16 September 2012

Der 7. Bloggeburtstag



Irgendwas ist ja immer: So hat der Webveteran Don Dahlmann seit vielen Jahren sein Blog überschrieben, und im Grunde stimmt das ja, auch hier, auf der Rückseite der Reeperbahn.

Doch immer öfter ist immer seltener was. Oder die Leistungsfähigkeit meiner Antennen lässt nach. Vielleicht laufe ich auch abgestumpfter über den Kiez als noch vergangenes Jahr. Oder ich habe mir früher selbst dann, wenn nur wenig war, etwas aus den Fingern gesogen, damit es so aussieht, als sei irgendwas ja immer, in und auf St. Pauli.

Na ja, jedenfalls hat die Blogfrequenz hier merklich nachgelassen. Das hat sicherlich etwas zu bedeuten, worüber ich mir demnächst mal ernsthaftere Gedanken machen werde. In erster Linie aber hat es (logischerweise) dazu geführt, dass auch die Besucherquote rückläufig ist.

Im Vergleich zum Jahr davor ist der Schnitt auf rund 17 000 monatliche Flaneure und rund 25 000 angeklickte Blogtexte gesunken. Das ist ein Rückgang um über 10 Prozent. Dafür blieben sie – bzw. Sie – wenigstens pro Besuch deutlich länger hier, nämlich 1:40 Minuten gegenüber 1:10 in der vergangenen Saison. Das ist allerdings noch nicht das Niveau von 2010, als die Verweildauer im Schnitt bei 1:54 Minuten lag.

Doch auch dafür gibt es Gründe. Meine Beiträge sind kürzer geworden, und das kommt Ihnen entgegen – schließlich erodiert Ihre Aufmerksamkeitsspanne unaufhaltsam. Das schließe ich zumindest rück, weil es mir selbst so geht. 700-seitige Bücher würde ich aufgrund ihrer offenkundigen literarischen Adipositas erst gar nicht mehr anfangen zu lesen, wenn ich den Kindle nicht hätte, der ihren Umfang auf segensreiche Weise erst mal verschleiert. Und wenn mir aufgeht, dass ich gerade mitten in einem Buch stecke, das in der Welt des toten Papiers so viel Luft verdrängt wie ein Backstein, dann bin ich längst angefixt.

Doch ich schweife ab. Also zurück zur Statistik. Insgesamt besuchten mich seit September 2005 knapp 1,43 Millionen Menschen und interessierten sich für 2,24 Millionen Seiten. In diesen sieben Jahren versuchte ich Ihnen mit 2318 Blogstücken eine Reaktion zu entlocken, was oftmals auch gelang: Ich erntete im Schnitt zehn Kommentare pro Beitrag, insgesamt genau 22.328.

Das gilt übrigens auch weiterhin: Hier wird nur deshalb gebloggt, weil und so lange Sie etwas dazu sagen.

Und natürlich, weil Ms. Columbo mir jedes Jahr zum Bloggeburtstag einen Kuchen backt.

14 September 2012

Das Herz von St. Pauli auf US-Tour



Der Kiezbummel gestern Abend mit Andreas endete nach allerkürzester Zeit in der „Korall Bar“. Ja, ich habe das e auch vermisst, aber den ganzen Abend nicht gefunden, auch nicht auf der Getränkekarte.

Jedenfalls blieben wir hängen in dieser netten Kneipe, die seit April an der Ecke Hein-Hoyer- und Simon-von-Utrecht-Straße derart fleißig ihr Auskommen zu finden versucht, dass sie es bisher versäumt hat, am Haus ihren Namen anzubringen. Vielleicht wüssten wir sonst sicherer, ob der Korall Bar ein e abhanden gekommen ist oder nicht.

Wir wandten uns eh bald wichtigeren Themen zu, vor allem Andreas’ mehrmonatiger Amerikareise als Roadmanager, Fahrer, Begleiter und Bespaßer seiner musizierenden Frau Tish, die er in einem grandiosen Blog verewigt hat.

Die beiden hatten bei ihrer Tour durch 42 Bundesstaaten die schrullige Idee, das US-Publikum regelmäßig mit dem auf Deutsch gesungenen Kiezgassenhauer „Das Herz von St. Pauli“ zu überraschen – siehe Video.

Ich würde mich ja so was nicht trauen: einfach auf die Bühne gehen und „Das Herz von St. Pauli“ singen. Dafür stehe ich manchmal sehr dicht vor der Bühne. Manchmal auch zu dicht.

Bei einem Solokonzert von John Cale in den 80ern stand ich mal in der ersten Reihe, als Cale mit der ihm eigenen Vehemenz „Fear is a man’s best friend“ zischte, schrie, brüllte – und spuckte.

Die Spucke des Mannes, der damals mit Andy Warhol, Lou Reed und Nico abhing, flog meterweit und fand auf meiner Wange ihr Ende.

Natürlich habe ich mich seither nie mehr geduscht.


11 September 2012

(Fast) Ohne Worte (109)



Entdeckt in einem Fenster in einer Straße, an die ich mich nicht mehr genau erinnern kann. Wahrscheinlich auf dem Kiez.

Obwohl der schnippische Tonfall eher nach Eppendorf riecht.


09 September 2012

Mein kleiner Sonnenschein



Seit das Kleine da ist, hat sich mein Leben, mein Alltag, einfach alles total verändert.

Das Kleine war mit 2030 Gramm ein Leichtgewicht, ganz zart und filigran. Doch seit seiner Ankunft reißt es ununterbrochen die Klappe auf und schaufelt fröhlich in sich hinein, was man ihm auch anbietet. Erstaunlicherweise nimmt es trotzdem kein Gramm zu. Aber das sei normal, sagt Ms. Columbo.

