die sogar mich schockiert.

(Grafik: Statistik-Nord, E. Hyra und S. Kehne)

02 März 2011

Der Bettelbär



Nachdem Dr. Angela Merkel gestern erwartungsgemäß meinem Gesuch stattgab, darf man nun leicht beruhigt die Aufmerksamkeit wieder dem Kiez zuwenden.

Dort, an üblicher Stelle in der Simon-von-Utrecht-Straße, hängt seit neuestem ein am Mauergitter aufgeknüpfter Bettelbär. Er hält tapfer die Stellung, wenn die polnischen Obdachlosen gerade woanders sind.

Ich weiß nicht, wie weit es gewöhnlich her ist mit Selbstdisziplin und Anstand zufällig vorbeikommender Bettelkonkurrenten, doch ich könnte mir schon vorstellen, dass man in einer solch prekären Situation dem Bären en passant eher was aus dem Becher nimmt, als etwas mühsam Selbsterbetteltes hineinzuwerfen.

Kurz: Obgleich sein mitleiderregendes Aufgeknüpftsein an der Simon-von-Utrecht-Straße durchaus die Herzen von Passanten zu rühren imstande sein dürfte, zweifle ich doch aus geschilderten Gründen an seinem Nettoerfolg am Ende des Tages.

Als ich abends erneut dort vorbeikam, war er denn auch verärgert abgehängt worden und saß jetzt schmollend abseits der zurückgekehrten Polengruppe an der Mauer.

Mehr ist übrigens auch nicht dran an dieser Pseudogeschichte. Aber das haben Sie sicher schon geahnt.



01 März 2011

Wie ein Küken nach dem Schlüpfen

Vorbands sind die Parias des Konzertbetriebes. Das wurde heute mal wieder auf brutalstmögliche Weise klar.

Wir waren zum Kylie-Minogue-Konzert in die o2-World-Arena eingeladen worden, als Auftakt des Abends spielte die Newcomerband Frida Gold.

Nachmittags schon, das erfuhren wir in der Loge, wo wir u. a. mit Champagner (Foto) empfangen wurden, war der Vorband nur ein zehnminütiger Soundcheck gestattet worden. Und jetzt standen die Jungs samt Mädel auf der Bühne, und alles ging plangemäß schief.

Der verantwortliche Mischpultsaboteur, der ohne jeden Hehl den Auftrag hatte, Kylie Minogue durchs akustische Niedermachen der Vorband umso heller erstrahlen zu lassen, sorgte erst einmal dafür, dass Frida Gold so leise rüberkamen wie ein Küken nach dem Schlüpfen.

Außerdem eliminierte er alle hohen Frequenzen; der E-Gitarrist weiß wahrscheinlich noch immer nicht, dass die 10 000 Leute in der o2 World ihn bloß für einen komischen Vogel mit Gitarrenattrappe hielten – und die Keyboarder für Pling-Pling-Clowns.

Bis zu unseren Plätzen drangen lediglich Basedrum und Bass durch – sowie ein fernes Kieksen, das anscheinend die Stimme der Sängerin darstellen sollte. Genauso muss perfekt inszenierte Mischpultsabotage klingen, und in dieser Hinsicht erledigte Kylies Agent an den Reglern seinen Job fantastisch.

Vorbands wissen das. Aber sie können nichts tun. Wer in den Genuss kommt, von Label oder Management für einen saftigen Betrag ins Vorprogramm eines Stars eingekauft zu werden (offiziell heißt das: „Superstar XY persönlich hat die Band ausgesucht“), wird sabbern vor Glück, endlich mal eine fünf- statt dreistellige Zahl von Leuten beschallen zu dürfen.

Der Preis dafür ist vergleichbar mit dem Einzug ins Dschungelcamp: Man wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Und man wird zum hässlichen Entlein gemacht, um den Kontrast zum schwanengleichen Star zu maximieren.

Vorbands sind die Watschenpuppen des Konzertbetriebes, die Crashtestdummys, sie kriegen Klamotten aus Altkleidersammlungen übergeworfen. Die akustische Botschaft des Mischpultsaboteurs ans Publikum ist eindeutig: Seht her, wie klein sie sind, wie hässlich.

Frida Gold werden vielleicht trotzdem berühmt. An ihrem Job als Vorband von Kylie Minogue wird es aber nicht gelegen haben, so viel ist sicher.



28 Februar 2011

In Extremo widerlegen das Optimalverspätungsgesetz



Wenn man seit 16 Jahren auf dem Kiez Konzerte besucht, weiß man genau, was man keinesfalls tun darf: pünktlich kommen, also zu dem Zeitpunkt, an dem das Konzert offiziell angesetzt ist.

Pünktlich kommen bedeutet nämlich – vor allem, wenn die Begleitung kurzfristig abgesagt hat – dumm rumstehen und vor lauter Langeweile vor der Zeit das erste Bier bestellen.

Wer auf dem Kiez pünktlich kommt, kommt auf alle Fälle viel zu früh. Die Band ist wahrscheinlich gerade auf dem Weg ins Restaurant und wird erst nach dem gemütlichen Gelage plus obergemütlichem Absacker plus Kurzmalfrischmachen im Hotel ganz allmählich eintrudeln, während man selbst vor Langeweile schon drei Bier getrunken hat. Oder vier.

Einmal wollte ich – was ich wahrscheinlich hier schon mal erzählt habe – zu einem um 22 Uhr angesetzten Konzert ins Molotow, welches dann um 0:30 Uhr endlich anfing. Das waren irgendwelche Dänen, und sie waren verdammt gut. Aber auch verdammt spät dran, und das an einem Donnerstag.

Wenn man also seit 16 Jahren auf dem Kiez Konzerte besucht, kommt man später, so Pi mal Daumen eine Stunde. Schon oft gelang es mir mit dieser ausgefeilten Methode, exakt zur Ansage oder während des ersten Stücks den Club zu betreten, während ich umgeben war von aus bekannten Gründen glasig dreinschauenden Leuten, deren Konzertbesuche keinen empirischen Gesetzmäßigkeiten folgten.

Gestern Abend spielten In Extremo im Grünspan, eine Band, die ich zwar schon mehrfach getroffen, aber noch nie live gesehen hatte. Offizieller Konzertbeginn war 20 Uhr, also machte ich mich gemäß des Optimalverspätungsgesetzes um 21 Uhr auf den kurzen Weg ins Grünspan.

Der Mann an der Kasse glotzte mich verwundert an, als ich Einlass begehrte, und rief mir gegen den herüberbrandenen In-Extremo-Lärm zu: „Die sind aber gleich fertig.“ Ich erwiderte etwas im Sinne von „Wie bitte? Aber gab es denn keine Vorband?“, doch er drückte mir den Stempel auf den Daumenballen und brüllte: „Die haben pünktlich angefangen“ – ein Satz, der mir genauso realistisch vorkam, als hätte er gerade gesagt (nein: gebrüllt), der Papst habe heute eine Bank in Stockholm überfallen.

