04 November 2005

Die Herzlosen

Woran man sich als zugezogener Hesse auch nach mehr als 10-jährigem Hamburg-Aufenthalt nicht recht gewöhnt, ist die rustikale Herzlosigkeit der Hanseaten. Heute stand in Ottensen ein älterer Herr an einem Bauzaun und stierte sinnierend in die Grube, als eine Dame ähnlichen Alters vorbeikam und zu ihm sagte: „Willst du Selbstmord begehen? Das ist nicht tief genug!“

Keine Ahnung, ob die beiden sich kannten. Doch selbst dann wäre eine leicht andere Nuancierung in der Ansprache nach meinem Geschmack probater gewesen. Grundsätzlich scheinen sich die Leute hier ziemlich egal zu sein. Jeder sieht, wie er voran kommt. Als Fahrgast in den U- und S-Bahnen stellt man sich tunlichst schon während der Fahrt an die Tür, denn der am Bahnsteig wartende Hanseat kennt nur eins: Rein in die Bahn – Frechheit, dass auch welche rauswollen.
Manchmal muss man regelrecht Schneisen schlagen in die dumpf und unwillig Reindrängenden.

Am schlimmsten wird es, wenn man versehentlich an der falschen Tür steht und plötzlich erkennt, dass man sich in Sekundenbruchteilen zur anderen Seite durchschlagen muss. Denn die hereinbrandende Lawine verfährt mit ausstiegswilligen Nachzüglern gewöhnlich nach der Methode: Steig doch an der nächsten Station aus. Phh.


Und damals, als die im
Start-Posting erwähnte Nachbarin aus dem vierten Stock neben uns aufs Pflaster klatschte, kam der Typ vom „Glöe International Grillimbiss" an der Ecke raus, beugte sich über den Haufen Fleisch und sagte, fast ein wenig vorwurfsvoll: „Die lebt ja noch.

Möglicherweise ist das hier nicht die ideale Stadt, um auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Anders gesagt: Gandhi hätte hier bestimmt einen Job gefunden, auch wenn er komische Klamotten trug.


Ich will damit aber nicht sagen, Hamburger hätten kein Herz. Die Maria Bar zum Beispiel hat eins.


PS: Übrigens neige ich seit einiger Zeit dazu, sehr unwillig in Bahnen reinzudrängen. Eine Handlungsweise, die ich auch im Angesicht von Bussen an mir feststelle.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep lake“ von Film School, „Viver“ von Sandboy und „Those winters“ von Jenny Wilson.

1 Kommentar:

  1. Offenbar ist es mehr ein Phänomen unserer Zeit als Ihres Wohnortes.

    AntwortenLöschen