In den ersten Nächten jedenfals bekamen ich und das Kleine kaum eine Stunde Schlaf, weil es immer mehr wollte, mehr, mehr. Aber wenn es mich dann anstrahlt mit diesem gleißend hellen, intensiven und hellwachen Blick, dann kann ich ihm einfach keinen Wunsch abschlagen. Und es gibt mir so viel zurück.

Außerdem ist es unglaublich leise. Echt wahr, das Kleine ist so leise, dass man nicht mal seinen Atem hören kann, das muss man sich mal vorstellen. Und allmählich kommt es auch nachts zur Ruhe. Mittlerweile schläft es manchmal sogar schon sechs Stunden durch, traumlos, wie es scheint.

Kurz: das Kleine ist einfach hinreißend, ich bin total vernarrt. Ich umhege und umsorge es, kann es den ganzen Tag verliebt anstarren, und wenn ich mal raus muss, fühle ich mich sofort unruhig, bin grundlos besorgt und denke nur an zu Hause. Und dann beeile ich mich, zu ihm zurückzukehren, um stundenlang mit ihm herumzuspielen.

Es scheint mich sogar bereits zu erkennen, denn immer, wenn ich ins Zimmer komme und es berühre, leuchtet es augenblicklich auf und strahlt mich hellwach an.

Das Kleine ist wirklich mein kleiner Sonnenschein, ich wüsste gar nicht mehr, wie ich ohne es leben könnte – ohne mein neues MacBook Pro 15" mit 2,6 Gigahertz und 512-SSD-Flashspeicher.

Ich glaube, ich taufe es auf den Namen Retina.


08 September 2012

Pareidolie (48): Terror im Treppenviertel



Wir haben das Blankeneser Treppenviertel von jeher als Oase der Ruhe in Erinnerung.

Man läuft durch umrankte Pfade, schaut Kapitänswitwen in die Rabatten und in der Ferne dem Fluss beim Fließen zu. Und wenn man dann auch noch ein Bänkchen findet zum Sinnieren Arm in Arm, dann ist das Paradies ganz nah.

So war es zumindest in all den Jahren immer, aber diesmal nicht. Nach wenigen Minuten flog eine startende Passagiermaschine über uns hinweg, fünf Minuten später die zweite, dann die dritte und immer so fort.

War das damals auch schon so, dass Blankenese in der Einflugschneise von Fuhlsbüttel liegt? Oder bauen sie gerade da oben eine Umgehungsstraße, und die Flugzeuge fliegen eine Umleitung? Sehr irritierend jedenfalls das alles, möglicherweise sogar schädlich für die traditionell atemberaubenden Immobilienpreise hier im Treppenviertel.

Und das befürchten wohl auch die aufgeregten pareidolischen Blankeneser Schilderfüße.

PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.

05 September 2012

Bombige Erkenntnisse



Eins ist sicher: Das nächste Mal, wenn wir mitten in der Nacht irgendwohin evakuiert werden, legen wir uns sofort auf die dort parat stehenden Pritschen.

Gestern, bei unserem Evakuierungsdebüt wegen 750 Kilo übriggebliebenem Weltkriegssprengstoff, begingen wir nämlich den Fehler, nach dem Eintreffen in der Notunterkunft erst einmal anderthalb Stunden an einen Resopaltisch rumzusitzen und zu twittern und zu lesen, ehe wir uns dann doch endlich hinlegten – und prompt nur fünf Minuten später mit der Entwarnung behelligt wurden.

Um kurz vor 3 Uhr in der Früh lagen wir wieder in unserem Bett auf St. Pauli. Den Stadtteil prägte auch bei unserer Rückkunft noch jene gespenstische Leere, wie sie sonst nur an Weihnachten herrscht und selbst dann nicht.

Es ist übrigens interessant, was man so zusammenrafft, wenn es kurz vor Mitternacht plötzlich heißt: Alle Mann raus hier, in zehn Minuten könnte das Viertel in Schutt und Asche liegen. Meine Wahl fiel auf Folgendes:

– die zum Glück stets reisefertig bestückte Toilettentasche
– eine Haushose
– die Geldbörse
– das iPhone
– den Kindle
– die externe Festplatte mit den jüngsten Time-Machine-Sicherungen
– die Digitalkamera (die ich allerdings versehentlich doch liegen ließ)

Diese Auswahl zeigt eins ganz deutlich: einen erschreckenden Hang zu Gadgets. Und wissen Sie was? Je ne regrette rien. Ich würde es wieder tun.

Obwohl sich mir der Sinn der Haushose gerade nicht mehr so recht erschließen will.

04 September 2012

Ein Königreich für einen Bunker



Typisch: Wir kriegen mal wieder ü-b-e-r-h-a-u-p-t nichts mit. Erst dank einer besorgten SMS von German Psycho aus Mallorca (!) erfahren wir soeben vom Fund zweier Weltkriegsbomben auf dem Heiligengeistfeld, das dummerweise um die Ecke liegt.

Ein Schnellcheck auf Spiegel online ergibt nichts, und just als ich eine Antwort à la „Wovon reden Sie überhaupt?“ tippen will, kommt von draußen auch schon eine polizeiliche Lautsprecherdurchsage – Inhalt: alle pronto ab nach Hause, Fenster und Türen schließen, ab Mitternacht wird zurückentschärft. „Irgendwas ist hier immer“, mault Ms. Columbo.

Seit dieser Durchsage können wir zusehen, wie der Kiez allmählich zur Ruhe kommt. Das übliche Gepöbel wird rar, kaum noch ein Auto fährt durch die Seilerstraße, nur das ewige Surren der Klimaanlage der Spielothek gegenüber hält die Stellung.

Dieses Surren übrigens wird nicht nur zwei Weltkriegsbomben auf dem Heiligengeistfeld überleben, sondern auch die Apokalypse. Wie die Kakerlaken und Chuck Norris.

