04 Juli 2010

Ohne Worte (79)



Titelfoto der Berliner Morgenpost von heute


Getting high on Low



So grobschlächtig und -gestrickt die englische Boulevardpresse auch ist: Mich als Kalauerfan (Was hat man nach schlaflosen Sabbelnächten im Web? Einen Chatlag …) erfreut sie doch immer wieder.

Die Sun, so was wie die englische BILD-Zeitung, glänzte heute nach dem grandiosen deutschen Kantersieg gegen Argentinien mit der wieder mal clever erfundenen und – wie es sich gehört – unübersetzbaren Doppelbedeutung „Not even Klose“.

Die Argentinier waren also nicht mal nah dran am Sieg, und zwar wegen Miro – gut gelöst, Sun.

Ein bisschen schade ist es natürlich, dass sie keine Umlaute können, die Briten. „Jogi Low“ klingt dadurch despektierlicher, als es wahrscheinlich gemeint ist. Wortspiele mit „Low“ sind der Sun aber bisher noch nicht eingefallen; dazu müsste das deutsche Team wohl erst mal verlieren. Andererseits wäre ein die hiesigen Fangefühle trefflich beschreibendes „Getting high on Low“ schon jetzt überaus angebracht.

Es gibt übrigens auch sehr alberne Kalauer. Wie z. B. konnte man ca. 1970 Platten mit Hippiemusik guten Gewissens beschreiben? Ganz klar: als Fixvorlagen …
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03 Juli 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (31)



Immer mal wieder gibt es auf dem Kiez tragischtraurige Wechselwirkungen, wenn die gezackten Ränder zweier sich völlig fremder Welten aneinander vorbeischrammen.

Dabei entstehen schrille Dissonanzen, die allerdings manchmal fast den Rang einer Botschaft gewinnen. Wie hier an der Reeperbahn Ecke Talstraße.

02 Juli 2010

Es lebe die Lager-Mentalität!



Wir befinden uns im Jahr 2010 n. Chr. Das ganze Hamburger Fanfestgelände (Foto) ist von den Dänen besetzt. Das ganze Fanfest? Nein, ein von einem unbeugsamen Mann betriebener Stand hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten …

Und jetzt noch mal von vorn: Das Fanfest ist komplett durchmonopolisiert, was punktuell von besonderer Tragik ist. Ich spreche vom Bier. Ausgeschenkt wird nämlich nur Carlsberg.

Die dänische Brauerei wirbt seit Jahrzehnten mit dem unfreiwillig selbstentlarvenden Slogan „Probably the best beer in the world“. Denn wie wir alle wissen, gestattet das Wörtchen „probably“ einen ziemlich großen Interpretationsspielraum. Wenn man den Slogan zum Beispiel experimentell um einigen Ballast erleichtert und auf „probably beer“ zurechtkürzt, käme man der Wahrheit schon sehr nahe.

Jedenfalls gibt es fanfestweit nur Carlsberg, selbst an Verkaufsständen, die von oben bis unten mit Astra-Logos beklebt sind (ja, ich weiß: Astra gehört zu Carlsberg. Und trotzdem.). Selbst der todtraurige Englandpavillon darf weder Lager noch Ale ausschenken, sondern nur mit schmerzlichem Lächeln Cider. Oder eben Carlsberg.

So geht es jedem Stand. Jedem? Nein: Der Franke, dieser durchtriebene Fuchs, hat mit einem untrüglichen Gespür, welches sich nur dank einer Sozialisation mit Gerstensaftschwerpunkt erwerben ließ, den einzigen Stand auf dem ganzen Heiligengeistfeld aufgetan, der klammheimlich ein anderes Bier ausschenkt.

Ich verrate hier auf gar keinen Fall, welcher das ist, ja, ich verschweige sogar, ob es sich um einen großen oder kleinen Länderpavillon handelt; schließlich muss dieser Claim geschützt werden vor den Nachstellungen der Fifaflitzpiepen und Carlsbergkapos. Seine genauen Koordinaten dürfen nicht in falsche Hände geraten. Herrschaftswissen, Herrschaftszeiten!

