29 November 2005

Das grelle Licht

Was vom Rade übrig blieb … Diese auf den Rahmen reduzierte Ruine fristet an der Kreuzung Rendsburger und Simon-von-Utrecht-Straße ihre Tage. Bianchi: gute Marke. Das Schloss scheint allerdings noch hochwertiger zu sein, sonst hätte der Fahrradteiledieb doch wohl das komplette Objekt seiner Begierde konfisziert.

Übrigens liegt dieses traurige Überbleibsel eines Fortbewegungsmittels in unmittelbarer Nähe eines Eckhauses, in dessen Souterrain eine Großfamilie gleichsam öffentlich lebt. Das weiß ich deshalb so genau, weil die Bewohner in der Regel auf jede Verschleierung ihres tagtäglichen Treibens verzichten.

Vorne, direkt an der zweispurigen Simon-von-Utrecht-Straße (Spitzname: „Stadtautobahn“), steht der Esstisch. Er ist meist reich gedeckt mit kleinen Schweinereien, und oftmals – eigentlich häufiger, als es die üblichen Essenszeiten nahelegen würden – sind an seinen Gestaden diverse Familienmitglieder traulich versammelt. Sie neigen übrigens alle nicht wenig zur Körperfülle.


Die Küche geht ohne Trennwand ins rückwärtig gelegene Wohnzimmer über, weshalb in der Regel mindestens ein dickes Kind auf die Couch gefläzt zu erleben ist, wo es mit Fernbedienungen herumhantiert. Dies alles sieht man unweigerlich im Vorübergehen.

Vor allem abends ist der Blick nahezu ungetrübt. Dann ist die ganze Pracht dieses geradezu holländischen Wohnkonzeptes in grellweißes Licht getaucht, von dessen Liebreiz auch türkische Kneipen und Bistros auf dem Kiez durchweg in den Bann geschlagen sind.

In diesen öffentlichen Treffs sitzen Männer – es sind immer Männer – beim Kartenspielen und Fußballgucken beisammen, und das schrille Licht der zahlreich anwesenden OP-Lampen bringt jedes einzelne ihrer üppigen Ohrhaare liebevoll zum Glänzen und Erglühen.

Ich wette, all diese Männer würden recht verunsichert herumdrucksen, wenn sie Gemütlichkeit definieren sollten.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rialto“ von Laura Veirs, „Summer wine“ von Lee Hazlewood & Nancy Sinatra und „Deus ibi est“ von Isobel Campbell & Mark Lanegan.


2 Kommentare:

  1. Da fehlt dann nur noch der Außenspiegel am Fenstern, um es komplett holländisch zu gestalten. :-)
    Die Sache ist doch ganz klar: Diese Menschen bewegen sich nicht mehr aus Ihrer Wohnung heraus, und das Fenster und die Blicke der Passanten sind der einzige Kontakt zur Welt da draußen. Schnüff.

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  2. Deine Schilderung ist jedenfallst sehr plastisch und lebendig! Sofort kamen mir Bilder in den Sinn, von Wohnhäusern, an denen ich schon vorbeigelaufen bin oder von dieses türkischen Kulturtreffs in allen Städten.

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