Ich glaube, ich nutze diese präexplosive Stille und lege mich heute einfach mal früh schla (bummmm)


02 September 2012

Was ist schon normal?



„8 Euro 10 für ESSEN??? Spinnst du?“

Die kompakte Struwwelblonde mit Sonnenbrille fasst es einfach nicht. Ihr Freund, ein schlaksiger Softie mit Brille und Zopf, steht peinlich berührt vorm Kiezbäckertresen im Silbersack und will dem Verkäufer gerade einen Zehner rüberreichen.

„NEIN! Das! Tust! Du! Nicht!“, schreit sie, springt vor, entreißt ihm den Schein, springt zurück und bleibt kampfeslustig im Ladeneingang stehen. Der Kiezbäcker schaut ungerührt. Die Brötchentüte liegt auf dem Tresen.

Halb dreht sich der Schlaks zu seiner Herzallerliebsten um, in einer unschlüssigen Bewegung, die alles sagt über die Machtverhältnisse ihrer Beziehung. „Hör mal …“, setzt er an mit mausgrauem Stimmchen, doch sie unterbricht ihn mit einem bestechenden Argument: „8 Euro 10 für BRÖTCHEN??? Bist du BESCHEUERT?“

Er lächelt schmerzlich. „Es sind ja nicht nur Bröt…“ „NEIN!“, schreit sie, „NEIN!“ Er blickt sich entschuldigend um, doch ich erwidere seinen Blick nicht. Ich käme halt nur gerne bald dran.

Allerdings ist sonntagsmorgens beim Kiezbäcker meine Langmut groß, schon aus Sicherheitsgründen: Man weiß nie, wer von der Nacht übrigblieb und in welchem mentalen Aggregatzustand. Man weiß nie, welche Handlungsoptionen den von all dem eventuell beträchtlich geschädigten Hirnen im Eskalationsfall plausibel erscheinen.

Geduld, unbeteiligtes Herumstehen, leises „La Paloma“-Pfeifen: Das sind Strategien, um den frühmorgendlichen Brötchenkauf mit hoher Wahrscheinlichkeit unfallfrei zu absolvieren. Und live bei öffentlichen Konflitklösungsstrategien dabei zu sein, ist ja auch von wissenschaftlichem Interesse (ich hatte Soziologie im Nebenfach).

„Komm, gib mir die zehn Euro wieder“, fleht er sie leise an. „Du bist BESCHEUERT!“, ruft die Blonde aus sicherer Entfernung. Er begreift, hier ist verbal kein Weiterkommen. Erneut kramt er in seiner Börse. Dort findet er noch einen Zehner, den er dem Kiezbäcker rüberreicht.

„NEEEIIIN!“, schreit es von der Tür her. Nach Kassieren des Wechselgeldes kostet ihn die Tüte jetzt schon 18 Euro 10, denn von der Blonden kriegt er den entwendeten Zehner mit Sicherheit nicht wieder zurück, schon aus Prinzip nicht.

Der Kiezbäcker hat das alles mit der stoischen Gelassenheit eines Streetworkers bzw. Kriegsreporters verfolgt. Wahrscheinlich denkt er das Gleiche wie vergangenen Sonntag, als er die Kundenorder „Drei normale und ein Franzbrötchen“ mit der abgeklärten Gegenfrage „Was ist schon normal?“ beseufzte.

Und dann bin ich auch schon dran.

PS: Das Bild ist übrigens nur ein Symbolfoto. Der Kiezbäcker hat viel bessere Brötchen. Viel bessere!

31 August 2012

Noch eine undichte Stelle



Heute feierten die Zeitschrift Titanic sowie ihr politischer Arm, die Partei DIE PARTEI, ihren juristischen Sieg über den Papst (vgl. Blogeintrag von gestern) auf dem Gehsteig vorm Hamburger Landgericht.

Die Juliausgabe des Heftes mit dem Slogan „Die undichte Stelle ist gefunden!“ darf jetzt wieder frei verkauft und somit auch abgebildet werden (siehe oben links). Allerdings musste ich vor Ort feststellen, dass zumindest ein Mitglied der Partei DIE PARTEI dem Papst auf allzu authentische Weise nacheifert (siehe oben rechts).

Und ich meine damit nicht, dass sein Anzug beschissen sitzt.

30 August 2012

Geplatzt



Er hätte so schön werden können, mein Tag morgen im Landgericht. Minutiös war alles durchgeplant.

Zum Aufwärmen um 9:55 Uhr wäre entschieden worden, wie viel Kohle Günther Jauch dem Gong-Verlag entwringen darf. Um 10:30 dann die Unterlassungsklage der Volksmusikerin Stefanie Hertel gegen den Klambt-Verlag, ehe in der gleichen Sache um 12 Uhr erneut Günther Jauch tätig geworden wäre.

Alles natürlich nur Geplänkel vorm Hauptkampf um 13:30 Uhr: Papst Benedikt XVI. gegen die Titanic. Gut gegen Böse, Soutane gegen Satire: Das war mein Ziel, deshalb wäre ich hingegangen, hätte mich durch Jauch, Hertel & Co. gekämpft, heimlich nicht nur Hasenbrote reingeschmuggelt, sondern möglichst auch das iPhone zum Livetwittern aus dem Gerichtssaal.

Doch zu meiner namenlosen Enttäuschung ließ Gottes Stellvertreter hienieden heute Nachmittag den Prozess platzen. Er kniff den Schwanz ein, was natürlich nur im übertragenen Sinne gemeint ist.

Was mach ich jetzt morgen an meinem freien Freitag – nur Jauch und Hertel ohne Ratzinger? Immerhin bleibt mir das oben zu sehende Bild. Es zeigt die außergewöhnlich schlecht getroffene Wachsfigurenversion des Papstes und lag neulich auf der Reeperbahn, flankiert von einem toten Ast.