Jedenfalls vertickt der Inhaber dieses subversiven Standes unter der Hand ein sehr süffiges Lagerbier, welches natürlich nicht auf seiner Karte steht. Der Franke muss in seiner grobschlächtigen Art, der bisweilen wirklich so etwas wie Leutseligkeit zu entströmen vermag, derart vertrauenserweckend gewirkt haben, dass der Standinhaber ihm in einem Anfall von Zutraulichkeit sein gefährliches Geheimnis verriet – und den Franken qua Ausschank gleichsam vom Mitwisser zum Mittäter machte.

Für sein Lager nimmt der Mann sogar einen Euro weniger als Carlsberg für seine „probably“-Plörre. Klar, die Dänen müssen ihre abgedrückten Lizenzmillionen, mit denen sie sich das Fanfestmonopol erkauft haben, wieder reinholen. Aber mitmachen muss man das trotzdem nicht, wenn man andere Quellen hat. Und die haben wir, verdammt …

Mutmaßungen, welcher tapfere Länderpavillon hier in Hamburg konspirativ wider den Weltkonzern löckt, sind natürlich willkommen – und werden möglicherweise gar mit diskreten Hinweisen belohnt.

Wenn ich übrigens ab heute Nacht spurlos verschwunden sein werde, dann sucht mich in einem dänischen Gulag. Aber sucht mich!

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01 Juli 2010

Esprit nur in der Fantasie

Im Bauch-/Rückenkurs, unter der Knute von Drillinstructor Chris.

Muskelberg (keuchend): „Ah, bitte nicht das Fenster aufmachen! Ich bin verschwitzt, dann habe ich morgen einen steifen Nacken.“
Matt: „Ach, Sie schwitzen …?“

Tja, leider ist dieser kleine Dialog nur semidokumentarisch. In Wahrheit war der Muskelberg eine feingliedrige Blondine, in Wahrheit sagte ich keuchend „Klar doch“ und schloss espritlos das Fenster, in Wahrheit schwitzte ich genauso wie sie.

Das Leben ist eben kein Wunschkonzert. Erst recht nicht an fußballfreien Tagen.


PS: Für das Foto gibt es einen verblüffend logischen Grund: Es entstand in der U-Bahnstation Rödingsmarkt – also in unmittelbarer Nähe des Fitnessclubs. So fügt sich eins zum andern, und zwar auf beglückend harmonische Weise.

30 Juni 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (30): Fanfest, Heiligengeistfeld



Wenn ich das grottigste Spiel der WM wählen sollte, fiele mein Urteil sofort auf die gestrige Achtelfinalpartie Parguay–Japan, die ich nur mit kaltem Wasser und ausgiebiger FAZ-Lektüre (und zwar der Ausgabe von gestern!) überstehen konnte.

Mir gegenüber saß ein Paraguayer in vollem Ornat, den ob der dargebotenen Leistungen bleierne Müdigkeit übermannte, obwohl das Poldibild über ihm ständig adrenalinhaltige Wellen durch den Deutschlandpavillon sandte.

Später trafen vier Kumpels des Schläfers ein und weckten ihn. Sie waren durchweg genauso gekleidet, also jeweils mit puffroten Hosen und weißen Stiefeln. Nur dank der Gruppendynamik schliefen sie nicht gemeinsam ein, doch da hatte ich mein Bild schon längst im Kasten. Verzeih mir also, Paraguayo – aber dafür seid ihr wenigstens weiter.

Viel Spaß dann gegen Spanien.


28 Juni 2010

Glory Days



Rauschhafte WM-Tage; sie erinnern an Bruce Springsteens „Glory Days“.

In zwei Wochen schon werden sie wieder vorbei sein, und ich werde mich wieder fragen, wie und wohin sie so schnell verschwinden konnten, diese gloriosen Tage des Fieberns, Freuens und Bangens – und des Essens exotischer Sachen im Fanpark auf dem Heiligengeistfeld, wo jedes Teilnehmerland seinen Ess- und Trinkpavillon hat.

Heute etwa aß ich in Südafrika (Foto) erstmals im Leben Impala und Gnu – und muss sagen: So richtig verstehen kann ich die Löwen in der Kalahari nicht. Andererseits essen die das roh und nicht als Steak, vielleicht kommt das besser.

Es ist übrigens ein verdammt cooles Gefühl, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen. Wobei: In Wahrheit stehen ja ganz andere dort, und zwar die Bakterien.

Doch daran darf man keinen Gedanken verschwenden – vor allem nicht an gloriosen Tagen wie diesen.

