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21 August 2012
Der Schrank des Schreckens
Neulich im überfüllten ICE. Wir sitzen im Gang auf dem Boden, gemeinsam mit einer Polizistin, die einen Roman liest, wahrscheinlich von Stieg Larsson.
Plötzlich, in einer Kurve, schwingt der verglaste Schrank mit den Werbedisplays auf und donnert volley gegen die Klotür. Hätte gerade jemand das Örtchen verlassen wollen, läge er jetzt mit Schädelbasisbruch unter der Vakuumschüssel.
Ich versuche den wieder zurückschwingenden Schrank – übrigens ein circa zentnerschwerer Trumm – wieder zuzudrücken, doch nirgends rastet etwas ein. Bei der nächsten Kurve schwingt er wieder auf und gefährdet Menschenleben.
Ich kämpfe mich durch den Zug und erkläre drei Wagen weiter einer Schaffnerin das Problem. „Isch kümmär misch“, sagt sie ohne hochzuschauen, ihr Akzent ist frankophil, der ICE kommt ja auch aus der Schweiz. Wieder zurück stelle ich mich an den Schrank, damit er nicht aufschwingt. Nach einer Viertelstunde wechsle ich mich mit der Polizistin ab, die im Stehen weiterliest.
Vom Zugpersonal lässt sich niemand blicken. Eine halbe Stunde nach der Erstmeldung kämpfe ich mich erneut durch den Zug, um zu erfahren, was denn jetzt Sache sei in Sachen Kundenleben retten. Im Zugbegleiterabteil finde ich alle Bediensteten in trauter Runde, auch die Frankophone.
Wo sie denn bliebe, frage ich ob der lässigen Herumlungerei mit unverhohlener Erregung. „Isch bin seit Basäl an Bord“, sagt sie müde aufschauend, „isch ’abe auch nur swei Füßö!“
Das regt mich noch mehr auf, ich zetere herum, schimpfe, blöke, aber alle schauen mich nur mit halb heruntergelassenen Jalousienlidern derart öde an, als wäre ich ein Film mit Adam Sandler.
Ich dampfe zornschnaubend ab, die Polizistin lächelt bei meiner Rückkehr weise ob meiner Schilderung. Eine weitere Viertelstunde später kommt endlich ein Offizieller und erschrickt beim Anblick der Polizistin. Wahrscheinlich denkt er, sie sei inzwischen alarmiert worden und sichere den Tatort. Mit grimmigem Vergnügen lasse ich ihn in dem Glauben.
Eilfertig untersucht er den Displayschrank. „Völlisch richtisch, was Se sache“, wendet er sich dann beifallheischend an mich, während er mit einem Auge die Polizistin im Blick behält, „ä Sichäheidsrisigo. Mer müsse de Waache ewwaguiere.“
Meint er „evakuieren“? Haben Sie das auch gehört? Erst eine Stunde lang unbeeindruckt die eigene Kundschaft der Gefahr, nach dem Toilettengang zügig erschlagen zu werden, anheimstellen, und dann auf einmal ewaguiere wollen?? Eine unkalkulierbare Verspätung in Kauf nehmen? Auf Spiegel online landen? Nein, nein, so haben wir nicht gewettet, ICE-Begleiter!
Haben wir auch nicht, denn mit einem Schraubendreher schafft der Mann es doch, den Schrank des Schreckens irgendwie zu fixieren. Er evakuiert nicht, und es gibt auch keine Toten. Wir sitzen wieder im Gang, außer Gefahr.
Die Polizistin schaut mich an und lächelt mit jenem spöttischen Fatalismus, den jeder regelmäßige Bahnnutzer im Lauf der Zeit mimisch virtuos zu beherrschen lernt. „Er hätte uns ja wenigstens“, sagt sie, „ein Freigetränk spendieren können.“
Aber man darf nicht zu viel verlangen. Immerhin haben wir überlebt.
19 August 2012
Blau gemacht
16 August 2012
Eine Frage von Leben und Tod
Heute morgen plötzlich saß dieses Insekt an der Badezimmerdecke. Die Decke ist ziemlich hoch, da kommt man ohne Leiter nicht ran. Es sei denn, man stellte sich auf den Badewannenrand, aber einen Oberschenkelhalsbruch riskieren wegen eines Insekts?
Entscheidend ist eh, um was genau es sich handelt. Ist es eine Motte oder ein Schmetterling? Diese Frage entscheidet über Leben und Tod.
Wir beschlossen, erst einmal abzuwarten. Das Tier sollte selbst über sein Schicksal entscheiden – egal, ob es nun Motte war oder Schmetterling. Also öffneten wir morgens, bevor wir die Wohnung verließen, das Badezimmerfenster sperrangelweit. Eine Option. Eine Chance.
Als wir abends zurückkamen, saß das Insekt noch immer an der exakt gleichen Stelle. Ein Beharrungsvermögen, das mir Respekt abnötigt. Langweilt es sich nicht, so ohne In- und Output? Hat es nichts zu tun? Keine Verpflichtungen? Was sagt die Familie dazu? Hat sie schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben?
Fragen, auf die das Insekt keine Antwort wusste. Oder jedenfalls keine gab. Ms. Columbo richtete einen Fön auf das Tier. Seine Flügel flatterten im heißen Luftstrom, doch bewegte es sich keinen Millimeter. Es blieb sitzen, wie angewurzelt.
Abends verließen wir das Haus. Vorher hatten wir erneut das Badezimmerfenster offengelassen. Als wir nach Hause kamen, saß der geflügelte Stoiker noch immer an der gleichen Stelle. Muss er denn nicht fressen? Und wenn ja, was – meine bügelfreien Oberhemden?
Dieses da an der Decke sitzende Tier verändert das Klima in der Wohnung. Wir fühlen uns wenn nicht bedroht, so doch stumm belagert. Dabei tut es nichts, gar nichts. Es sitzt nur da, als hätte es alle Zeit der Welt. Als lauerte es auf seine Chance.
Sicherlich weiß es nicht, dass ich eine Waffe in der Hinterhand habe, bei der ihm auch die Deckenhöhe nichts mehr nützte: einen Staubsauger. Aber ich würde natürlich nur eine Motte dieser letalen Behandlung unterziehen, keinen Schmetterling.
Ist vielleicht ein Zoologe anwesend? Das wäre super. Bis zur gerichtsfesten Identifikation der Spezies belassen wir es erst mal weiter bei einem sperrangelweit offenen Badezimmerfenster.
Der Staubsauger scharrt allerdings schon mit den Hufen. Nur dass Sie’s wissen.