Doch es stimmte. In Extremo hatten pünktlich um 8 angefangen. Sie spielten nach meiner Ankunft noch drei Stücke, sperrten sich gegen den ausdrücklichen Wunsch des Publikums nach Zugaben und entließen uns alle noch vor halb 10 hinaus in die linde Nacht.

So erlebte ich das wahrscheinlich kürzeste Kiezkonzert meines Lebens, das zudem mit der geringsten persönlichen Biervertilgungsquote seit Erfindung der Gerste in die Annalen einging: null.

Also fragen Sie mich bitte nicht, wie es war. Auskunft geben kann ich höchstens über die Laserlichtspiele überm Toiletteneingang, aber auch das am liebsten nur visuell.

26 Februar 2011

Mail an die Bundeskanzlerin

Betreff: z. Hdn. Frau Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Von: Matt Wagner
Datum: 26.2.2011, 20:09:57 MEZ
An: internetpost@bpa.bund.de

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

als Staatsbürger, Demokrat und glühender Anhänger unseres Grundgesetzes möchte ich nicht von einem Betrüger und Hochstapler regiert werden. Ich hoffe, Sie können das nachvollziehen. Es ist nicht nur für mich unzumutbar, sondern auch unserer Republik unwürdig.

Betrug und Hochstapelei sind Charakterfragen. Entweder man ist dazu fähig oder nicht. Man kann eine solche Charakterschwäche nicht ablegen, nur weil man Minister ist.

Daher bitte ich Sie inständig, als Staatsbürger, Demokrat und glühender Anhänger unseres Grundgesetzes: Entlassen Sie den Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.

Ich möchte mich nicht mehr schämen müssen für diese Republik.

Mit freundlichen Grüßen
Matthias Wagner


Foto:
REGIERUNGonline/Bergmann

Fundstücke (126)



1. Nach dieser außergewöhnlich ereignisreichen Woche sollte man betonen, dass es durchaus auch äußerst liebenswerte Hochstapler gibt. Für das dementsprechende Beweisfoto von Alfred Hitchcock kann ich zwar leider keine Quelle angeben, doch so etwas führt ja heutzutage glücklicherweise nicht mehr dazu, dass man als Blogger zurücktreten muss. Eine Entschuldigung reicht. Entschuldigung.



2. Die Sinnhaftigkeit meiner Sicherheitseinstellungen wurde mir selten befriedigender vor Augen geführt als bei der abgebildeten Firefox-Warnmeldung von heute. Verantwortlich für den Versuch, 111 Fenster gleichzeitig zu öffnen, war übrigens die Webseite meiner Hausbank, und zwar während ich eingeloggt war. Es gibt Sachen, die mich weniger beunruhigen, ehrlich gesagt.

3. Ein Leser meines Blog wies mich unlängst auf die verblüffende Ähnlichkeit zwischen meinem Avatar und dem Wikipedia-Icon für „lückenhaft“ hin. Und zweifellos besteht diese Ähnlichkeit nicht nur in optischer Hinsicht, wie ich zerknirscht eingestehen muss.


24 Februar 2011

Guttenberg sagt: „Jura lohnt sich“



Wir sehen hier einen kurzen Ausschnitt aus einem bemerkenswerten Imagefilm des Fachbereichs Jura der Uni Bayreuth. Die Produzenten gewannen dafür ehemalige Absolventen, darunter auch den Verteidigungsminister „Dr.“ Karl-Theodor zu Guttenberg.

Auf die selbstgestellte Frage, was man in Bayreuth am besten studieren solle, sagt er: „Jura. Es lohnt sich.“ Quod erat demonstrandum.

Der komplette Film enthält neben Guttenberg übrigens eine ganze Menge vollbusiger, stets tiefdekolletierter Studentenschnitten – und ist hier zu sehen.


Guttenzwerg nach Goa

Was für ein todtrauriger Tag für unsere parlamentarische Demokratie.

Ein Lügner und Betrüger, ein Mann von offenkundig verrotteter Moral darf weiterhin eine hochgerüstete Armee von 250 000 Soldaten befehligen. Ein Lügner und Betrüger, ein Mann von offenkundig verrotteter Moral darf weiter oberster Dienstherr zweier deutscher Universitäten bleiben.

Es ist einfach nicht zu glauben, aber es lief in der Tagesschau. Also muss es wahr sein.

Es gäbe unzählige Gründe für diesen vermeintlichen Superstar, der sich als armseliger Guttenzwerg entpuppt hat, tief beschämt das Weite zu suchen. Allein schon deshalb, weil es unsagbar peinlich ist, auf so entwürdigende Weise beim plumpen Tricksen und Täuschen erwischt zu werden, würde sich jeder Mensch mit Restehre freiwillig für Jahre in ein hochalpines Kloster verkriechen. Oder gleich nach Goa.

Wahrscheinlich würden das sogar die meisten Kiezluden freiwillig tun. Aber er nicht.

Wie eitel muss man sein, um selbst eine solche Schmach wegignorieren zu können? Und wie machtgeil müssen jene sein, die einem solchen Mann bedingungslos beispringen?

Da saß heute eine Forschungsministerin im Bundestag, die unlängst erfolgreich die sogenannte Exzellenzinitiative angeschoben hat, welche die Qualität der Wissenschaft in Deutschland steigern soll – und forderte mit keinem einzigen Wort, den Betrüger, der sich einen wissenschaftlichen Doktortitel erschleichen wollte, unverzüglich aus dem Kollegenkreis zu entfernen. Es ist einfach nicht zu glauben.

Heute ist mir jedenfalls die Lust auf irgendeine launige Geschichte vom Kiez genauso gründlich vergangen wie das Lachen; selbst die Sammlung von Guttenberg-Witzen, die Ms. Columbo mir zur Kenntnisnahme mailte, konnte daran nichts ändern. Denn das alles ist einfach nicht mehr witzig.

Es ist nur eins: todtraurig.

Foto: www.zuguttenberg.de. Mit freundlicher Genehmigung des Ministers.

22 Februar 2011

Der Ätschi-bätschi-Gott



Ein etwa 17-jähriges Mädchen marschiert telefonierend bei Rot über die vierspurige Stresemannstraße, ohne den Verkehr auch nur eines Blickes zu würdigen.

Es gibt schließlich Wichtigeres als eine Tonne heranrauschendes Todesblech, und das Wichtigere kommt gerade aus einem kleinen Kästchen mit SIM-Karte, welches das Mädchen fest ans Ohr presst. Auch als das ignorante Teenie mitten auf der Straße empört angehupt wird, zeigt es keine Reaktion, sondern schlurft weiter, über die nächsten zwei Spuren.