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27 Juni 2010

Der Achtelfinaltag



Es lag nicht nur an der grauenerregenden Kombination Halbmarathon und Harley Days, dass wir heute morgen den chaotischen Kiez gen Blankenese verließen; es war auch eine Art Übersprungshandlung, um die Spannung vor dem Achtelfinale gegen England irgendwie in den Griff zu kriegen.

Zum Spiel tuckerten wir dann nachmittags per Fähre (Foto) wieder zurück bis zum Fischmarkt – anders als der hypernervöse Franke, der frühmorgens in die Einsamkeit des Alten Landes geflohen war, um sich dort den lieben langen Tag fahrig lesend an einen Teich zu legen.

Ich wusste ja, dass dieser Typ schräg ist, aber sooo schräg …?

Nach einem gloriosen 4:1 ist der Besuch des Fanfestes auf dem Heiligengeistfeld besonders erhebend und unbedingt zu empfehlen – vor allem wegen des önologisch gut sortierten Italienstandes.

Der Weinhändler dort vertritt die paradoxe, aber äußerst charmante These, man müsse unbedingt noch vor dem Leberschaden alle Weingenüsse der Welt erlebt haben; denn wenn man ihn einmal hätte, den Leberschaden, dann dürfe man ja nicht mehr ran an die feinen Tropfen.

Ich habe selten etwas Überzeugenderes gehört in meinem ganzen Leben.

26 Juni 2010

Zwischen Hölle und Meyer



Der Teufel hat die Hölle umbenannt.

„Hinfort“, sprach der Blödmann, „sollst du, Hölle, auf einen neuen Namen hören, und er sei Harley Days.“ Leider bekam die Direktive keiner mit, wegen des Lärms.

Ich habe übrigens unwiderlegbare Beweise dafür, dass viele Harleyfahrer dieses Blog lesen – und abgrundtief hassen. Sonst würden sie wohl kaum ausgerechnet unter unserem Balkon, den sie unablässig unterqueren, jeweils im Leerlauf den Motor aufheulen lassen.

Das klingt wie Tarzan mit Stirnhöhlenkatarrh, was die breitärschigen, wehrmachtshelmbedeckten Bart- und Kuttenclowns aber (natürlich) nicht zu kümmern scheint.

Viel besser hingegen klingt Felix Meyer, ein Straßensänger, der so gut ist, dass er jetzt einen Plattenvertrag bekommen hat, und womit? Mit Warner.

Und Recht.


PS: Am Montagabend um 21.30 Uhr spielt er im Grünen Jäger auf St. Pauli. Und bestimmt ist er nach dem Fußballspiel auch noch dort. Wie ich.


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24 Juni 2010

Fundstücke (86 revisited): Züchtige Flora



Gerade erst forderte ich von manchen Bäumen das Tragen von Hosen. Daraufhin wies heute Blogleser P. Krok nach, dass diese Forderung keineswegs abwegig ist, sondern sich manche Vertreter dieser Pflanzenfamilie längst einer züchtigeren Bekleidung befleißigen.

Es geht doch!

Allerdings bin ich mir sehr sicher: Die hier abgebildeten Hosen-Träger sind nicht auf St. Pauli zu Hause. Zu prüde.

Fundstücke (86): Frivole Flora



Kieztypische Freizügigkeit hin oder her:
Manche Bäume sollten Hosen tragen, echt.

Entdeckt am Elbpark.

23 Juni 2010

Besuch in der Herbertstraße



Heute betrat ich die sagenumwobene Herbertstraße, allerdings nur zum Besuch einer Bar- und Ausstellungseröffnung und sonst gar nichts.

Die Adresse lautete Herbertstraße 7. „Hoffentlich verwechsle ich nicht den Eingang“, hatte ich zum Abschied noch scherzhaft zu Ms. Columbo gesagt – und verwechselte dann auch prompt den Eingang nicht.

Allerdings wäre selbst das gar nicht so schlimm gewesen, denn die illustre Hurenschar, die hier normalerweise in den Fenstern sitzt und thematisch abgestufte Dienste offeriert – von Schmusekätzchen über Wuchtbrumme bis Peitschenfrau –, hatte sich vorsichtshalber in ihre Gemächer zurückgezogen angesichts der zu erwartenden Journalist(inn)en und des einen Bloggers (= moi).

