Nach längerer Zeit mal wieder im Millerntorstadion, wo der FC St. Pauli gegen Werder Bremen II antritt – leiderleider in der Regionalliga, man muss es eingestehen. Ich profitiere davon, dass einer aus Andreas' Dauerkartenclique verhindert ist, also springe ich kostenfrei ein.
Die Clique steht traditionell in der Gegengerade unten am Zaun, seit vielen Jahren. Von dort aus sieht man vor allem meterhoch aufragende Drahtgitter und Nachwuchsfans, die am Zaun hochklettern. Aber auf St. Pauli ist Fußballgucken selbst auch gar nicht so wichtig. Sondern das Gefühl, bei minus fünf Grad eine bescheuerte Leidenschaft mit 17 824 anderen zu teilen.
„Der größte Augenblick“, sagt Andreas, „ist der, wenn die Glocken läuten.“ Das passiert immer vorm Spiel, nämlich beim Auflaufen der Teams, und es sind die mächtigen Donnerglocken aus AC/DCs Song „Hell's bells“.
Doch heute gibt es weitere Höhepunkte: Zur Halbzeit führen wir 2:0. Plötzlich holen die Bremer blitzartig auf – 2:2. Das weckt St. Pauli aus der vorauseilenden Lethargie des sicheren Sieges. Das Team dreht auf, und beim bald folgenden 3:2 erweist es sich als besonderer Nachteil, unten am Zaun zu stehen, denn der Inhalt der aus den hinteren Reihen euphorisch weggeschleuderten Bierbecher landet vor allem hier, auf meiner neuen Land's-End-Squall-Jacke. Beim 4:2 sind dann zum Glück alle Becher schon leer.
Nach dem Sieg ziehen wir traditionell in die Domschänke. Die gesamte Gegengerade kommt offenbar auf die gleiche Idee. Es sieht bald so aus wie in der Kabine der Marx Brothers im Film „Die Marx Brothers auf hoher See“, aber alle sind beseelt vom Sieg und somit erfüllt von Toleranz und geradezu postkoitalem Gleichmut.
Die Domschänke könnte sich an Heimspieltagen goldene Zapfhähne verdienen, doch aus irgendeinem Grund hält sie das Bier lachhaft billig: 1,40 Euro die Flasche! Vielleicht würde ja ein Preis von 2,80 die Zahl der Gäste halbieren – vielleicht aber auch nur das Mobiliar gefährden.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Time passes“ von Paul Weller, „Clifton in the rain“ von Al Stewart und „Outta my head“ von M. Ward.
Sie hätten Sportreporter werden sollen und das genau hier auf Pauli!
AntwortenLöschenDas wäre mir eine zu große Einschränkung. Als Stadtteilblogger fühle ich mich zurzeit viel wohler.
AntwortenLöschenSchöner Eintrag, aber die Aussage, dass auf St. Pauli das Fußballgucken selbst gar nicht so wichtig ist, ist, zumindest in dieser Zuspitzung, ein fieses Klischee, dass von HSV-Fans und anderen übelmeinenden Menschen gepflegt wird. Die Leidenschaft für den Verein (und das Teilen dieser Leidenschaft mit anderen), die zunächst einmal unabhängig vom aktuellen Geschehen auf dem Platz existiert, dürfte doch wohl in jedem Fanleben eine große Rolle spielen. Anders stellt sich das natürlich dem gelegentlichen Zaungast oder gar dem "Fußballconnaisseur" dar, also jenem mir ewig unerklärlich bleibenden Wesen, das emotional an keinen Verein gebunden ist und einfach nur "guten Fußball" genießen will.
AntwortenLöschenIch finde übrigens gar nicht, dass man von unserem Platz am Zaun aus schlecht sieht. Den Zaun selbst nimmt man nach kürzester Zeit nicht wahr, die an ihm hochkletternden Zwerge muss man halt gelegentlich mit einem klaren Wort zum Hinabsteigen bringen, und die unmittelbare Nähe zu großen Teilen des Spielgeschehens ist unbezahlbar. Das alles nächstes Jahr dann wieder in der 2. Bundesliga!
Ich merke schon, mir fehlt einfach die Routine. Leider bin ich ein über die Jahre verweichlichter Tribünensitzer und muss das am Zaun Stehen wahrscheinlich wieder mühsam einüben. Weitere Schulungsveranstaltungen sind also willkommen, Andreas … ;-)
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