14 August 2012
Lattentreffer
Nach der Schreibtischfron begab sich abends eine Truppe fideler Gesellen gen Adolf-Jäger-Kampfbahn (welch ein Name!), um ebenda dem Vorbereitungsspiel des HSV bei den Amateuren von Altona 93 beizuwohnen.
Was als gepflegtes Beiprogramm eines linden Sommerabends geplant war, wurde phasenweise schier historisch. Der Fünftligist nämlich führte nach nur 19 Minuten 2:0 und zur Halbzeit noch immer 2:1 – ein Zwischenstand, den spontan auf ein Trikot zu drucken wohl jeder FC-St.-Pauli-Fan im Stadion kurz erwog.
Zu Beginn der zweiten Hälfte traf Son die Latte, kurz darauf rannte ein blitzeblanker Flitzer übern Platz. „Umgekehrt“, sagte Ms. Columbo, als ich ihr davon erzählte, „wäre es interessanter gewesen.“
Ich wusste sofort, was sie meinte.
12 August 2012
Albern an der Trave
Am Strand von Travemünde sah es heute wirklich prachtvoll aus. Den für diese Jahreszeit erheblich zu kühlen Wind in ostseeunüblicher Stärke, der uns ungemein zusetzte, sieht man auf diesem Foto freilich nicht.
Wir versuchten ihm mit Fußballspielen im Sand, Frisbee im Wasser und erheblichem Rotweinkonsum auf den nur mühsam zu bändigenden Sitzdecken zu trotzen, doch er war letztlich stärker. Morgen werden wir wahrscheinlich alle in jenem niesintensiven Zustand sein, in dem der arme Einheitskanzler bereits anreiste.
Dem Franken flog ein Insekt mit Tigerstreifen in den 2009er Saint Chinian, was eine gute Gelegenheit bot, den bereits getwitterten Kalauer von der „schusssicheren Wespe“ auch verbal noch einmal anzubrigen. Vorher hatte ich Ms. Columbo bereits erheitert mit diesem hier: „Kräuterdiplom bestanden – mit Basili cum laude“.
Wie man sieht, schafft es auch der schärfste Travemündener Wind nicht, uns die Albernheit aus den Hirnen zu blasen.
10 August 2012
Ein Wutbürger
Der Mittdreißiger, der drahtig und wirrhaarig durch die Seilerstraße (Foto) stampft, schreit, schimpft und brüllt vor sich hin. Dabei ist er ganz alleine. Nirgends ein konkreter Adressat für seine fäkalverbalen Wutkanonaden.
Wir stehen auf dem Balkon und schauen ihm sinnierend nach. „Wahrscheinlich Tourette“, vermute ich. „Ja“, sagt Ms. Columbo, „auch wegen der Bewegungen.“ „Tourette – oder einfach Kiez“, ergänze ich.
Kurz: Das Wochenende hat begonnen.
08 August 2012
Fundstücke (163)
1. Der am Holstenplatz entdeckte Volldeppenapostroph erfüllt bereits den Tatbestand der Selbstverstümmelung. Es sei denn, der Namensgeber des Restaurants hieße in der Tat „Alfon“. Dann will ich kaum was gesagt haben.
2. Als wir in Frankreich waren, habe ich sie schon ein bisschen vermisst, gloriose Mopo-Sätze wie diese: „Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul machte sie sich unsterblich, daran änderte auch ihre Beerdigung 1998 nichts.“ Oder der hier: „Sie könnte seine Enkelin sein, wenn sie ein Mensch wäre – oder er ein Pferd, je nachdem.“ Na ja, jetzt werden wir ja wieder versorgt mit solchen Meisterstücken, aber nur zweimal die Woche. Jede Dosis darüber hinaus könnte sich auf unser Artikulationsvermögen auswirken, und das wollen wir nicht riskieren.
3. Keine Ahnung, warum die Verbreitung dieses lobenswerten sanitären Einrichtungsgegenstandes rückläufig ist, denn der Bedarf scheint mir seit Jahren eher zu wachsen. Das Marburger Restaurant Zur Sonne jedenfalls widersteht dem Zeitgeist und lässt es trotzig drin: das altehrwürdige Kotzbecken.
2. An diesem Freud’schen Verschreiber auf immonet.de kann man gut erkennen, auf welch fruchtbaren Boden das Denken der Occupybewegung schon längst gefallen ist. Prognose: Die Reichensteuer kommt durch.
07 August 2012
Im Pokalfieber
Ein Abend mit (der gertenschlanken) Lena Meyer-Landrut, die uns ihr neues Album vorstellen will.
Sie hat den berühmten Pokal mitgebracht, den sie 2010 als Sensationssiegerin des Eurovision Song Contest in Oslo ergatterte. Ich kenne ihn aus dem Fernsehen. Jetzt allerdings steht er einsam auf der Fensterbank, und ich beginne mit der Kollegin D. Pläne zu schmieden, wie wir das Ding unauffällig außer Haus bugsieren könnten.
„Schließlich brauchen wir was fürs Alter“, begründet D. sehr nachvollziehbar, „das Ding können wir irgendwann auf Ebay versteigern.“ „Nein, bei Sotheby’s“, korrigiere ich. „Bringt mehr.“
Der Pokal ist ziemlich groß und außerdem schwer, wie ich nach einem Hebetest feststellen muss. Eindeutig massives Kristallglas. Und in D.s Handtasche passt er nicht rein.
In Frauenhandtaschen – winzigkleiner Exkurs – passt übrigens nie was rein, wahrscheinlich nicht mal ein Nanopartikel, den man zufällig auf der Straße gefunden haben könnte, sofern er groß genug wäre, dass man ihn ohne Mikroskop sähe. Ein ESC-Siegerpokal jedenfalls passt schon mal gar nicht in eine Frauenhandtasche.
Ich bin gänzlich ohne mobilen Stauraum da, erwäge aber findigerweise meine mitgebrachte Jacke zur Pokaleinwicklungsdecke umzuwidmen und D. zwecks Absicherung als bewegliche Camouflage zu benutzen.
Doch dann gibt es auch schon das Menü; wir ergeben uns augenblicklich willig der Befriedigung elementarer Bedürfnisse und verwerfen alle Pläne hinsichtlich unserer Altersversorgung.
Zum Nachtisch schneidet Lena auch noch Käsekuchen für uns, und so einer fürsorglichen jungen Frau kann man – auch wenn sie gertenschlank ist – unmöglich einen Kristallglaspokal stibitzen, das sieht auch die zunächst murrende D. ein.
Das Album kommt übrigens Mitte Oktober.
04 August 2012
Alles bleibt anders
St. Pauli hat uns wieder, und alles ist beim Alten.