Was immer das zu bedeuten hat.

27 August 2012

Der alte Kacker



Vor der Postfiliale unten an der Ecke zieht ein betagter Raucher öffentlich die Hosen runter, um den Straßenbaum zu düngen – und zwar nicht flüssig, wie es alle tun, sondern fest, was zwar seltener, doch nach meinem Geschmack noch immer erheblich zu oft vorkommt.

Danach steht er auf, zieht – ohne sich in irgendeiner Form zu säubern – die Hosen wieder hoch und durchwühlt unverzüglich einen nahen Mülleimer nach leeren Flaschen. Er findet drei.

Diese doch recht betrübliche Beobachtung dokumentiere ich nur der Fairness halber für alle jene, die erwägen, auf dem Kiez für 14 €/qm aufwärts eine Wohnung zu beziehen, weil es hier ja so wahnsinnig „hip“ ist.

Übrigens wüsste ich auf die Schnelle auch nicht, wo der alte Kacker sein Geschäft sonst hätte halbwegs sozialkompatibel verrichten sollen. In den zahllosen umliegenden Kneipen wäre er keinesfalls unbeschadet bis zu den Sanitäranlagen vorgedrungen, und das öffentliche Pissoir auf der Reeperbahn ist für die Aufnahme von Feststoffen gar nicht ausgerüstet.

Insofern imitierte er lediglich das von breiten Bevölkerungsschichten fatalistisch tolerierte Verhalten hiesiger Hunde, an deren Aa Herr- und Frauchen ebenfalls jegliches Interesse verlieren, wenn es erst einmal das Licht dieser deprimierenden Welt erblickt hat.

Sonst war es aber ein schönes Wochenende.



26 August 2012

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (76)



Was Hamburg von Paris unterscheidet.

Entdeckt auf der Reeperbahn.


PS: Wer es nicht entziffern kann: Auf dem Schild stand mal „Moulin Rouge“.


24 August 2012

Diese dummen Diebe



Die beiden schwarzen Plastikbänder da rechts am Fahrradlenker baumeln nutzlos in der Luft. Aus gutem Grund: Sie hielten bislang meinen Tacho in Position, und der wurde mir gerade geklaut.


Erstaunlicherweise
geschah das erst ein halbes Jahr nach seiner Befestigung, was nur einen Schluss zulässt: Die Hamburger Diebe leiden unter bestürzender Formschwäche.

Dafür spricht auch, dass der fürs Abmontieren Verantwortliche das Tachopendant am Vorderrad unangetastet ließ. Das ist ungefähr so clever, als klaute man nur einen Schuh.

Doch vielleicht, lieber Dieb, kann ich Sie über Ihr Versäumnis hinwegtrösten, indem ich Ihnen nachrufe, dass das Ensemble sich eh von Anfang an tapfer jedweder Inbetriebnahme gesperrt hatte. Vulgo: Die beiden blödsinnigen Billigteile (von Aldi, glaub ich) haben nie auch nur eine Sekunde lang funktioniert.

Und wozu überhaupt ein Tacho? Dafür habe ich schließlich Google Latitude. Kurz: Ich bin froh, dass er weg ist, der Schamott.

Leider nur zur Hälfte.


21 August 2012

Der Schrank des Schreckens



Neulich im überfüllten ICE. Wir sitzen im Gang auf dem Boden, gemeinsam mit einer Polizistin, die einen Roman liest, wahrscheinlich von Stieg Larsson.

Plötzlich, in einer Kurve, schwingt der verglaste Schrank mit den Werbedisplays auf und donnert volley gegen die Klotür. Hätte gerade jemand das Örtchen verlassen wollen, läge er jetzt mit Schädelbasisbruch unter der Vakuumschüssel.

Ich versuche den wieder zurückschwingenden Schrank – übrigens ein circa zentnerschwerer Trumm – wieder zuzudrücken, doch nirgends rastet etwas ein. Bei der nächsten Kurve schwingt er wieder auf und gefährdet Menschenleben.

Ich kämpfe mich durch den Zug und erkläre drei Wagen weiter einer Schaffnerin das Problem. „Isch kümmär misch“, sagt sie ohne hochzuschauen, ihr Akzent ist frankophil, der ICE kommt ja auch aus der Schweiz. Wieder zurück stelle ich mich an den Schrank, damit er nicht aufschwingt. Nach einer Viertelstunde wechsle ich mich mit der Polizistin ab, die im Stehen weiterliest.

Vom Zugpersonal lässt sich niemand blicken. Eine halbe Stunde nach der Erstmeldung kämpfe ich mich erneut durch den Zug, um zu erfahren, was denn jetzt Sache sei in Sachen Kundenleben retten. Im Zugbegleiterabteil finde ich alle Bediensteten in trauter Runde, auch die Frankophone.

Wo sie denn bliebe, frage ich ob der lässigen Herumlungerei mit unverhohlener Erregung. „Isch bin seit Basäl an Bord“, sagt sie müde aufschauend, „isch ’abe auch nur swei Füßö!“

Das regt mich noch mehr auf, ich zetere herum, schimpfe, blöke, aber alle schauen mich nur mit halb heruntergelassenen Jalousienlidern derart öde an, als wäre ich ein Film mit Adam Sandler.

Ich dampfe zornschnaubend ab, die Polizistin lächelt bei meiner Rückkehr weise ob meiner Schilderung. Eine weitere Viertelstunde später kommt endlich ein Offizieller und erschrickt beim Anblick der Polizistin. Wahrscheinlich denkt er, sie sei inzwischen alarmiert worden und sichere den Tatort. Mit grimmigem Vergnügen lasse ich ihn in dem Glauben.