Echt cool, die Kleine. Und entschieden suizidal, freilich ohne es zu ahnen.


Das hupende Auto verfehlt das Mädchen knapp. Wir schauen fasziniert zu. „Solchen Leuten“, moniert Ms. Columbo mit einer Mischung aus Genervtheit und Bewunderung, „passiert immer nichts.“ „Nun“, erwidere ich, „das würde ja einen Gott voraussetzen, der sich als eine Art Kontraindikator versteht.“ „Genau!“, pflichtet mir Ms. Columbo bei, „ein Ätschi-bätschi-Gott!“

So verwunderlich wäre das freilich gar nicht, denn schon in der Bibel wird von einer eingehenden Psychoanalyse berichtet, die zu dem beunruhigenden Ergebnis kommt, die Wege des Herrn seien unergründlich. Und zur Unergründlichkeit gehört es unbedingt dazu, auch mal optional die Verdammenswerten zu hätscheln und die Folgsamen zu vierteilen.

Das Mädchen, das da so sinnierend und in sich gekehrt über die vierspurige Stresemannstraße stapfte, kam jedenfalls mit dem Leben davon. Wohl bald schon wird es seinen fragwürdigen Genpool wider alle Vernunft reproduzieren, vielleicht sogar mithilfe seines Gesprächspartners am anderen Ende der Handyverbindung, wer weiß das schon.

Als wir Zeuge dieses Vorfalls wurden, kamen wir übrigens gerade aus einem mit bröckeligen Kacheln verkleideten Café namens Herr Max (Foto) in der Schanze, wo es den definitiv besten Espresso gibt, den man für einen Euro kaufen kann.

Ich würde mich übrigens auf die Theke des Caffe Latte stellen und das wiederholen. Aber dort ist der Espresso eh teurer.


21 Februar 2011

Where is my vote, Wahlleiter?



Gestern Mittag saßen wir angespannt in den Wahlkabinen im Ortsamt St. Pauli und studierten das Quartett der umfangreichen Broschüren, zu denen der gute, alte Stimmzettel in Hamburg inzwischen geworden ist (wahrscheinlich durch unkontrollierte Zellteilung).

Die vier verschiedenfarbigen Broschüren – es handelte sich parallel um eine Landtags- und eine Kommunalwahl – wirkten wie Mutationen. Statt dem bewährten Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ weiter treu zu bleiben, konnten wir diesmal gleich 20 Stimmen vergeben, fünf in jeder dieser Broschüren. Und diese Stimmen durften wir beliebig aufteilen, auch querbeet.

Anfangs kam mir das vor wie eine bürokratische Blähung, doch jetzt, nach der (hoffentlich) unfallfreien Bewältigung des Parcours, sehe ich auch die Vorteile dieses Verfahrens. Immerhin kann ich nun erstmals in meiner Wahlgeschichte persönliche Koalitionswünsche signalisieren, indem ich zum Beispiel der Partei X drei Stimmen gebe und Partei Y zwei.

Die üblichen Statements in den Elefantenrunden à la „Der Wähler will Rot-Grün!“, nur weil das beliebige Zusammenzählen verschiedener Prozentzahlen eine parlamentarische Mehrheit ergäbe, war aus statistischer Sicht immer sinnlos, weil austauschbar. Beweis? Seit 1949 hätte man (mit Ausnahme von 1957) nach jeder Bundestagswahl unwiderlegbar argumentieren können, „der Wähler“ wünsche sich am innigsten eine Große Koalition – denn CDU und SPD waren stets die stärksten Parteien.

Doch was wir Kreuzchenmacher wirklich wollen, lässt sich erst mit dem neuen Hamburger Wahlsystem herausfinden. Ich hoffe, die Auswertung erfolgt denn auch derart detailliert, dass dies nachvollziehbar zutage tritt.

Eine solche Feinanalyse würde ich unter der Rubrik Trostpflaster verbuchen – nachdem sich all meine 20 mühsam aufgeteilten Stimmen gleichsam in Luft aufgelöst haben.

Dafür danke auch, lieber Scholzomat.


PS: Das Foto zeigt ein Graffito an einer Hausfassade in St. Pauli und hat keinerlei Bezug zum heutigen Blogtext.
Echt nicht.

20 Februar 2011

Tun Sie’s, verdammte Hacke!

Sehr geehrter Herr German Psycho,

heute habe ich ein zugegeben ungewöhnliches Anliegen an Sie, doch es ist sehr wichtig. So wichtig, dass ich gar die Form eines offenen Briefes wähle. Eingedenk der Befürchtung, mein Appell könnte Ihnen nicht behagen, ja sogar Ihren Ekel erregen, setze ich auf den öffentlichen Druck, den ein offener Brief gemeinhin auszulösen imstande ist. Und natürlich auf Ihre Vernunft und Einsichtsfähigkeit.

Hiermit also appelliere ich inständig an Sie: Wählen Sie heute bei der Hamburger Bürgerschaftswahl die FDP!

Wahrscheinlich verwundert Sie dieses Anliegen im höchsten Maße, war ich Ihnen doch bisher noch nie als Anhänger eines Westerwelle oder gar einer Suding aufgefallen. Und in der Tat, das ist auch weiterhin so. Doch manchmal muss man taktisch denken, und heute ist so ein Tag.

Denn nur, verehrter Herr German Psycho, wenn die Liberalen die 5-Prozent-Marke schnackeln, wird die Gefahr einer Alleinherrschaft von Olaf Scholz’ SPD sicher zu bannen sein – und bei diesem Unterfangen setze ich ganz und gar auf Sie.

Das liegt, wie Ihnen sicherlich bereits dämmert, an Ihrer staatsbürgerlichen Vergangenheit. Denn Sie haben bereits mehrfach bewiesen, im Bedarfsfall sowohl psychisch als auch physisch in der Lage zu sein, FDP zu wählen. Und deshalb erwarte ich nun diesen Dienst am hanseatischen Volk von Ihnen.

Klar, Sie sind, wie ich weiß, bitter enttäuscht von Schwarz-Gelb auf Bundesebene und wollten eigentlich keinesfalls mehr die Gelben wählen, auch nicht bei einer Landtagswahl. Wer könnte das besser verstehen als ich, und doch müssen Sie!

Wahrscheinlich wundern Sie sich nun, warum ich nicht selbst bereit bin, dieses beträchtliche Opfer zu bringen. Das will ich Ihnen gerne sagen: Ich kann nicht. Ich bin dazu schlicht nicht in der Lage. Meine Finger würden es in der Wahlkabine nicht schaffen, den Stift in Richtung der entsprechenden Felder zu führen. Ich habe es testweise auf dem Musterwahlzettel einmal ausprobiert, aber es geht einfach nicht, echt nicht.