Schubweise regnet es wie aus Hafencontainern, eine Reeperbahnpunkerin erleichtert sich zwischen parkenden Autos, und das neulich schon mal im gleichen Zusammenhang erwähnte Nachbarpärchen rammelt ab 5 Uhr morgens mit erstaunlicher Ausdauer sein quietschendes Bett zuschanden.
Eins aber ist doch anders: In der Postfiliale an der Ecke hat sich ausnahmsweise mal kein Mensch erbrochen, sondern ein Hund. So sieht es zumindest aus; vielleicht bewacht er aber auch nur Herrchens Eigentum.
Wie auch immer: Wir sind zurück, das wollte ich eigentlich nur sagen.
01 August 2012
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (75)
31 Juli 2012
Mal rein theoretisch
Auf einen Deutschen in Paris wirkt es durchaus befremdlich (aber auch irgendwie logisch), dass sich Stalingrad ausgerechnet mit einem Friedhof den Hinweispfosten teilen muss. Und seltsam ist es auch, während einer Metrofahrt in Stalingrad einzufahren.
Paris erinnert damit an die kriegswendende Schlacht von 1942, die eine der wichtigsten Ursachen dafür war, weshalb uns die Weltherrschaft der Nazis erspart geblieben ist. In Deutschland hingegen gibt es, soweit ich weiß, weder Platz noch Straße noch Haltestelle mit diesem Namen.
Habe übrigens ein Kaugummi ins Hafenbecken von Honfleur gespuckt und eins an der Pont Jeanne d’Arc in die Seine. So kontaminiere ich Frankreich punktuell mit DNS. Ein aus nicht näher zu erklärbaren Gründen befriedigendes Gefühl.
Apropos: Auch die Asche von Jeanne d'Arc wurde 1431 der Seine überantwortet. Wo befinden sich die Moleküle dieser Ascheteilchen wohl jetzt, in genau dieser Sekunde? Eine interdisziplinäre (also am besten geologisch-chemisch-physikalische) Theorie dazu würde ich sehr begrüßen. Am besten in den Kommentaren.
29 Juli 2012
Paris makaber
Im tropischen Paris muss man zweimal täglich duschen. Der kurze Regenguss, der zwischendurch wie Manna vom Himmel fiel, war viel zu warm, um der Luft die dumpfheiße Seifigkeit auszuwaschen.
Wir schleppten uns also schwerfällig über die Pflaster von Père Lachaise Richtung sechste Abteilung, um Jim Morrison den obligaten Besuch abzustatten. Ein Sperrgitter steht vor seinem Grab (Bildmitte), auf dessen Stein seine Eltern „καтὰ тὸν δαίμονα ἑαυτοῦ“ eingravieren ließen.
Wortwörtlich bedeutet das „Gemäß seinen Dämonen“; im übertragenen Sinne und etwas böswillig könnte man die Inschrift auch mit „Das hast du nun davon“ übersetzen. Vielleicht ein Generationskonflikt ad infinitum, wer weiß.
Auf den steinernen und einem gänzlich Unbeteiligten zugeordneten Gedenkbau davor haben Morrison-Fans ihre Liebeserklärungen gekritzelt, die selten über einzelne Songfetzen („When the music’s over/turn out the light“) oder Tiefsinniges wie „Jiiiiiiiiiiiiiiiiiimmy“ hinausreichen. Als Morrisons ewiger Nachbar würde ich mich bedanken, echt.
Danach ab in die Avenue Montaigne Nummer 12, wo Marlene Dietrich die letzten Jahre ihres Lebens im vierten Stock im Bett lag. Ein überraschend schmuckloses Haus in einer Straße, die in den Erdgeschossen praktisch ausschließlich Modeedelmarken beherbergt, darunter viele Stammhäuser, von denen aus dann Chanel, Dior, Armani etc. die Welt eroberten. Marlene verdämmerte übrigens direkt über Prada.
Da wir in Rouen bereits den Platz aufgesucht hatten, wo Jeanne d’Arc verbrannt wurde, und in Paris den Ort, an dem Marie Antoinette ihren Kopf verlor, kristallisiert sich allmählich ein etwas morbides Motto dieser Reise heraus, was durch meine Lektüre („Rosemarys Baby“, Ira Levin) nicht gerade konterkariert wird.
Eine Grundstimmung, die auch morgen dokumentiert werden wird, das kündige ich schon mal an.
27 Juli 2012
Leine los
Durch die Fußgängerzone von Rouen schlurft ein älterer Herr, der eine Hundeleine hinter sich herzieht. Doch es hängt kein Hund dran. Die Leine hoppelt einfach nutzlos übers Pflaster.
Ein merkwürdiger Anblick, der nur wenige Meter weiter mit einem noch merkwürdigeren Anblick zu korrespondieren scheint. Am Straßenrand nämlich liegt ein leinenloser schlafender Hund – und an ihn kuschelt sich schutzsuchend ein Kaninchen.
Die spinnen, die Gallier.
26 Juli 2012
Cold turkey
In den Shops französischer Autobahnraststätten vergeht einem Hören und Sehen. Für eine 400-Gramm-Tafel Toblerone Gold ruft man dort 15,85 Euro auf, das ergibt einen Kilopreis, der doppelt so hoch liegt wie der von norwegischem Lachs.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Sonderanfertigung für französische Raststätten, welche die Sortenbezeichnung „Gold“ wortwörtlich meint und nicht nur als Metapher für beigefügten Honig.
Ich nahm jedenfalls Abstand, auch vom ersatzweisen Erwerb einer „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ für 2,80. Dann lieber darben – und abends im entzückenden normannischen Küstenstädtchen Honfleur zum Trost einen Cidre ordern.
Mit unserer Ankunft dort hatten sich alle Wolken nach Norden verzogen, was einen weiteren Beleg liefert für die Belastbarkeit einer alten These von mir: Wo wir hinfahren, juchzt die Sonne vor Freude, und sei es Herbst in Helsinki.
Mit der Ankunft in Honfleur brach übrigens die erste internetlose Phase seit Jahren an. Ein Schock. Und dennoch: „Du zitterst gar nicht“, konstatierte Ms. Columbo nach eingehender Untersuchung meines Gesamtzustandes. Die Stille unzugänglicher WLANs: ein Gefühl wie in den 80er Jahren.
Auf dem Flussschiff, das uns majestätisch uneilig gen Paris schaukelt, ist das ebenso. Mal schauen, wie lange ich das Zittern unter Kontrolle halten kann.
PS: Sollten Sie sich mal in Honfleur aufhalten und die Welt verfluchen, weil Sie vom Internet abgeschnitten sind, so suchen Sie doch den Place Hamelin in der Altstadt auf. Dort hat ein freundlicher Naivling sein Livebox-WLAN nicht verschlüsselt. Mehr sage ich nicht, compris?
