Am Bahnhof Altona sitze ich im 37er gegenüber der mittleren Tür, lese Spiegel und warte, dass der Bus abfährt. Mein Blick fällt auf einen Mann mit Bartschatten, der vor der Tür steht, obgleich noch Plätze frei sind. Er wirkt arabisch, trägt einen dicken Parka, Handschuhe und einen Rucksack auf dem Rücken. Er blickt unstet umher, und mir wird plötzlich unwohl. Was, wenn er … Ich höre auf zu lesen und überlege, ob ich aussteigen soll. Der nächste Bus fährt in zehn Minuten, und ich bin in Eile.
Soll ich? Quatsch! Oder doch?
Wir haben eine neue Kanzlerin, die noch einen braunen Hals hat von ihrem damaligen Besuch bei Irak-Krieger Bush, mit dem sie der deutschen Regierung in den Rücken fiel. Und im Irak wurde gestern eine deutsche Staatsbürgerin entführt. Kann es nicht sein, dass wir jetzt ebenso auf der Liste stehen wie England und Spanien?
Der Mann an der Tür schaut umher. Warum setzt er sich nicht? Sein Parka beult sich, der Rucksack ist prall. Ich bin wie versteinert. Die Türen flappen zu mit einem dumpfen Zischen, und der Bus fährt los. Die wahrscheinlich lächerliche Entscheidung, auszusteigen und auf den nächsten zu warten, ist mir abgenommen worden.
Der Spiegel liegt auf meinem Schoß. Ich beobachte den Mann, der sich jetzt umdreht und durch die Türscheiben in die Dunkelheit starrt. Sein Rucksack wölbt sich mir schwarz entgegen. Der Mann hält sich mit einer Hand an der Stange fest. Sein Körper schwankt im Zusammenspiel von Gravitation und Fliehkraft.
Wann würde es passieren? An einer Ampel? Wenn der Bus die Reeperbahn hochfährt? Vielleicht an der Haltestelle Davidstraße, wo die Sünde und Verderbtheit der westlichen Welt sich verdichtet zur grandiosen Verhöhnung seines Glaubens? Oder will er zur U-Bahn, in einen Tunnel, zum Hauptbahnhof?
Die nächste Haltestelle, Altonaer Poststraße. Der Bus stoppt, die Türen zischen auf. Der Mann steigt aus. Ich sehe, dass er ein steifes Bein hat. Er hätte sich gar nicht hinsetzen können, so eng, wie die Sitzreihen aneinander gebaut sind.
Ich bin beschämt und erleichtert. Abends im bretonischen Restaurant Ti Breizh in der historischen Deichstraße esse ich einen Schoko-Marzipan-Crêpe, für den Adam jederzeit den Garten Eden verlassen hätte. Über die Ost-West-Straße huschen die Lichter der Autos; und das würden sie auch, wenn abends irgendwo in der Stadt ein Bus explodiert wäre.
Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Two wrongs won't make things right“ von Tarnation, „Summer dress“ von Red House Painters und „Sight of you“ von Pale Saints.
Es wird auch hier krachen, niemand kann es verhindern.Der tägliche Krieg auf der Straße fordert mehr Tote. Wir haben uns daran gewöhnt, wir werden uns auch daran gewöhnen.
AntwortenLöschenBin erst über das Stöckchen auf diesen Eintrag gestoßen. Ich kann Deine innere Unruhe gut nachvollziehen, ich hatte letztens auch mal so ein Erlebnis. Im Gepäcknetz der Regionalbahn nach Rahlstedt lag ein Cassettenrecorder. So ein Radiorecorder halt. Das Gerät passte zu keiner der vier Personen, die im Vierersitz unter dem Recorder saßen. Ich habe die ganze Fahrt von Hauptbahnhof bis Rahlstedt auf das Ding gestarrt und mich gefragt, wieviel Semtex man denn braucht, um einen Zug zu zerlegen.
AntwortenLöschenSchließlich war die Lösung auch hier einfach. Der Mann mittleren Alters, der ich am allerwenigsten als Besitzer des Geräts ausgemacht hätte, griff beim Aussteigen seelenruhig in das Gepäcknetz, nahm seinen Cassettenrecorder und stieg aus.
Habe dann zwar keinne Crêpe gegessen, kam mir aber ziemlich blöd vor. So blöd, dass ich die Begebenheit nichtmal gebloggt habe. Soviel zur Schere im Kopf des Bloggers...
Nun kommt die Episode immerhin im Kommentar eines 8 Monate alten Beitrags ans Licht der Welt.
Vielleicht sollte man viel öfter darüber bloggen, wenn man sich blöd vorkommt … Das gehört ja zum normalen Gefühlsspektrum.
AntwortenLöschenIch jedenfalls kann mich an kaum eine aufwühlendere Situation im letzten Jahr erinnern - und kam mir nur deshalb so blöd vor, weil diese Gefühlsaufwallung schließlich in keinem Verhältnis stand zu ihrem Auslöser. Aber das konnte man währenddessen nicht wissen.
Solche Begebenheiten erzählen einem viel über die Welt, in der wir leben - und fühlen.