Und das ist der Grund, sehr geehrter Herr German Psycho, weshalb Sie es tun müssen, nur einmal noch, bitte. Pro bono, contra Olaf, verstehen Sie?

Und jetzt tun Sie’s, verdammte Hacke!

Mit freundlichen Grüßen
Matt



19 Februar 2011

a mal vier

Und nun zu einem ganz anderen Thema.

In einem Wiener Bezirk gibt es eine Gemeinde namens Oberlaa. Durch Oberlaa fließt das Flüsschen Liesing. Gäbe es nun in diesem Gewässer Aale, und zwar welche, die sich auch noch im Laufe ihrer Evolution zu einer eigenen Oberlaaer Unterart entwickelt hätten, so dürfte – nein: müsste! – man mit Fug und Recht sprechen vom:


Oberlaaaal.

Das ergäbe das wohl einzige Wort in deutscher Sprache, welches mit vier identischen Vokalen in Folge auftrumpfen könnte. Nur dem Nachbarbezirk Unterlaa wäre es möglich, diese Spitzenleistung zu verwässern bzw. zu verdoppeln.

Allein schon aus diesem Grund ist es meines Erachtens dringend geboten, in der Liesing Aale anzusiedeln. Hiermit fordere ich die Gemeindeverwaltungen von Oberlaa und Unterlaa ultimativ dazu auf.


Und fragen Sie mich bitte nicht, wie ich auf diesen Blogbeitrag gekommen bin.

18 Februar 2011

Die Sollbruchstelle



Das Besondere und definitiv auch Schöne an der Architektur der sogenannten tanzenden Türme, die seit einigen Monaten eingangs der Reeperbahn entstehen, ist natürlich der deutlich hervortretende Knick in der Optik.

Vor allem deshalb, weil man schon jetzt genau sehen kann, wo dereinst die Sollbruchstelle bei der Abrisssprengung liegen wird.

PS: Übrigens sollte man als Blogger, wie mir gerade durch den Kopf schießt, den Ehrgeiz entwickeln, in jedem Beitrag ein Wort mit einem Tripelbuchstaben unterzubringen. Mal schauen, ob dieser Gedanke sich als tragfähiger erweist, als die tanzenden Türme aussehen.

16 Februar 2011

Derbysieg



Nach dem so glücklichen wie gloriosen Derbysieg des FC St. Pauli – welcher der Gegend rund um die Reeperbahn den größten Fußballtag seit 34 Jahren verschafft – ist es hier um kurz vor Mitternacht erstaunlich ruhig. Die mittwochsüblichen versprengten Sirenen aus der Ferne, das ist alles.

Vielleicht kloppen sie sich auch nur woanders (was man aus Anwohnersicht nur begrüßen kann). Die St. Paulianer, das zurzeit glücklichste Volk der Welt, wenn nicht ganz Hamburgs, feiern anscheinend alle drinnen, und die HSVler sind mental wohl viel zu zerbröselt, um noch die Energie für einen Kiezbesuch aufzubringen, wo sie im besten Fall verhöhnt, im schlimmsten getröstet würden.

„Wenn ich sehe, wie die Paulianer hier in unserem Stadion feiern, könnte ich kotzen", sagte vorhin Bastian Reinhardt, der Sportdirektor des HSV, im Fernsehinterview. Und mal ehrlich: Das sind die schönsten Worte, seit ich mir damals
zitternd vor Ergriffenheit Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“ laut vorgelesen habe.

Man sollte sie sich auf ein T-Shirt drucken lassen und es dann nie mehr waschen. Reinhardt, nicht Rilke.


Obwohl: den auch.

Foto: Spiegel online


Mit links



Wenn man bereits ein krankes Knie sein eigen nennt und legt sich dann auch noch blitzeisbedingt mit dem Fahrrad lang hin:

Ist es dann eigentlich besser, aufs lädierte Knie zu donnern oder doch lieber aufs andere, bisher gesunde – mit der Konsequenz, somit überhaupt kein voll funktionsfähiges Gelenk mehr verfügbar zu haben?

Das sind Fragen, mit denen ich mir zurzeit das Hirn martere. Jedenfalls knallte ich aufs rechte, das jetzt noch malader ist als vorher. Mein linkes hingegen funktioniert astrein, dafür könnte ich es knutschen.

Das ebenfalls in Mitleidenschaft gezogene Handgelenk hätte hingegen besser nicht ausgerechnet das rechte sein sollen. Es ist nämlich, wie sich herausgestellt hat, von erstaunlicher Diffizilität, sich mit links ein Brot zu schmieren. Das sollte man in guten Zeiten öfter üben – nur so als Tipp.

Doch das ist eh alles pillepalle, es gibt zurzeit Wichtigeres in der Stadt: Das vorletzte Woche dem Wetter zum Opfer gefallene Derby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli steht endlich an. Prompt schneit es sei heute wieder aus allen Löchern, als fände Frau Holle den Termin erneut nicht dolle.

Die Stadt aber ist nicht nur wetterbedingt im Ausnahmezustand: Wie es heißt, soll die Polizei vorsorglich schon mal den größten verfügbaren Wasserwerfer betankt haben.

Wohnten wir im Erdgeschoss, ich würde alle Fenster verrammeln – mit der gleichen Anmut und Eleganz übrigens, wie ich mir zurzeit ein Butterbrot schmiere.


15 Februar 2011

Ausnahmesituation



Wann immer ich in den vergangenen Jahren das Obdachlosenlager an der Simon-von-Utrecht fotografierte, gewann das Motiv seinen widersprüchlichen Reiz aus einer ganz speziellen Wechselwirkung zwischen Reklame und Elend.

Meist schien das Werbemotiv auf geradezu absichtlich zynische Weise das Schicksal der Heimatlosen zu seinen Füßen zu kommentieren (zum Beispiel hier, hier und hier). Heute aber motivierte mich erstmals genau das Gegenteil zur fotografischen Dokumentation der Szenerie.

Denn ausgerechnet die Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt hat diesen Werbeplatz gebucht, und endlich ist die Gesamtsituation dort harmonisch und homogen. Kein Hintersinn, kein Sarkasmus, keine Bösartigkeit lädt die Lage mit Symbolik und Sozialkritik auf. Man sieht nur eine Werbung, die von der Realität bestätigt wird und umgekehrt.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Der polnische Obdachlose – nennen wir ihn Jaczek A. – war übrigens damit einverstanden, fotografiert zu werden. Trotzdem war es mir sehr unangenehm, die Linse auf ihn zu richten. Sie verwandelte sich dabei unversehens in eine Waffe, die auf einen Schutz- und Wehrlosen gerichtet war.