19 Juli 2012
Es bediente uns Herr Kuss
Wir – also die Menschen – schafften es bis auf den Mond und können sogar das Higgs-Boson-Teilchen nachweisen, vermögen es aber nicht zu verhindern, dass Zugtoiletten ausfallen, wenn wir ein Papiertaschentuch hineinwerfen – hallo …?
Immer, wenn ich die Toiletten der Bahn mit meiner Anwesenheit behellige, stellt sich mir zwangsläufig diese Frage. Seit Jahrzehnten schon, deshalb hätte ich gern endlich eine Antwort.
Sie kam zwar auch heute nicht, doch dafür stimmte mich die Rechnung im Speisewagen versöhnlich, trotz ihrer unverhältnismäßigen Höhe. Drauf stand nämlich: „Es bediente Sie: Herr Kuss“. Leider weckte dieser Satz auch unschöne Erinnerungen an vergangene Nacht.
Gegen halb 3 Uhr früh nämlich weckte uns ein rhythmisches Geräusch aus einer Nachbarwohnung. Zunächst dachte ich, jemand übte Seilspringen, doch die Gesamtkonzeption der Geräusche, das Juckeln und Quietschen und die Beifügung weiblicher Ächzlaute legten eher eine Betätigung nahe, wie sie im Film „Delicatessen“ (s. Video) auf sehr vergleichbare Weise hörbar gemacht wurde.
Das beruhigte mich. Denn in dieser Intensität wäre Seilspringen erheblich länger durchzuhalten als die „Delicatessen“-Variante. Und so kam es dann auch. Wham, bam, thank you, Ma’am.
Inzwischen sind wir in Saarbrücken gelandet, um morgen nach Frankreich weiterzureisen. Auf meinen Tweet „Was kann man eigentlich in Saarbrücken so unternehmen?“ erntete ich trotz einer erklecklichen Followerzahl nur Schweigen. „Beredtes Schweigen“, korrigierte mich Ms. Columbo.
Dann also gute Nacht, jetzt schon.
17 Juli 2012
15 Juli 2012
Kloschnorren in der Hafencity
Kurz nach Besichtigung der Queen Mary 2 am Kreuzfahrtterminal beschlich mich ein Bedürfnis, welches man in Hamburg außerhalb der eigenen Wohnung normalerweise nur auf völlig indiskutable Weise oder kostenpflichtig befriedigen kann – etwa indem man sich in einem Café durchs Bestellen eines Espressos teuer das Recht erkauft, die entsprechende Örtlichkeit aufsuchen zu dürfen.
Doch die gewitzte Ms. Columbo bewies besondere Ortskenntnisse: „Wir können zur Campus Suite gehen“, schlug sie vor, „dort ist das Klo gleich hinterm Eingang rechts.“
Und genauso verhält es sich auch. Das Bedienpersonal dieses bistroähnlichen Ladens hat – zumal wenn die Hafencity dank der Queen Mary 2 so heillos übervölkert ist wie heute – dank der kloschnorrerfreundlichen Architektur kaum eine Chance, dich beim Betreten zu erspähen und sodann zu einer Bestellung zu nötigen.
Betrachten Sie diesen Beitrag also als Insidertipp. Aber er muss unter uns bleiben, das müssen Sie mir versprechen.
14 Juli 2012
Zum Jubeln
Eine heldenhafte Kiez-Task-Force hat doch wahrhaftig ihre im Blog hinterlassene Ankündigung wahrgemacht und den traurigen Dino befreit.
Es geht ihm wohl den Umständen entsprechend gut, wie das mir konspirativ zugänglich gemachte Foto zu beweisen scheint. Ob der Laden, der den Dino bisher in Plastikfoliengeiselhaft gehalten hatte, dabei ernsthaften Schaden nahm, werde ich mir jetzt gleich mal anschauen.
Jedenfalls danke, Männer!
13 Juli 2012
Gebenedeit
Man mag es kaum glauben angesichts dieses sogenannten Sommers, doch dieses Foto der tanzenden Türme von St. Pauli habe ich – auf Ehr und Gewissen – gestern (in Worten: WIRKLICH UND WAHRHAFTIG GESTERN) auf dem Spielbudenplatz aufgenommen.
Rechts hinter den roten Begrenzungen liegt die Kneipe Herz von St. Pauli, und dort saß währenddessen die Jeunesse dorée Hamburgs – also German Psycho, Frau Cooper, Griesgrämer sowie der Franke – und erwartete mich auf ein Bier. Oder drei.
Manchmal glaube ich wirklich, ich bin gebenedeit unter den Menschen.
12 Juli 2012
Zum Heulen
Der türkische Ramschladen am Ende der Reeperbahn, der nach eigenen Angaben schon im Februar 2011 umziehen wollte, ist immer noch hier.
Ob dies ein Glück oder Unglück ist, mögen andere beurteilen, doch wäre er nicht mehr da, hätte ich gestern in seinem Schaufenster nicht diesen herzzereißenden Stoffdino in Plastikfolie entdecken können.
Zweifellos handelt es sich dabei um den traurigsten Anblick, der zurzeit auf dem Kiez zu sehen ist – zumindest so lange diese Frau dem Viertel fernbleibt.
11 Juli 2012
Nicht markant genug
Viel zu selten patrouilliere ich über den Kiez. Viel zu selten schreite ich jenes Revier ab, welches ich dank meiner fast siebenjährigen Bloggerei mit Fug und Recht als das meinige betrachten darf.
Ich erkenne es daran, dass die Koberer an der Reeperbahn mich immer noch nicht erkennen. Unverdrossen sprechen sie mich auf meinen Patrouillengängen an, als wäre ich ein x-beliebiger Tourist aus Pforzheim oder einem anderen Eckpunkt des – wie Cinema Noir es nennt – „Verdauungsdreiecks“ (Essen, Darmstadt, Pf.).
Das ist frustrierend. Soll ich ihnen etwa jedes Mal erklären, ich wohnte und lebte hier, und ihre Versuche, mich in Schummerkaschemmen beim 39-Euro-Sex mit 500-Euro-Sekt abzufüllen, seien daher unrealistisch?
Genauso geht es mir mit den Huren. Eigentlich sollten sie meinen markanten Schädel inzwischen kennen und den darin wohnenden störrischen Geist als unkoberbar klassifiziert haben, doch nein: Auch sie bestürmen mich wie jeden x-beliebigen Touristen aus Darmstadt oder einem anderen Eckpunkt des Verdauungsdreiecks.