Eilfertig untersucht er den Displayschrank.
„Völlisch richtisch, was Se sache“, wendet er sich dann beifallheischend an mich, während er mit einem Auge die Polizistin im Blick behält, „ä Sichäheidsrisigo. Mer müsse de Waache ewwaguiere.“

Meint er „evakuieren“? Haben Sie das auch gehört? Erst eine Stunde lang unbeeindruckt die eigene Kundschaft der Gefahr, nach dem Toilettengang zügig erschlagen zu werden, anheimstellen, und dann auf einmal ewaguiere wollen?? Eine unkalkulierbare Verspätung in Kauf nehmen? Auf Spiegel online landen? Nein, nein, so haben wir nicht gewettet, ICE-Begleiter!

Haben wir auch nicht, denn mit einem Schraubendreher schafft der Mann es doch, den Schrank des Schreckens irgendwie zu fixieren. Er evakuiert nicht, und es gibt auch keine Toten. Wir sitzen wieder im Gang, außer Gefahr.

Die Polizistin schaut mich an und lächelt mit jenem spöttischen Fatalismus, den jeder regelmäßige Bahnnutzer im Lauf der Zeit mimisch virtuos zu beherrschen lernt. „Er hätte uns ja wenigstens“, sagt sie, „ein Freigetränk spendieren können.“

Aber man darf nicht zu viel verlangen. Immerhin haben wir überlebt.

19 August 2012

Blau gemacht



Überseebrücke mit Elbphilharmonie im Hintergrund



Hafen, Schaufelraddampfer



Cap San Diego, 90-Grad-Blick über die Reling aufs Wasser



Michel



Reste des Cruise-Days-Feuerwerks über der Reeperbahn



Hafencity, ein weiteres neues Architektenschelmenstück



Seilerstraße, nach einem Windstoß


16 August 2012

Eine Frage von Leben und Tod



Heute morgen plötzlich saß dieses Insekt an der Badezimmerdecke. Die Decke ist ziemlich hoch, da kommt man ohne Leiter nicht ran. Es sei denn, man stellte sich auf den Badewannenrand, aber einen Oberschenkelhalsbruch riskieren wegen eines Insekts?

Entscheidend ist eh, um was genau es sich handelt. Ist es eine Motte oder ein Schmetterling? Diese Frage entscheidet über Leben und Tod.

Wir beschlossen, erst einmal abzuwarten. Das Tier sollte selbst über sein Schicksal entscheiden – egal, ob es nun Motte war oder Schmetterling. Also öffneten wir morgens, bevor wir die Wohnung verließen, das Badezimmerfenster sperrangelweit. Eine Option. Eine Chance.

Als wir abends zurückkamen, saß das Insekt noch immer an der exakt gleichen Stelle. Ein Beharrungsvermögen, das mir Respekt abnötigt. Langweilt es sich nicht, so ohne In- und Output? Hat es nichts zu tun? Keine Verpflichtungen? Was sagt die Familie dazu? Hat sie schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben?

Fragen, auf die das Insekt keine Antwort wusste. Oder jedenfalls keine gab. Ms. Columbo richtete einen Fön auf das Tier. Seine Flügel flatterten im heißen Luftstrom, doch bewegte es sich keinen Millimeter. Es blieb sitzen, wie angewurzelt.

Abends verließen wir das Haus. Vorher hatten wir erneut das Badezimmerfenster offengelassen. Als wir nach Hause kamen, saß der geflügelte Stoiker noch immer an der gleichen Stelle. Muss er denn nicht fressen? Und wenn ja, was – meine bügelfreien Oberhemden?

Dieses da an der Decke sitzende Tier verändert das Klima in der Wohnung. Wir fühlen uns wenn nicht bedroht, so doch stumm belagert. Dabei tut es nichts, gar nichts. Es sitzt nur da, als hätte es alle Zeit der Welt. Als lauerte es auf seine Chance.

Sicherlich weiß es nicht, dass ich eine Waffe in der Hinterhand habe, bei der ihm auch die Deckenhöhe nichts mehr nützte: einen Staubsauger. Aber ich würde natürlich nur eine Motte dieser letalen Behandlung unterziehen, keinen Schmetterling.

Ist vielleicht ein Zoologe anwesend? Das wäre super. Bis zur gerichtsfesten Identifikation der Spezies belassen wir es erst mal weiter bei einem sperrangelweit offenen Badezimmerfenster.

Der Staubsauger scharrt allerdings schon mit den Hufen. Nur dass Sie’s wissen.



14 August 2012

Lattentreffer



Nach der Schreibtischfron begab sich abends eine Truppe fideler Gesellen gen Adolf-Jäger-Kampfbahn (welch ein Name!), um ebenda dem Vorbereitungsspiel des HSV bei den Amateuren von Altona 93 beizuwohnen.

Was als gepflegtes Beiprogramm eines linden Sommerabends geplant war, wurde phasenweise schier historisch. Der Fünftligist nämlich führte nach nur 19 Minuten 2:0 und zur Halbzeit noch immer 2:1 – ein Zwischenstand, den spontan auf ein Trikot zu drucken wohl jeder FC-St.-Pauli-Fan im Stadion kurz erwog.

Zu Beginn der zweiten Hälfte traf Son die Latte, kurz darauf rannte ein blitzeblanker Flitzer übern Platz. „Umgekehrt“, sagte Ms. Columbo, als ich ihr davon erzählte, „wäre es interessanter gewesen.“

Ich wusste sofort, was sie meinte.

12 August 2012

Albern an der Trave



Am Strand von Travemünde sah es heute wirklich prachtvoll aus. Den für diese Jahreszeit erheblich zu kühlen Wind in ostseeunüblicher Stärke, der uns ungemein zusetzte, sieht man auf diesem Foto freilich nicht.