Trotzdem schien mir das Motiv wichtig genug, um mich über die Obszönität der Situation hinwegzusetzen. Denn wenn Jaczek A. schon mal nicht von einem Werbeslogan für Wohlstandsbürger düpiert und veralbert wird, dann sollte das ebenfalls dokumentiert werden.

Es wird eh die Ausnahme bleiben, so viel ist sicher. Demnächst wirbt an dieser Stelle wieder irgendjemand für „Kokowääh“, Flatratetarife oder den Heidepark Soltau.

Vielleicht auch für wahnsinnig günstige Baukredite.

14 Februar 2011

So weit ist es in Deutschland schon gekommen



Vor der Postfiliale steht ein falsch geparkter Pinneberger Nissan Micra mit eingeworfener Heckscheibe. Der dazu missbrauchte Pflasterstein liegt noch auf der Rückbank.

Vorn auf der Ablage macht sich ein Exemplar der BILD-Zeitung breit, auf dem Beifahrersitz ein roter Mantel. Man muss sich Sorgen machen.

Plötzlich tapst ein älterer kleiner Herr mit Hut heran. Sein Gesicht ist grau und geprägt von faltigen Hautlappen. Ihn umschlottert ein Trenchcoat, der erstaunlich treffsicher seiner Gesichtsfarbe entspricht. Der Mann stellt eine leere Limonadenflasche auf dem Dach ab und kramt nach dem Autoschlüssel.

„Ist das Ihr Wagen?“, frage ich. „Das ist meine Strafe“, sagt er mit dem Anflug eines bitteren Lächelns und schließt die Fahrertür auf. Ich schaue wohl irritiert, denn er sieht sich zu einer Erklärung veranlasst.

„Das waren Jugendliche, denen ich die Wahrheit gesagt habe über die Sexualität von Männern“, salbadert er mit leiser, fast tonloser Stimme und schiebt nach kurzem Zögern „und Frauen“ nach. „Man darf ja in diesem Land“, ergänzt er, „nicht mehr die Wahrheit sagen, sonst wird man bestraft.“

Himmel hilf, ein Schwätzer. Ich hätte ihn gar nicht erst ansprechen sollen. Und ich werde ihn keinesfalls fragen, was denn die Wahrheit sei über die Sexualität von Männern (und Frauen), obwohl das ja ein Rätsel ist, welches noch keine befriedigende Erklärung gefunden hat im Lauf der letzten 200.000 Jahre.

Ob ich eine Werkstatt wüsste, wo er seine Autobatterie wieder aufladen könne, fragt er. Ich empfehle ihm die Tankstelle am Spielbudenplatz, keine 100 Meter entfernt. „Ach, die Esso“, winkt er ab. „Dort hat neulich ein Ausländer einen Deutschen rausgeworfen. Soweit sind wir in Deutschland schon gekommen, dass ein Ausländer einen Deutschen rauswerfen kann“, klagt er mit seinem leisen Stimmchen.

Mit einem barschen „So ein Quatsch“ lasse ich ihn stehen. Ich hätte ihn wirklich gar nicht erst ansprechen sollen. Wer in Deutschland einen Satz beginnt mit „Soweit sind wir in Deutschland schon gekommen, dass …“, der bewirbt sich damit jedenfalls inniglich um das Recht, kostenlos die Heckscheibe seines Nissan Micra eingeworfen zu bekommen.

Zumal seine Vaterlandsliebe so tief wohl doch nicht ist – sonst hätte er sich ein deutsches Auto zugelegt, nicht wahr.


13 Februar 2011

Wahlkampf absurd

Der federführend an der neulich in diesem Blog aufgedeckten Römerverschwörung in der CDU beteiligte Dennis Gladiator (Wahlkreis Bergedorf) sieht seinem Altonaer Konkurrenten Ploetz von der Piratenpartei verdächtig, ja geradezu alarmierend ähnlich …



… während die homöopathiegläubige Grünenchefin Renate Künast
sich erschreckenderweise nicht mal mehr selber ähnelt:



Was macht die Politik nur aus den Menschen?
Es ist erschütternd.

12 Februar 2011

Endlich mal nicht grundlos verdächtig



An der Max-Brauer-Allee husche ich im letzten Moment mit dem Fahrrad über die Fußgängerampel, obwohl sie, wie ich zugeben muss, bereits die Farbe von Draculas Lieblingsgetränk angenommen hatte.

Auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße stoppe ich daher; die zweite Hälfte will ich angesichts des bereits losgerollten Verkehrs lieber bei Grün absolvieren. Als ich so dastehe, bemerke ich, wie hinter mir ein Wagen auf die Insel fährt und anhält.

Ein Streifenwagen, um genau zu sein.

Anscheinend stand er in der ersten Reihe, als ich illegal die Straße querte. Er hatte also einen Logenplatz. Gleich drei Uniformierte steigen aus, eine Frau und zwei Männer.

Der Fahrer, ein muskulöser Typ mit Aknenarben und ohne Zweifel Anführer der Besatzung, stützt sich auf die Wagentür, beugt sich aus der lichten Höhe von knapp zwei Metern zu mir herab und sagt: „Steigen Sie bitte mal vom Rad.“

Ich zittere ja sowieso schon, wenn ich der Polizei begegne, und signalisiere so stets ein grundlos schlechtes Gewissen, was mich, wie ich befürchte, generell verdächtig wirken lässt. (Übrigens die einzige Eigenschaft, die ich mit Alfred Hitchcock teile.) Nun auch noch wirklich und wahrhaftig etwas verbrochen zu haben, macht mich keineswegs ruhiger.

Kurz: Ich bin ein Nervenbündel.

„Warum haben Sie das gerade gemacht?“, fragt der Anführer. „Das war … spontan und … unbedacht“, stammle ich. „Sie haben sicher schon öfter Ärger mit der Polizei gehabt deswegen“, sagt der Riese. „Äh, nein … warum?“, frage ich, nun vollends in der Defensive, und das mitten im Nieselregen auf einer Verkehrsinsel in Altona, unter den Augen der interessierten Öffentlichkeit.

„Weil Sie sagen: ,spontan und unbedacht’“, analysiert er. „Nein, wirklich nicht, noch nie“, flüstere ich und schaue hilfesuchend die Polizistin an. Sie lächelt mir aufmunternd zu. Wahrscheinlich ein automatisiert aufflammender Mutterinstinkt. Dabei ist sie mindestens 20 Jahre jünger als ich.

Jetzt verlang schon endlich meinen Personalausweis, barme ich innerlich, verpass mir den Bußgeldbescheid, und dann lass mich laufen. Tut Mr. Akne aber nicht.