So auch bei meinem heutigen Patrouillengang. Am Hans-Albers-Platz die erste ernsthafte Attacke. Ich erwehrte mich erstaunlich erfolgreich mit einem „Ich bin bestens versorgt, danke.“
So lange dieser Spruch funktioniert, kann ich den anderen in der Schublade lassen. Er wäre einfach zu böse, selbst für meine Verhältnisse.
„Mein Name ist Unterweger. Jack Unterweger.“
09 Juli 2012
Madonna bevorzugt
Geschäftlich in Marburg, ausgerechnet und zufällig während des Stadtfestes, dem in der aparten Unistadt unumstrittenen Höhepunkt des Jahres. Überall Stände, Buden, aufgeregte Menschen.
In der Oberstadt haben Initiativen und Parteien Infostände aufgebaut, auch Die Linke. Per Transparent fordert sie die Rettung des „Uniklinkums“, und man muss sich fragen, ob eine Partei, die nicht mal das Wort Klinikum richtig buchstabieren kann, in der Lage sein wird, es zu retten. Natürlich ist es kleinlich, das hier zu erwähnen, aber vielleicht auch nicht.
Beim Essen erzählte mir mein Gastgeber von einem befreundeten Sänger, der sich mal samt Gattin mit einem potenziellen Arbeitgeber im Restaurant traf und während einer kurzen Abwesenheit der Dame vom Chef in spe folgendes Angebot erhielt: „Wenn ich Ihre Frau mal pudern darf, dürfen Sie bei mir alles singen.“
Der Schlag, den der Freund meines Freundes im unmittelbaren Anschluss und ungeachtet der Auswirkungen auf seine Jobchancen über den Tisch schickte, knackte dem Lustmolch gepflegt den Unterkiefer. So verständlich diese Reaktion auch war, für die hübsche Metaphorisierung des Verbs „pudern“ hätte man den Mann auch durchaus vorher kurz belobigen können, was hiermit nun als nachgeholt gelten soll.
Als ich mich abends ins Getümmel des Stadtfestes stürzen will, bleibe ich im Steinweg an den Filmplakaten kleben und beschließe spontan, mir statt feiernder Marburger den von Madonna gedrehten Film „W.E.“ anzuschauen, der in dieser Minute anfängt.
Beim Kauf der Karte grinst die Kassiererin komisch, das Gleiche tut auch die Kartenabreißerin. Der Grund: Keiner außer mir will diesen Film sehen, alle bevorzugen das Stadtfest, den unumstrittenen Höhepunkt des Jahres.
Mir aber führt man privat und exklusiv „W.E.“ vor, und ich fühle mich zwei Stunden lang wie einst Michael Jackson, der hatte ja auch ein Privatkino. Allerdings lief bei Jacko daheim vor der Vorstellung wahrscheinlich kein Werbespot der Glastanzdiele Hermershausen.
Vor „W.E. übrigens auch nicht. Aber früher, als ich noch in Marburg wohnte, lief der immer. Ach, selige Studentenzeiten!
04 Juli 2012
Reiher in Gefahr
Nennen Sie mich ruhig pareidolid, aber mal ehrlich: Erinnert der Baumstamm, auf dem dieser Reiher so apart die Flügel spreizt, nicht fatal (ja geradezu letal) an ein Krokodil? Ich finde schon.
Gleichwohl rubriziere ich diesen Beitrag nicht unter der wahnsinnig beliebten Pareidolierubrik, weil das eherne Prinzip, nur Menschengesichter in Zufallsmustern zu entdecken, nicht von einer simplen Echse außer Kraft gesetzt werden sollte.
Ob der Reiher das alles überlebt hat, weiß übrigens nur der Gärtner von Planten un Blomen.
02 Juli 2012
Die Traubennascherin
Weil ich keinen kleinen Schein hatte, um bei Ms. Columbo zehn Euro Schulden zu begleichen, schleppte ich sie zu Penny. Das ist der einzige Laden auf dem Kiez, der abends nach acht noch geöffnet hat – außer dem Notladen in der Davidstraße, dessen obszöne Geschäftszeiten sich allerdings auch adäquat in den Produktpreisen niederschlagen.
„Komm, wir gehen zu Penny, ich kaufe irgendwas Nützliches“, hatte ich ihr vorgeschlagen, „und vom Wechselgeld bezahle ich dann meine Schulden.“ Ein gewiefter Plan, und so schlenderten wir in linder Abendluft über die Reeperbahn zum Pennymarkt, der seit einem Umbau von vor einigen Monaten an Preis- wie Kundenniveau zugelegt hat, wobei das eine das andere wohl bedingt.
Am Obststand sahen wir eine junge schöne Schwarze in gepunkteten Leggings, die sich sorgsam umschaute und immer, wenn sie keinen Detektiv erspähte, in die offenen Traubentüten griff und naschte.
Unterhalb eines gewissen und noch zu definierenden Grundeinkommens sollte es meines Erachtens jedem gestattet sein, sich an offenen Obst- oder Gemüsepackungen zu laben, und anscheinend geht der deutsche Einzelhandel bereits von diesem Gebaren aus, denn warum sonst werden z. B. Erdbeeren immer an der Kasse gewogen?
Mir war diese Tatsache gar nicht bekannt, aber Ms. Columbo klärte mich auf, während die Leggingsfrau sich mit wach umherschweifendem Blick die nächste Traube in den Mund schob.
Nachdem ich Lollo Rosso, Rauke, Tomaten und Forellenbirnen mit einem Fünfziger gezahlt hatte, hielt ich beim Rausgehen zwei Zwanziger in der Hand, und Ms. Columbo konnte nicht rausgeben.
Ich hasse es, Schulden zu haben. Aber was soll ich machen.
PS: Der oben scheinbar völlig zusammenhanglos abgebildete Mops lag zwar bei Edeka rum und nicht bei Penny, aber Einzelhandel ist Einzelhandel, Punkt.
30 Juni 2012
Pareidolie (47)
Unter den Blinden ist die einäugige iPhone-3GS-Handyhülle Königin.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
29 Juni 2012
27 Juni 2012
Ich wollte nur helfen
Gegen 22:15 Uhr Schreien und Weinen unten auf der Straße. Eine junge Frau lehnte krumm an einem Lieferwagen, als wäre sie verletzt. Leute gingen vorüber und kümmerten sich nicht. Samariter Matt war also gefragt.
Ich zog mich an, doch als ich runterkam, war sie bereits einige zehn Meter die Seilerstraße westwärts entlanggetaumelt. Man hörte aber immer noch gut, wo sie war. Ich holte sie vor der Musicalschule ein und fragte, ob ich helfen könne. Viel war nicht zu verstehen. Sie heulte Rotz und Wasser (keine Metapher) und lallte Wortfetzen wie „Herz gebrochen“, „belogen und betrogen“, „will sterben“.