Wir versuchten ihm mit Fußballspielen im Sand, Frisbee im Wasser und erheblichem Rotweinkonsum auf den nur mühsam zu bändigenden Sitzdecken zu trotzen, doch er war letztlich stärker. Morgen werden wir wahrscheinlich alle in jenem niesintensiven Zustand sein, in dem der arme Einheitskanzler bereits anreiste.

Dem Franken flog ein Insekt mit Tigerstreifen in den 2009er Saint Chinian, was eine gute Gelegenheit bot, den bereits getwitterten Kalauer von der „schusssicheren Wespe“ auch verbal noch einmal anzubrigen. Vorher hatte ich Ms. Columbo bereits erheitert mit diesem hier: „Kräuterdiplom bestanden – mit Basili cum laude“.

Wie man sieht, schafft es auch der schärfste Travemündener Wind nicht, uns die Albernheit aus den Hirnen zu blasen.


10 August 2012

Ein Wutbürger



Der Mittdreißiger, der drahtig und wirrhaarig durch die Seilerstraße (Foto) stampft, schreit, schimpft und brüllt vor sich hin. Dabei ist er ganz alleine. Nirgends ein konkreter Adressat für seine fäkalverbalen Wutkanonaden.

Wir stehen auf dem Balkon und schauen ihm sinnierend nach. „Wahrscheinlich Tourette“, vermute ich. „Ja“, sagt Ms. Columbo, „auch wegen der Bewegungen.“ „Tourette – oder einfach Kiez“, ergänze ich.

Kurz: Das Wochenende hat begonnen.

08 August 2012

Fundstücke (163)



1. Der am Holstenplatz entdeckte Volldeppenapostroph erfüllt bereits den Tatbestand der Selbstverstümmelung. Es sei denn, der Namensgeber des Restaurants hieße in der Tat „Alfon“. Dann will ich kaum was gesagt haben.
 

2. Als wir in Frankreich waren, habe ich sie schon ein bisschen vermisst, gloriose Mopo-Sätze wie diese: „Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul machte sie sich unsterblich, daran änderte auch ihre Beerdigung 1998 nichts.“ Oder der hier: „Sie könnte seine Enkelin sein, wenn sie ein Mensch wäre – oder er ein Pferd, je nachdem.“ Na ja, jetzt werden wir ja wieder versorgt mit solchen Meisterstücken, aber nur zweimal die Woche. Jede Dosis darüber hinaus könnte sich auf unser Artikulationsvermögen auswirken, und das wollen wir nicht riskieren.



3. Keine Ahnung, warum die Verbreitung dieses lobenswerten sanitären Einrichtungsgegenstandes rückläufig ist, denn der Bedarf scheint mir seit Jahren eher zu wachsen. Das Marburger Restaurant Zur Sonne jedenfalls widersteht dem Zeitgeist und lässt es trotzig drin: das altehrwürdige Kotzbecken.



2. An diesem Freud’schen Verschreiber auf immonet.de kann man gut erkennen, auf welch fruchtbaren Boden das Denken der Occupybewegung schon längst gefallen ist. Prognose: Die Reichensteuer kommt durch.

07 August 2012

Im Pokalfieber



Ein Abend mit (der gertenschlanken) Lena Meyer-Landrut, die uns ihr neues Album vorstellen will.

Sie hat den berühmten Pokal mitgebracht, den sie 2010 als Sensationssiegerin des Eurovision Song Contest in Oslo ergatterte. Ich kenne ihn aus dem Fernsehen. Jetzt allerdings steht er einsam auf der Fensterbank, und ich beginne mit der Kollegin D. Pläne zu schmieden, wie wir das Ding unauffällig außer Haus bugsieren könnten.

„Schließlich brauchen wir was fürs Alter“, begründet D. sehr nachvollziehbar, „das Ding können wir irgendwann auf Ebay versteigern.“ „Nein, bei Sotheby’s“, korrigiere ich. „Bringt mehr.“

Der Pokal ist ziemlich groß und außerdem schwer, wie ich nach einem Hebetest feststellen muss. Eindeutig massives Kristallglas. Und in D.s Handtasche passt er nicht rein.

In Frauenhandtaschen – winzigkleiner Exkurs – passt übrigens nie was rein, wahrscheinlich nicht mal ein Nanopartikel, den man zufällig auf der Straße gefunden haben könnte, sofern er groß genug wäre, dass man ihn ohne Mikroskop sähe. Ein ESC-Siegerpokal jedenfalls passt schon mal gar nicht in eine Frauenhandtasche.

Ich bin gänzlich ohne mobilen Stauraum da, erwäge aber findigerweise meine mitgebrachte Jacke zur Pokaleinwicklungsdecke umzuwidmen und D. zwecks Absicherung als bewegliche Camouflage zu benutzen.

Doch dann gibt es auch schon das Menü; wir ergeben uns augenblicklich willig der Befriedigung elementarer Bedürfnisse und verwerfen alle Pläne hinsichtlich unserer Altersversorgung.

Zum Nachtisch schneidet Lena auch noch Käsekuchen für uns, und so einer fürsorglichen jungen Frau kann man – auch wenn sie gertenschlank ist – unmöglich einen Kristallglaspokal stibitzen, das sieht auch die zunächst murrende D. ein.

Das Album kommt übrigens Mitte Oktober.


04 August 2012

Alles bleibt anders



St. Pauli hat uns wieder, und alles ist beim Alten.

Schubweise regnet es wie aus Hafencontainern, eine Reeperbahnpunkerin erleichtert sich zwischen parkenden Autos, und das neulich schon mal im gleichen Zusammenhang erwähnte Nachbarpärchen rammelt ab 5 Uhr morgens mit erstaunlicher Ausdauer sein quietschendes Bett zuschanden.

Eins aber ist doch anders: In der Postfiliale an der Ecke hat sich ausnahmsweise mal kein Mensch erbrochen, sondern ein Hund. So sieht es zumindest aus; vielleicht bewacht er aber auch nur Herrchens Eigentum.