„Machen Sie das nie wieder“, sagt er, „ich möchte Sie nämlich nicht unter meinem Wagen hervorkratzen müssen.“ Verständiges Nicken scheint mir die Situation weiter zu kalmieren, deshalb nicke ich verständig. „Und ich“, ergänze ich mit brüchiger Stimme, „möchte erst recht nicht unter Ihrem Wagen hervorgekratzt werden.“

Die Polizistin nickt erneut lächelnd und nun sogar mit geschlossenen Augen; ich habe also zweifellos den richtigen Ton getroffen. Ich schaue wieder den Riesen an. „Noch einen schönen Abend“, sagt er und steigt in den Wagen. Die anderen folgen ihm, und dann fahren sie davon.

Ich auch, mit zittrigen Knien – um 62,50 Euro reicher und einen Punkt in Flensburg ärmer.

Danke. (Auch wenn ich nicht weiß warum.)

Foto: Matthias Wiechmann, Polizei Hamburg


11 Februar 2011

Die Kommunikation der Zukunft

Ms. Columbo und ich hatten soeben eine großartige Idee, welche nicht nur die zwischenmenschliche Kommunikation revolutionieren wird, sondern zugleich auch die individuelle Sicherheit von uns allen: ein Telefon mit Schnur!

Gegenüber der derzeitig gebräuchlichen Krückentechnologie hätte ein solches Gerät unzählige Vorteile. Zum Beispiel wäre man dadurch völlig unabhängig von der Willkür schwankender Funknetze, Irrwege wie „WLAN“, „WI-FI“ oder „UMTS“ gehörten schlagartig der Vergangenheit an.

Außerdem würde uns das fest mit einem stabilen Wandanschluss verbundene Schnurtelefon™ zuverlässig daran hindern, als blinde, kopflose Plapperhühner durch die Gegend zu karriolen und mit Passanten zusammenzustoßen oder unter einen Lkw zu geraten.

Doch wir planen noch mehr. Wir werden das revolutionäre Schnurtelefon™ mit einem absoluten Killerfeature ausstatten – einem eigens abnehmbaren Hörer™! Dadurch bräuchte man sich bei einem Gespräch künftig nicht mehr das komplette Gerät an den Kopf zu klatschen, wie es heutzutage gang und gäbe ist, sondern nur noch das zur direkten Kommunikation gerade eben Notwendigste, nämlich Mikrofon und Lautsprecher.

Das Großartigste aber wäre – festhalten! – ein von uns so bezeichnetes Drehrad™ zum Wählen am Basisgerät. Dieses Ausstattungsmerkmal des Schnurtelefons™ würde das irrlichternde Anvisieren von Tasten (oder gar ihrer optischen Simulation wie auf lachhaft altmodischen Smartphones) völlig überflüssig machen. Und durch das Eintauchen des Fingers in die entsprechend groß dimensionierten Ausbuchtungen der einzelnen Zahlen des Drehrades™ wäre ein Verwählen hinfort praktisch unmöglich.

Ich glaube, unsere Idee wird den Telekommunikationsmarkt komplett durcheinanderwirbeln. Wir haben die Zukunft gesehen – und müssen uns das Gesamtkonzept jetzt nur noch schützen lassen.

Hat das Patentamt eigentlich freitags geöffnet?

10 Februar 2011

Bleibt bitte weg!



Die Zeitschrift Merian mag die Reeperbahn nicht. Sie nennt sie „norddeutschen Ballermann“ und fordert Touristen auf, sie tunlichst zu meiden.

Dem kann ich nur beipflichten. Ja, tut das, Touristen: Meidet die Reeperbahn!

Die allwochenendlichen Pinneberger Partyprolls (Beispielfoto) dürfen sich diesen Rat ebenfalls gern zu Herzen nehmen. Auch ihr Herren Hooligans: Lest Merian! Und du, schwarzer Block: Willst du nicht lieber Pöseldorf kurz und klein hauen als den Kiez?

Ja, ihr Lieben, hört auf Merian, bleibt weg. Und wenn ihr schon da seid, dann geht weiter.

Denn hier gibt es nichts zu sehen.


08 Februar 2011

Der rätselhafte Sticker



Hier auf dem Kiez nimmt man oftmals die Eigenschaften jener an, deren Pendant man eigentlich zu sein glaubt.

Neulich in der Haspafiliale an der Reeperbahn zum Beispiel sollte ich etwas unterschreiben. Der Haspamitarbeiter machte mich mit den Worten „Das müssen Sie noch unterschreiben“ auf diesen Umstand aufmerksam.

Ich schaute etwas ratlos auf das Dokument. „Wo denn?“, fragte ich. Und der Haspamann mit seinem Anzug, seiner Krawatte und der sorgfältigen Scheitelakkuratesse auf dem Schädel antwortete nur mühsam beherrscht: „Wo man halt unterschreibt.“

Da sieht man mal, wie die raue Herzlichkeit unseres Viertels auch vor traditionell förmlichen Bankangestellten nicht Halt macht. Nein, sie sickert Tröpfchen für Tröpfchen auch in die Herzen jener ein, die sich eigentlich in einer anderen Sphäre wähnen.

Manche betreiben die Mimikry möglicherweise auch ganz bewusst – wie jener Anonymus, der den oben abgebildeten Aufkleber an die Fassade eines Hauses klebte, das einst, in den 80ern, zu den hart umkämpften besetzten Häusern der Hafenstraße gehörte.

Damals riefen Besetzer und Sympathisanten der Polizei den Schlachtruf „Hafenstraße bleibt!“ entgegen. (Sie hatten übrigens Recht: Die Hafenstraße ist noch immer genau an der gleichen Stelle wie damals.) Und heute parodiert jemand mit sticheliger Häme diesen Klassiker, indem er ihn zu „Hafen city bleibt!“ verballhornt.

Bei der HafenCity (übrigens nur echt mit Binnenmajuskel!) handelt es sich, wie man in – sagen wir – Kornwestheim vielleicht nicht ganz so genau weiß, um die größte Baustelle Europas. Dort entstehen überwiegend Luxusbüros und -wohnungen für Menschen, die auch mal 10.000 Euro pro Quadratmeter auf den Tisch legen können, um vor Gästen mit einem unverbaubaren Wasserblick prunken zu können.

Dieses Megaprojekt nun per Sticker mit den damaligen Bruchbuden der Hafenstraße in Verbindung zu bringen, hat durchaus einen gewissen Pfiff. Aber wer steckt dahinter? Eine klandestine Yuppiebruderschaft, die sich nun beömmelt über ihre zynische Persiflage des linken Aktivistenjargons? Oder die Hafenstraßenbewohner selbst, die uns damit die Absurdität eines künstlich geschaffenen Luxusrefugiums mitten im Hafen vor Augen führen wollen?