Ihren Namen kriegte ich immerhin raus, nachdem ich mich zunächst selbst vorgestellt hatte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie hieß Anja (zumindest nenne ich sie hier so). Nachfragen nach Freunden oder Verwandten, die ich hätte anrufen können, blieben fruchtlos.
Auf meinen Vorschlag, mit ihr zu Davidwache zu gehen, reagierte sie wie Dracula auf den Anblick eines knoblauchumrankten Kruzifixes. Stattdessen zog sie mich schluchzend und schreiend Richtung Hamburger Berg (Foto), weil dort irgendwo ihre Sachen lägen. Ich stützte sie halbwegs, während sie immer wieder auf ihren zu langen Schal trat, und versuchte uns Richtung Bürgersteig zu dirigieren, doch sie bestand in ihrem Elend auf einer Schlangenlinieroute straßenmittig.
Vorm italienischen Restaurant Don Camillo & Peppone saß eine Gruppe Gäste, die rübergafften. Hätte ich an ihrer Stelle auch getan, denn auf sie wirkten wir bestimmt wie ein Lude mit seiner durchgeknallten Hure. „Was guckt ihr denn so blöde?“, schrie Anja. Dann griff sie so schnell, dass ich überhaupt nichts mehr machen konnte, nach einem metallenen Sektkübel, der auf einem unbesetzten Tisch stand, und schleuderte ihn mit der Treffsicherheit eines Dirk Nowitzki auf die Gruppe.
Der Kübel traf eine Frau, die sich im Aufspringen drehte, am Rücken; von seinem Inhalt hatten aber alle was. Entgeistert zog ich die weiter schreiende Anja am Arm zurück und versuchte gleichzeitig deeskalierend auf den gorillaartigen Vierschröter einzuwirken, der brüllend vor Wut und Rachlust auf uns zustürzte, um die Ehre seiner triefenden Begleiterinnen wiederherzustellen.
Ich schleifte Anja in rasender Eile weg von der Szenerie, auch im eigenen Interesse, denn eigentlich war ich mental lediglich darauf eingestellt gewesen, einem Menschen in Not beizustehen, keineswegs aber, an seiner Statt eine Tracht Prügel einzustecken.
Der Gorilla blieb zu meiner großen Erleichterung stehen und beließ es bei einer Schimpfkanonade. „Fotze!“, schrie Anja, während ich sie anschrie, sie solle verdammt noch mal aufhören mit dem Scheiß.
An einem Hauseingang vorm Sexkino am Hamburger Berg lagen ihre ganzen Sachen: mehrere Taschen mit Kleiderzeugs, auch ihre Handtasche. Inzwischen war sie wieder im Rotz-und-Wasser-Modus, brach halb zusammen, fiel aber nie um.
Mühsam schaffte ich es, sie auf einen Plastikstuhl zu setzen. Ich wollte ihr ein Taxi nach Hause spendieren, denn in ihrem erbärmlichen Zustand konnte sie diese arktische Juninacht unmöglich überstehen. Doch belastbare Angaben zu ihrer Adresse waren keine aus ihr rauszubekommen, stattdessen fiel sie im Sitzen in sich zusammen wie eine Narkoleptikerin, mit dem Kopf zwischen den Knien.
Ich rief die 112 an, nach fünf Minuten kam ein Notarztwagen. „Sie heißt Anja und wohnt in Wilhelmsburg“, informierte ich die Sanitäter. „Wir übernehmen“, sagte einer der beiden jovial. Erleichtert ging ich nach Hause.
„Matthias!“, hörte ich es plötzlich hinter mir schreien. Ich drehte mich um und sah Anja auf mich zutaumeln wie ein Zombie aus „The walking Dead“: der Körper x-förmig abgeknickt, das rechte Bein nachziehend, die Arme wie willenlos baumelnd, ihr Schal schleifte über die Straße.
Als sie mich erreicht hatte und sich an mich hängte wie ein Wäschesack, bog der Krankenwagen um die Ecke und hielt an. Der Sanitäter auf der Beifahrerseite hatte das Fenster runtergekurbelt. Er grinste mir zu, zuckte mit den Schultern – und dann fuhren sie davon. WTF?
„Warn großer Fehler, n Kranknwan’g zu rufn!“, lallte Anja und begann wieder zu weinen. Herz gebrochen, belogen und betrogen, sie will sterben. Ich begleitete sie zurück zu ihren Sachen, als plötzlich wie aus dem Boden gewachsen zwei Polizisten vor uns standen.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich der mit dem Unterlippenbart, den ich aus diversen Spiegel-TV-Reportagen über die Davidwache kannte. Ich verneinte und beschrieb kurz Anjas Zustand. Den Zwischenfall mit dem Sektkübel behielt ich für mich.
Anja, deren Artikulationsrepertoire bisher nur in Lallen, Schluchzen, Schreien, Weinen und Lamentieren bestanden hatte, ratterte wie ferngesteuert Namen und Adresse runter. Der Unterlippenbart wandte sich an mich und flüsterte: „Die ist total auf Crack.“
Auf so was wäre ich Naivling wieder mal alleine nicht gekommen. „Haben Sie noch all ihre Sachen?“, fragte er. Ich tastete mich ab, alles noch da. „Kümmern Sie sich um sie?“, fragte ich ihn. Er nickte. Ich winkte der zuckenden, winselnden Anja zum Abschied unsicher zu und ging nach Hause.
Als ich bei Don Camillo & Peppone vorbeikam, war der Tisch leer, an dem vorhin die Gruppe gesessen hatte. Um ihn herum war der Boden nass. Plötzlich hörte ich hinter mir, wie sie meinen Namen schrie.
Ich beschleunigte meinen Schritt.
Ich zog mich an, doch als ich runterkam, war sie bereits einige zehn Meter die Seilerstraße westwärts entlanggetaumelt. Man hörte aber immer noch gut, wo sie war. Ich holte sie vor der Musicalschule ein und fragte, ob ich helfen könne. Viel war nicht zu verstehen. Sie heulte Rotz und Wasser (keine Metapher) und lallte Wortfetzen wie „Herz gebrochen“, „belogen und betrogen“, „will sterben“.
Ihren Namen kriegte ich immerhin raus, nachdem ich mich zunächst selbst vorgestellt hatte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie hieß Anja (zumindest nenne ich sie hier so). Nachfragen nach Freunden oder Verwandten, die ich hätte anrufen können, blieben fruchtlos.