Wie auch immer: Wir sind zurück, das wollte ich eigentlich nur sagen.


01 August 2012

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (75)



Der Hähnchengrill in der Clemens-Schultz-Straße hat überraschend den Glühwein von der Karte gestrichen.

Möglicher Grund: Es wird Sommer!


31 Juli 2012

Mal rein theoretisch



Auf einen Deutschen in Paris wirkt es durchaus befremdlich (aber auch irgendwie logisch), dass sich Stalingrad ausgerechnet mit einem Friedhof den Hinweispfosten teilen muss. Und seltsam ist es auch, während einer Metrofahrt in Stalingrad einzufahren.

Paris erinnert damit an die kriegswendende Schlacht von 1942, die eine der wichtigsten Ursachen dafür war, weshalb uns die Weltherrschaft der Nazis erspart geblieben ist. In Deutschland hingegen gibt es, soweit ich weiß, weder Platz noch Straße noch Haltestelle mit diesem Namen.

Habe übrigens ein Kaugummi ins Hafenbecken von Honfleur gespuckt und eins an der Pont Jeanne d’Arc in die Seine. So kontaminiere ich Frankreich punktuell mit DNS. Ein aus nicht näher zu erklärbaren Gründen befriedigendes Gefühl.

Apropos: Auch die Asche von Jeanne d'Arc wurde 1431 der Seine überantwortet. Wo befinden sich die Moleküle dieser Ascheteilchen wohl jetzt, in genau dieser Sekunde? Eine interdisziplinäre (also am besten geologisch-chemisch-physikalische) Theorie dazu würde ich sehr begrüßen. Am besten in den Kommentaren.

29 Juli 2012

Paris makaber



Im tropischen Paris muss man zweimal täglich duschen. Der kurze Regenguss, der zwischendurch wie Manna vom Himmel fiel, war viel zu warm, um der Luft die dumpfheiße Seifigkeit auszuwaschen.

Wir schleppten uns also schwerfällig über die Pflaster von Père Lachaise Richtung sechste Abteilung, um Jim Morrison den obligaten Besuch abzustatten. Ein Sperrgitter steht vor seinem Grab (Bildmitte), auf dessen Stein seine Eltern „καтὰ тὸν δαίμονα ἑαυτοῦ“ eingravieren ließen.

Wortwörtlich bedeutet das „Gemäß seinen Dämonen“; im übertragenen Sinne und etwas böswillig könnte man die Inschrift auch mit „Das hast du nun davon“ übersetzen. Vielleicht ein Generationskonflikt ad infinitum, wer weiß.

Auf den steinernen und einem gänzlich Unbeteiligten zugeordneten Gedenkbau davor haben Morrison-Fans ihre Liebeserklärungen gekritzelt, die selten über einzelne Songfetzen („When the music’s over/turn out the light“) oder Tiefsinniges wie „Jiiiiiiiiiiiiiiiiiimmy“ hinausreichen. Als Morrisons ewiger Nachbar würde ich mich bedanken, echt.

Danach ab in die Avenue Montaigne Nummer 12, wo Marlene Dietrich die letzten Jahre ihres Lebens im vierten Stock im Bett lag. Ein überraschend schmuckloses Haus in einer Straße, die in den Erdgeschossen praktisch ausschließlich Modeedelmarken beherbergt, darunter viele Stammhäuser, von denen aus dann Chanel, Dior, Armani etc. die Welt eroberten. Marlene verdämmerte übrigens direkt über Prada.

Da wir in Rouen bereits den Platz aufgesucht hatten, wo Jeanne d’Arc verbrannt wurde, und in Paris den Ort, an dem Marie Antoinette ihren Kopf verlor, kristallisiert sich allmählich ein etwas morbides Motto dieser Reise heraus, was durch meine Lektüre („Rosemarys Baby“, Ira Levin) nicht gerade konterkariert wird.

Eine Grundstimmung, die auch morgen dokumentiert werden wird, das kündige ich schon mal an.


27 Juli 2012

Leine los



Durch die Fußgängerzone von Rouen schlurft ein älterer Herr, der eine Hundeleine hinter sich herzieht. Doch es hängt kein Hund dran. Die Leine hoppelt einfach nutzlos übers Pflaster.

Ein merkwürdiger Anblick, der nur wenige Meter weiter mit einem noch merkwürdigeren Anblick zu korrespondieren scheint. Am Straßenrand nämlich liegt ein leinenloser schlafender Hund – und an ihn kuschelt sich schutzsuchend ein Kaninchen.

Die spinnen, die Gallier.

26 Juli 2012

Cold turkey



In den Shops französischer Autobahnraststätten vergeht einem Hören und Sehen. Für eine 400-Gramm-Tafel Toblerone Gold ruft man dort 15,85 Euro auf, das ergibt einen Kilopreis, der doppelt so hoch liegt wie der von norwegischem Lachs.

Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Sonderanfertigung für französische Raststätten, welche die Sortenbezeichnung „Gold“ wortwörtlich meint und nicht nur als Metapher für beigefügten Honig.

Ich nahm jedenfalls Abstand, auch vom ersatzweisen Erwerb einer „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ für 2,80. Dann lieber darben – und abends im entzückenden normannischen Küstenstädtchen Honfleur zum Trost einen Cidre ordern.

Mit unserer Ankunft dort hatten sich alle Wolken nach Norden verzogen, was einen weiteren Beleg liefert für die Belastbarkeit einer alten These von mir: Wo wir hinfahren, juchzt die Sonne vor Freude, und sei es Herbst in Helsinki.

Mit der Ankunft in Honfleur brach übrigens die erste internetlose Phase seit Jahren an. Ein Schock. Und dennoch: „Du zitterst gar nicht“, konstatierte Ms. Columbo nach eingehender Untersuchung meines Gesamtzustandes. Die Stille unzugänglicher WLANs: ein Gefühl wie in den 80er Jahren.