Beides ist denkbar, beides möglich. Der Sticker jedenfalls wird bislang toleriert unter all den sich harmonisch in den Sound der Hafenstraße einfügenden Konkurrenzslogans. Das spricht eigentlich dafür, dass ihn doch jene erfunden haben, die so tun wollen, als seien sie die anderen, die jene persiflieren.

Vielleicht ist es aber auch genau andersrum.

07 Februar 2011

Das große dunkle Loch im Nachmittag



Wenn so ein Derby ausfällt wie gerade das in der Wie-auch-immer-Arena an der Müllverbrennungsanlage, dann fühlt man sich um wesentliche Gefühle betrogen. Um die Vorfreude, das Entgegenfiebern, das Kribbeln. Um die Angstlust in der Magengegend.

Zwischen 15:30 und 17:15 Uhr klaffte jedenfalls ein großes dunkles Loch im Nachmittag, derweil draußen Hamburg weiterhin im Regen ertrank, wie seit Tagen schon.

Nur kurz war ich daher morgens draußen gewesen zum Brötchen- und Zeitungsholen und fand dabei Gelegenheit, die Überreste des gestern von HSV-Hools zerlegten Streifenwagens zu fotografieren.

Auch unsere gläserne Haustür hatte trotz ihrer generellen Passivität den Zorn dieser Menschen erregt und wies nun strahlenkranzförmige Splitterspuren von beeindruckender Länge auf.

Eine gläserne Haustür auf St. Pauli: Das ist aber auch wirklich eine tolle Idee.



06 Februar 2011

Neuigkeiten aus dem Szeneviertel


00:40 Uhr. Unten an der Postfiliale hat eine große Gruppe „Hooligans!“-brüllender Hooligans einen geparkten Streifenwagen entdeckt. Das bekommt dem Ärmsten nicht gut.

Sie ziehen ihm alles mögliche über, darunter jene Sperrgitter, die erst vorgestern vom schwarzen Block als Barrikaden missbraucht wurden.

Dann zünden sie Feuerwerkskörper. Immerhin illuminieren sie so mein bis dahin arg dusteres Video. Vielleicht tun sie das aber auch, weil das eigentlich für heute Nachmittag angesetzte Derby zwischen HSV und dem FC St. Pauli kurzfristig abgesagt wurde und sie enttäuscht darüber sind, die Feuerwerkskörper nicht im Stadion hochjagen zu können.

Die Seilerstraße füllt sich jedenfalls rasend schnell mit Rauch. Dann kommt die Kavallerie mit Blaulicht und Getöse, die Hools verflüchtigen sich wie böse Geister in die Detlev-Bremer-Straße, die Streife jagt hinterher.

Übrigens begründet unsere Hausverwaltung die neuesten Mieterhöhungen damit, St. Pauli sei ja inzwischen ein Szeneviertel geworden.

Arschlecken.


05 Februar 2011

Wo der Kiez im Kitsch ersäuft



Für einen Sänger wie Nathaniel Rateliff ist die Prinzenbar um die Ecke des Spielbudenplatzes ein Traumort der Widersprüche.

Ein kleiner Raum, der mit großem, komplett unpassendem und natürlich nicht ernstgemeintem Kitsch prunkt.

Ein Folksänger zwischen Stuckengeln. Americana in der Ästhetik des Feudalen. Hier passt nichts zusammen – und deshalb ist alles perfekt.

Zumindest wenn man von diesem Besoffenen absieht, der sich mit dem Ellenbogen auf meiner Schulter abstützt, als ich an der Theke ein Bier bestelle, und – als ich mich vorwurfsvoll schauend umdrehe – grinsend „Oh, schulligung!“ lallt.

Neulich bei Aldi gab es übrigens Spalthämmer im Sonderangebot.
Fällt mir nur gerade ein.


04 Februar 2011

In den Fängen einer Brillenschlange

Auf der Post. Ich möchte eine alte (und doppelte) Neil-Young-Langspielplatte verschicken, und zwar als Warensendung für 1,65 Euro.

Die Postbedienstete wiegt erst mal nach und dann bedauernd den Kopf: „Hm, 525 Gramm. Das sind leider 25 zu viel für eine Warensendung“, sagt sie. Die Alternative ist furchterregend: eine Verschickung als Päckchen für die utopische Summe von 4,10 Euro.

„Das ist ja nicht mal versichert“, maule ich. Die Frau nickt mitfühlend. „Sie wollen mich wieder mal in die Arme von Hermes treiben, nicht wahr?“, unterstelle ich ihr einfach mal betriebsschädigendes Verhalten.

Das will sie allerdings nicht auf sich sitzen lassen. Ihre Stimme wird ziemlich leise, und sie beugt sich leicht über den Tresen. „Wir können es“, raunt sie, „trotz der 25 Gramm zu viel als Warensendung frankieren. Aber wenn irgendjemand nachwiegt, dann kommt es zurück.“

Ich begreife sofort die Raffinesse ihres Vorschlags. Dabei handelt es sich um eine Art Wette. Da ich ein natural born Zocker bin, schlage ich ein.

Die Rahmendaten sind demnach folgende: Mein Einsatz beträgt 1,65 Euro, und wenn es klappt, gewinne ich die Differenz zum Päckchen, das sind immerhin 2,45 Euro, wenn auch nur virtuell, denn natürlich zahlt mir den Betrag niemand aus.

Geht es indes schief, und die Platte kommt zurück, ist der Einsatz von 1,65 Euro einfach so verloren, und ich muss die Neil-Young-LP erneut versenden, diesmal zum utopischen Preis – aber dann natürlich mithilfe von Hermes, da ist das Ganze für 4 Euro wenigstens versichert.

Erst als ich die Post schon wieder verlassen habe, dämmert mir plötzlich, dass die Postbedienstete das alles schon mitbedacht haben muss, als sie mir die Wette vorschlug.

Denn statt mich einfach so zu Hermes davonziehen zu lassen, machte sie mir spontan diesen kleinen konspirativen Betrug schmackhaft. So hat sie für die Post wenigstens sicher 1,65 eingenommen, anstatt gar nichts.

Jetzt fühle ich mich ein wenig übers Ohr gehauen, komme aber nicht umhin, dieser raffinierten Brillenschlange Respekt zu zollen.

Ich wette übrigens, dass niemand nachwiegt und die LP einfach so zugestellt wird.

Wer hält dagegen?

03 Februar 2011

Die Kiezpolizei räumt auf



Draußen herrscht ungewöhnlicher Krach. Ein Schaben und Klirren, ein Rutschen und Reißen, ein Donnern und (metallisches) Kreischen.

Alles dabei, nur keine Stimmen. Alles passiert stumm. Also heißt es mal wieder nachschauen.