Auf meinen Vorschlag, mit ihr zu Davidwache zu gehen, reagierte sie wie Dracula auf den Anblick eines knoblauchumrankten Kruzifixes. Stattdessen zog sie mich schluchzend und schreiend Richtung Hamburger Berg (Foto), weil dort irgendwo ihre Sachen lägen. Ich stützte sie halbwegs, während sie immer wieder auf ihren zu langen Schal trat, und versuchte uns Richtung Bürgersteig zu dirigieren, doch sie bestand in ihrem Elend auf einer Schlangenlinieroute straßenmittig.
Vorm italienischen Restaurant Don Camillo & Peppone saß eine Gruppe Gäste, die rübergafften. Hätte ich an ihrer Stelle auch getan, denn auf sie wirkten wir bestimmt wie ein Lude mit seiner durchgeknallten Hure. „Was guckt ihr denn so blöde?“, schrie Anja. Dann griff sie so schnell, dass ich überhaupt nichts mehr machen konnte, nach einem metallenen Sektkübel, der auf einem unbesetzten Tisch stand, und schleuderte ihn mit der Treffsicherheit eines Dirk Nowitzki auf die Gruppe.
Der Kübel traf eine Frau, die sich im Aufspringen drehte, am Rücken; von seinem Inhalt hatten aber alle was. Entgeistert zog ich die weiter schreiende Anja am Arm zurück und versuchte gleichzeitig deeskalierend auf den gorillaartigen Vierschröter einzuwirken, der brüllend vor Wut und Rachlust auf uns zustürzte, um die Ehre seiner triefenden Begleiterinnen wiederherzustellen.
Ich schleifte Anja in rasender Eile weg von der Szenerie, auch im eigenen Interesse, denn eigentlich war ich mental lediglich darauf eingestellt gewesen, einem Menschen in Not beizustehen, keineswegs aber, an seiner Statt eine Tracht Prügel einzustecken.
Der Gorilla blieb zu meiner großen Erleichterung stehen und beließ es bei einer Schimpfkanonade. „Fotze!“, schrie Anja, während ich sie anschrie, sie solle verdammt noch mal aufhören mit dem Scheiß.
An einem Hauseingang vorm Sexkino am Hamburger Berg lagen ihre ganzen Sachen: mehrere Taschen mit Kleiderzeugs, auch ihre Handtasche. Inzwischen war sie wieder im Rotz-und-Wasser-Modus, brach halb zusammen, fiel aber nie um.
Mühsam schaffte ich es, sie auf einen Plastikstuhl zu setzen. Ich wollte ihr ein Taxi nach Hause spendieren, denn in ihrem erbärmlichen Zustand konnte sie diese arktische Juninacht unmöglich überstehen. Doch belastbare Angaben zu ihrer Adresse waren keine aus ihr rauszubekommen, stattdessen fiel sie im Sitzen in sich zusammen wie eine Narkoleptikerin, mit dem Kopf zwischen den Knien.
Ich rief die 112 an, nach fünf Minuten kam ein Notarztwagen. „Sie heißt Anja und wohnt in Wilhelmsburg“, informierte ich die Sanitäter. „Wir übernehmen“, sagte einer der beiden jovial. Erleichtert ging ich nach Hause.
„Matthias!“, hörte ich es plötzlich hinter mir schreien. Ich drehte mich um und sah Anja auf mich zutaumeln wie ein Zombie aus „The walking Dead“: der Körper x-förmig abgeknickt, das rechte Bein nachziehend, die Arme wie willenlos baumelnd, ihr Schal schleifte über die Straße.
Als sie mich erreicht hatte und sich an mich hängte wie ein Wäschesack, bog der Krankenwagen um die Ecke und hielt an. Der Sanitäter auf der Beifahrerseite hatte das Fenster runtergekurbelt. Er grinste mir zu, zuckte mit den Schultern – und dann fuhren sie davon. WTF?
„Warn großer Fehler, n Kranknwan’g zu rufn!“, lallte Anja und begann wieder zu weinen. Herz gebrochen, belogen und betrogen, sie will sterben. Ich begleitete sie zurück zu ihren Sachen, als plötzlich wie aus dem Boden gewachsen zwei Polizisten vor uns standen.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich der mit dem Unterlippenbart, den ich aus diversen Spiegel-TV-Reportagen über die Davidwache kannte. Ich verneinte und beschrieb kurz Anjas Zustand. Den Zwischenfall mit dem Sektkübel behielt ich für mich.
Anja, deren Artikulationsrepertoire bisher nur in Lallen, Schluchzen, Schreien, Weinen und Lamentieren bestanden hatte, ratterte wie ferngesteuert Namen und Adresse runter. Der Unterlippenbart wandte sich an mich und flüsterte: „Die ist total auf Crack.“
Auf so was wäre ich Naivling wieder mal alleine nicht gekommen. „Haben Sie noch all ihre Sachen?“, fragte er. Ich tastete mich ab, alles noch da. „Kümmern Sie sich um sie?“, fragte ich ihn. Er nickte. Ich winkte der zuckenden, winselnden Anja zum Abschied unsicher zu und ging nach Hause.
Als ich bei Don Camillo & Peppone vorbeikam, war der Tisch leer, an dem vorhin die Gruppe gesessen hatte. Um ihn herum war der Boden nass. Plötzlich hörte ich hinter mir, wie sie meinen Namen schrie.
Ich beschleunigte meinen Schritt.
26 Juni 2012
Ente in Schweißsoße
Vor der Pressevorstellung im Streit’s-Kino (das schreibt sich wirklich so) gönnte ich mir bei „Essen & Trinken“ am Gänsemarkt auf die Schnelle ein Lunch.
Ich hatte leider nichts zu lesen dabei und musste aufs iPhone zurückgreifen. Auf dem Display eines 3GS Mommsens „Geschichte des Römischen Reiches“ zu lesen, gehört zweifellos zu den Erfahrungen, die man mal gemacht haben muss.
Während ich erfuhr, dass im Jahr 636 v. Chr. oder so in Rom die Musik generell verboten wurde (ein bedenkenswerter Ansatz in Zeiten des Leistungsschutzrechtes), wovon lediglich Flöte und Gesang ausgenommen waren – was Ian Anderson extrem entgegengekommen wäre –, setzten sich zwei Männer in roten Latzhosen an den übernächsten Tisch.
Das erste, was ich von ihnen wahrnahm, war ein intensiver Mischgeruch aus Schweiß und Rasierwasser. Er umwölkte die beiden Männer dunstglockenförmig mit einem Radius von mindestens zwei Metern und legte sich unschön über die Sensorik meiner Ente in Chilisoße.