Auf dem Flussschiff, das uns majestätisch uneilig gen Paris schaukelt, ist das ebenso. Mal schauen, wie lange ich das Zittern unter Kontrolle halten kann.

PS: Sollten Sie sich mal in Honfleur aufhalten und die Welt verfluchen, weil Sie vom Internet abgeschnitten sind, so suchen Sie doch den Place Hamelin in der Altstadt auf. Dort hat ein freundlicher Naivling sein Livebox-WLAN nicht verschlüsselt. Mehr sage ich nicht, compris?

19 Juli 2012

Es bediente uns Herr Kuss



Wir – also die Menschen – schafften es bis auf den Mond und können sogar das Higgs-Boson-Teilchen nachweisen, vermögen es aber nicht zu verhindern, dass Zugtoiletten ausfallen, wenn wir ein Papiertaschentuch hineinwerfen – hallo …?

Immer, wenn ich die Toiletten der Bahn mit meiner Anwesenheit behellige, stellt sich mir zwangsläufig diese Frage. Seit Jahrzehnten schon, deshalb hätte ich gern endlich eine Antwort.

Sie kam zwar auch heute nicht, doch dafür stimmte mich die Rechnung im Speisewagen versöhnlich, trotz ihrer unverhältnismäßigen Höhe. Drauf stand nämlich: „Es bediente Sie: Herr Kuss“. Leider weckte dieser Satz auch unschöne Erinnerungen an vergangene Nacht.

Gegen halb 3 Uhr früh nämlich weckte uns ein rhythmisches Geräusch aus einer Nachbarwohnung. Zunächst dachte ich, jemand übte Seilspringen, doch die Gesamtkonzeption der Geräusche, das Juckeln und Quietschen und die Beifügung weiblicher Ächzlaute legten eher eine Betätigung nahe, wie sie im Film „Delicatessen“ (s. Video) auf sehr vergleichbare Weise hörbar gemacht wurde.

Das beruhigte mich. Denn in dieser Intensität wäre Seilspringen erheblich länger durchzuhalten als die „Delicatessen“-Variante. Und so kam es dann auch. Wham, bam, thank you, Ma’am.

Inzwischen sind wir in Saarbrücken gelandet, um morgen nach Frankreich weiterzureisen. Auf meinen Tweet „Was kann man eigentlich in Saarbrücken so unternehmen?“ erntete ich trotz einer erklecklichen Followerzahl nur Schweigen. „Beredtes Schweigen“, korrigierte mich Ms. Columbo.

Dann also gute Nacht, jetzt schon.


15 Juli 2012

Kloschnorren in der Hafencity



Kurz nach Besichtigung der Queen Mary 2 am Kreuzfahrtterminal beschlich mich ein Bedürfnis, welches man in Hamburg außerhalb der eigenen Wohnung normalerweise nur auf völlig indiskutable Weise oder kostenpflichtig befriedigen kann – etwa indem man sich in einem Café durchs Bestellen eines Espressos teuer das Recht erkauft, die entsprechende Örtlichkeit aufsuchen zu dürfen.

Doch die gewitzte Ms. Columbo bewies besondere Ortskenntnisse: „Wir können zur Campus Suite gehen“, schlug sie vor, „dort ist das Klo gleich hinterm Eingang rechts.“

Und genauso verhält es sich auch. Das Bedienpersonal dieses bistroähnlichen Ladens hat – zumal wenn die Hafencity dank der Queen Mary 2 so heillos übervölkert ist wie heute – dank der kloschnorrerfreundlichen Architektur kaum eine Chance, dich beim Betreten zu erspähen und sodann zu einer Bestellung zu nötigen.

Betrachten Sie diesen Beitrag also als Insidertipp. Aber er muss unter uns bleiben, das müssen Sie mir versprechen.

14 Juli 2012

Zum Jubeln



Eine heldenhafte Kiez-Task-Force hat doch wahrhaftig ihre im Blog hinterlassene Ankündigung wahrgemacht und den traurigen Dino befreit.

Es geht ihm wohl den Umständen entsprechend gut, wie das mir konspirativ zugänglich gemachte Foto zu beweisen scheint. Ob der Laden, der den Dino bisher in Plastikfoliengeiselhaft gehalten hatte, dabei ernsthaften Schaden nahm, werde ich mir jetzt gleich mal anschauen.

Jedenfalls danke, Männer!

13 Juli 2012

Gebenedeit



Man mag es kaum glauben angesichts dieses sogenannten Sommers, doch dieses Foto der tanzenden Türme von St. Pauli habe ich – auf Ehr und Gewissen – gestern (in Worten: WIRKLICH UND WAHRHAFTIG GESTERN) auf dem Spielbudenplatz aufgenommen.

Rechts hinter den roten Begrenzungen liegt die Kneipe Herz von St. Pauli, und dort saß währenddessen die Jeunesse dorée Hamburgs – also German Psycho, Frau Cooper, Griesgrämer sowie der Franke – und erwartete mich auf ein Bier. Oder drei.

Manchmal glaube ich wirklich, ich bin gebenedeit unter den Menschen.

12 Juli 2012

Zum Heulen



Der türkische Ramschladen am Ende der Reeperbahn, der nach eigenen Angaben schon im Februar 2011 umziehen wollte, ist immer noch hier.

Ob dies ein Glück oder Unglück ist, mögen andere beurteilen, doch wäre er nicht mehr da, hätte ich gestern in seinem Schaufenster nicht diesen herzzereißenden Stoffdino in Plastikfolie entdecken können.

Zweifellos handelt es sich dabei um den traurigsten Anblick, der zurzeit auf dem Kiez zu sehen ist – zumindest so lange diese Frau dem Viertel fernbleibt.