Vom Balkon aus sieht man, wie etwa ein Dutzend schwarzvermummter Gestalten in höchster Eile die dank eines Gentrifizierungsneubaus überall herumstehenden Baustellenabsperrungen mitten auf die Straße zerrt und sich dann im Laufschritt Richtung Osten dünn macht.

En passant nimmt einer der Herren die von mir gerade erst am Straßenrand drapierten beiden gelben Säcke und wirft sie auf die Fahrbahn. Im Hintergrund dazu der Sound der Stadt: Polizeisirenen.

Die Seilerstraße ist also jetzt vollgesperrt, augenblicklich kehrt paradiesische Ruhe ein (wenn man vom Hintergrundsound absieht, aber der ist ja quasi immer da, nur gerade ein bisschen intensiver, aufgeregter, vielstimmiger).

Nach ein paar genussvoll ausgekosteten Minuten der kompletten Autolosigkeit keimt gleichwohl das Bedürfnis, etwas gegen diesen Zustand dort unten tun zu müssen. Es scheint mir allmählich sehr opportun, kräftige junge Männer in der Blüte ihrer Jahre herbeizurufen, welche die Hindernisse wieder wegräumen.

Denn Straßensperren widersprechen einfach meiner Auffassung von Bewegungsfreiheit. Ausnahmen brauchen meines Erachtens schon sehr gute Argumente; die Ägypter haben zum Beispiel gerade welche. Wie auch immer: ein Anruf bei der Davidwache bringt einen Herrn Friese an den Apparat, der atemlos wirkt, obwohl er doch nur Telefondienst hat.

Ich schildere ihm die Fakten. Seilerstraße, schwarzvermummte Gestalten, eigenmächtige Vollsperrung. Herr Friese bedankt sich seufzend, und nur wenige Minuten später tauchen sie auf, die kräftigen jungen Männer in der Blüte ihrer Jahre.

In meinem kleinen Film sehen wir, wie sie dem Aufräumen der Seilerstraße mit jener stillen Verachtung nachgehen, die man nur Tätigkeiten entgegenbringt, für die man sich überqualifiziert fühlt.

Das tun sie unter ähnlicher Krachentwicklung wie ihre Pendants, die Schwarzvermummten, und auch ähnlich wortlos. Wenn man es genau nimmt, gäbe es von hier oben kaum Unterscheidungskriterien, nur die Helme, die im Licht der Straßenlampen gelblich glänzen.

Meine Sympathien jedenfalls sind klar verteilt. Sie können einfach keinen Menschen gehören, die meine gelben Säcke auf die Straße werfen.

02 Februar 2011

Leider ohne Akü

Es gibt einige türkische Ramschläden rund um die Reeperbahn. Sie sind auf dem ganzen Kiez weltberühmt. Man betritt sie mit einem Gefühlsmix aus Faszination und Grusel. Hier gibt es definitiv ALLES, sofern es nur drei Kriterien erfüllt: Es muss komplett geschmacklos sein, saubillig und von erschütternder Qualität.

Zu türkischem Dudelradio begegnen wir blinkenden Madonnen, Handyschalen aus den frühen Neunzigern, Plastikbesteck, Porzellanschäferhunden in Lebensgröße oder Taschenradios, die von dreijährigen Taiwanesen zusammengetackert wurden, und zwar in wochenlangen 24-Stunden-Schichten.

Mit einem Gefühlsmix aus Faszination und Grusel betrat ich daher – von der zusätzlichen Verlockung eines „Wir ziehen um“-Schildes wie magisch hineingezogen – den türkischen Ramschladen am Ende der Reeperbahn, kurz hinterm Beatles-Platz.

Hier vermochte ich heimlich für die Welt jenseits des Kiezes zu dokumentieren, was sie mir ohne diese Fotos nicht glauben würde. Es folgt eine kleine Galerie des Schreckens.



In Läden wie diesen – und in diesem ganz besonders – hat die legendäre Compact Cassette ihre traurige letzte Zuflucht gefunden. In vielhundertfacher Anzahl dämmert sie in schlichten Drahtverhauen ihrer endgültigen Entmagnetisierung entgegen. Natürlich dominiert dabei der 0815-Türkpop, doch unfasslicherweise steht auch Michael Holm dazwischen. Michael Holm! Das zeigt, seit wann das Sortiment nur noch ergänzt, aber nicht mehr komplett ausgetauscht wurde. Schätzung: 1978.



Dieses Spielzeugauto hat die Größe eines Kinderwagens – aber leider keinen Akü mehr. Pech. Dafür aber büllüg.



Türkische Ramschläden vermögen oftmals mit kühnen Drapierungsideen zu verblüffen. Dieses Arrangement aus Billig-DVD-Spieler, Plastikschaufel und Kartonmüll ist dafür ein guter Beleg.



Wenn sich für letztklassiges Sortiment partout kein Käufer mehr finden will, dann zuckt der Ladeninhaber halt lässig mit den Schultern und verschenkt den ganzen Schamott en bloc. Zum Beispiel diese „Battari“-Schachteln. Ich habe mir die Packungen mal angeschaut. Aus den meisten Batterien war schon Säure ausgeapert und an den Rändern wieder weißlich kondensiert. Herstellungsjahr wohl noch in diesem Jahrtausend, trotzdem eindeutig Sondermüll.



Regale? „Was das?“, lacht da der Verramscher von Welt herzlich auf. Ein paar grobe Holzpaletten auf den Boden gepfeffert, dann mit dem Gabelstapler hundert Rucksäcke und Polyestertaschen draufgekippt: fertig ist die Abteilung für Sport- und Outdoorausrüstung. Hier könnte selbst Aldi noch was lernen.



Zum Abschluss noch ein erhellender Panoramablick. Wir sehen Ständer mit Klamotten, die wahrscheinlich bei kik aus Qualitätsgründen aussortiert wurden. Und wir sehen einen historischen Röhrenfernseher, der sehr gut dadurch zur Geltung kommt, dass er liebevoll kopfüber in einen Einkaufswagen gewuchtet wurde.

Wäre ich nicht schon dagewesen, ich ginge schnell noch mal hin.
Ehe es zu spät ist.

01 Februar 2011

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (44)



Also bitte, ja: Ich kann ja auch nichts dafür, dass der Hafen sich ausgerechnet nach Südwesten erstreckt und die Sonne deshalb abends oft aufs Postkartigste die Kräne illuminiert.

Ein Schlaumeier könnte mir natürlich jetzt entgegenhalten, ich müsse ein solch abgeschmacktes Schauspiel ja nicht auch noch fotografieren, doch da bin ich anderer Meinung.

Denn hier in diesem Blog wird die Wahrheit dokumentiert und nichts als die Wahrheit, selbst (und gerade) wenn sie so aussieht wie auf diesem Foto.

Wollte ich nur mal gesagt haben.