Ich registrierte aufsteigenden Missmut. Doch das war nur die Gefühlsebene, und ich verfüge ja auch noch über eine Ratio, obgleich an dieser Stelle scheinbar schon Gegenbeweise sonder Zahl geführt wurden.
Die Ratio jedenfalls sagte: Diese Männer sind Arbeiter, sie strengen sich an, sie schwitzen rechtschaffen, und das riecht man halt.
Gäbe es sie nicht, fuhr sie fort, müsstest du möglicherweise selbst Mauern mauern, Löcher ausheben, Paletten stapeln und Kisten schleppen, statt bei einer Ente in Chilisoße auf den Beginn einer Pressevorstellung im Streit’s-Kino zu warten. Und dann lieber eine Dunstglocke, ehrlich. Danke, Männer.
Dass ich einen Tuck schneller aß als gewöhnlich, hat ja keinem geschadet außer eventuell meiner Verdauung. Aber das ist noch nicht … äh … raus.
24 Juni 2012
Überall ist es schlechter, wo wir nicht sind
Hamburg sollte uns wirklich dafür bezahlen, dass wir die Stadt nicht verlassen. Denn bereits mehrfach, wenn wir das taten, passierte irgendetwas, das besser nicht geschehen wäre – oder dem man besser fernbleiben sollte, was wir ja auch in intuitiver Voraussicht manchmal tun.
Zum Beispiel schlug mal der Blitz in unser Haus ein, als wir gerade auf der Ostsee herumschipperten. Statt wie unsere Nachbarn im Nachthemd, Regen und Blaulicht zitternd auf dem Bürgersteig vorm Haus herumzustehen, flanierten wir elegisch durch St. Petersburg. Die weitaus bessere Wahl.
Das gilt seit neuestem auch für dieses Wochenende, welches wir in Wolfsburg (Foto) statt in Hamburg verbringen. Nicht nur, dass wir so wie durch ein Wunder dem Horror der Harley Days entgehen, nein, auch die am Samstagnachmittag in der Großen Freiheit entdeckte Weltkriegsbombe, von der uns die segensreiche App „Katwarn“ per SMS warnte, tangierte uns buchstäblich nur peripher.
Kurz überlegte ich, was alles verlorenginge, wenn der Kiez komplettemang in die Luft flöge, während wir in Wolfsburg weilten – und merkte: Alles Wichtige ist sicherheitskopiert. Und das Materielle – CD-Sammlung, Plasmafernseher, Benjaminus, Weinklimaschrank – wäre zu ersetzen. Außer der letzten verbliebenen Flasche Chateau D’Yquem natürlich.
Ein guter Grund, schnellstmöglich nach Hamburg zurückzukehren. Denn wie gesagt: Wenn wir dort sind, passiert ja nichts. Außer manchmal der Schlagermove, wogegen eine Weltkriegsbombe übrigens nur Pipifax ist.
22 Juni 2012
Pareidolie (46)
Da steht man arglos an Gleis 8 des Berliner Hauptbahnhofs (tief) und wird plötzlich blöde von der Wand angestarrt. Kein Wunder, dass man da in den nächstbesten ICE einsteigt.
Vor allem, wenn er nach Hamburg fährt.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
20 Juni 2012
Die Krux mit der Kiste
Morgens stehe ich meistens ein, zwei Minuten an der Fußgängerampel am Ende der Großen Bergstraße und lehne mich, um nicht vom Fahrrad absteigen zu müssen, an den Ampelmast. Seit neuestem hängt daran eine sogenannte Pfandkiste, die meine Aufmerksamkeit während der Rotphase in Beschlag nimmt.
Dort hinein soll man Flaschen stellen. Aufgedruckte Begründung: „Mülleimer zu durchsuchen ist gefährlich und demütigend. Stellt Eure Pfandflaschen deshalb daneben. Oder in diese Kiste. Danke!“
Eine sinnvolle Sache. Doch die Verwirrung, welche die Pfandkiste auslöst, übersteigt deutlich meine Fähigkeit, ihr Wirkungsprinzip hinreichend zu lobpreisen. Denn ich kapiere einfach nicht, wie sie dahinkommt.
Der Ampelmast – oben durch die Signalanlage erheblich verbreitert und unten festgemauert in der Erden – durchstößt die Pfandkiste widersinnigerweise mittig, und ich konnte bisher bei meinem je ein- bis zweiminütigen Aufenthalt keine Nahtstellen an der Kiste entdecken.
Und das wäre doch die einzig logische Vorgehensweise, die Pfandkiste so zu befestigen, wie sie nun mal befestigt ist: Man müsste sie symmetrisch in zwei Hälften zersägen, in ihrer Mitte ein Loch vom Durchmesser des Mastes herstellen, sie dann um den Ampelmast herumlegen und wieder zusammenkleben.
Höchstens Harry Potter traute ich die Schilderung und Umsetzung einer Alternativmethode zu. Oder einem meiner Blogleser, in den Kommentaren.
18 Juni 2012
Von Brötchen, Büchen und Benzin
Sonntagmorgens um halb neun ist beim Kiezbäcker die Schwankungsbreite vor allem der männlichen Kundschaft immens groß – und ich meine das nicht im übertragenen Sinne. Dennoch gelang es mir auch diesmal, dort unbeschadet Brötchen zu ergattern.
Nach dem Frühstück fuhren wir nach Ratzeburg, was – wie Dr. K. mir neulich vorschwärmte – eine schöne Inselstadt mitten im See sein sollte, und siehe da: Das stimmt auffällig.
Die Ratzeburger haben neben viel Kopfsteinpflaster auch einen schönen Klinkerdom mit urgemütlicher Aura, der zudem beweist: Auch in vormodernen Zeiten gab es schon das Deppenleerzeichen. Ein Gemälde im Seitenschiff (Foto) versorgte uns mit dieser bestürzenden Erkenntnis.
Auf dem Rückweg statteten wir der Eulenspiegelstadt Mölln noch einen Besuch ab (toller Marktplatz!), und als wir zurück nach Hamburg aufbrechen wollten, fiel der Zug aus. Notarzteinsatz. Also nahmen wir den Bus, der außer uns niemand an Bord hatte, und krochen gemütlich über die Dörfer bis zum Büchener Bahnhof (2. Foto).
„Stell dir vor, wir haben eine Panne“, sagte ich irgendwo mitten im Wald zwischen Nestern wie Benzin, Göttin und Besitz (sic! sic! sic!) zu Ms. Columbo, „es wird allmählich dunkel, und dann kommen die Hillbillys.“ Sie bekam sofort eine Gänsehaut.
Kurz: Diese Busfahrt möchten wir hiermit wärmstes empfehlen. Auch ohne Notarzteinsatz.
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