Mit O-Saft und Prosecco
begossen wurde nämlich die Eröffnung der Kontaktbar Domenicas Lounge, wo diverse Fotos der legendären Sexdienstleisterin an den Wänden hängen und die Flasche Dom Perignon (warum eigentlich IMMER Dom Perignon?) 750 Euro kostet.

Sofern dem kontaktgeneigten Gast das zu hoch erscheint, kann er auch ausweichen auf Wodka für 150 den Liter oder einen Cappuccino für sagenhaft schmale 2 Euro. Alles darf, nichts muss.

Ich nutzte die einmalig kostengünstige Gelegenheit, um einen benachbarten und wie gesagt verwaisten Hurenpräsentationsraum aufzusuchen (Foto oben), weil man so was sonst immer nur von außen sieht und ethnologisch-kiezkulturelle Aspekte unbedingt für eine nähere Inaugenscheinnahme sprachen.

Erstes Fazit: Alles ist immer rot. Übrigens auch die Wände von Domenicas Lounge und sogar der Schirm im … hüstel … Ständer.

Unter den Gästen waren diverse altgediente Kiezianer, und dementsprechend verliefen auch die Dialoge. Einer erzählte von seinem Vater, der im Krieg in Frankreich stationiert war und den Nazigrößen Prostituierte zuführen musste.

„Mein Vater“, erzählte er, „konnte nämlich Französisch.“ Rückfrage des etwa gleichalten Günter Zint: „Auch die Sprache?“

Nur wenige Meter entfernt von der neuen Bar saß übrigens Domenica einst im Fenster und buhlte um devote Kunden. Der verwaiste Stuhl, der heute dort zu sehen war, verströmte eine gewisse Melancholie und schien zu flüstern: Alles ist endlich, auch die Liebe und die Lust.

Obwohl die Liebe sicherlich nur sehr selten vorbeischaute in der Herbertstraße 7. Wenn überhaupt.

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22 Juni 2010

Fundstücke (85)



Ein babyblauer Uraltkäfer mit aufgeschnallten Skiern im Frühsommer mitten auf dem Kiez – wtf?


21 Juni 2010

Ein Werk von schieferer Bedeutung



Auf dieses beeindruckende Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum stieß ich am Wochenende in Altona.

Das raffiniert vernetzte Strich- und Linienmuster mit dem markanten Winkel von 91 (sic!) Grad oben rechts (sic!!!) soll offensichtlich die inzwischen überholte Idee des Räumlichen mit deutlich empörtem Duktus aufs zweidimensional Flächige herunterbrechen und klassische Künstlerpositionen als zerschredderten Kommunikationsprozess in den (gerade abgeschafften!) „Raum“ stellen.

Affektive und transformierende Motivation der die Funktionalität von Le Corbusiers Tapetencolorierungen noch einmal insistierend untermauernden Arbeit ist zweifellos eine neue Ethik des Mit- und vor allem Gegeneinanders, in deren atemberaubend wagemutigem Rostrot eine latent lauernde Gewaltsymbolik „aufgehoben“ ist, deren radikal kapitalismuskritische Sprengkraft erst bei Kunstlicht frappant zutage tritt.

Vielleicht interpretiere ich aber auch einfach zu viel hinein in diese Fahrspuren von Palettenwägelchen im Mercado zu Ottensen.

20 Juni 2010

Freiheit für Herrn Hugs!



Am Hamburger Berg, der kneipengespickten Hauptsaufzone all jener Kiezbesucher, die an käuflichen Damen weniger Interesse haben als an einem gut gezapften Astra, sitzen drei Tauben auf dem Gehweg und picken behaglich in einer großen Lache Erbrochenem.

Diese Tiere sind sich einfach für nichts zu schade, und ich bin heilfroh, dass sie unseren Balkon dank des aufgespannten Netzes nun praktisch nicht mehr besuchen können mit ihren kleinen stinkenden kotzegesprenkelten Schnäbeln.

Die Begegnung mit dem ekelresistenten Taubentrio hatte ich auf dem Weg zum Flohmarkt in der Wohlwillstraße, wo an einem der Stände eine patente Blondine kostenlose Umarmungen anbot – ein Service, der anscheinend nicht der Knaller des Tages war, denn einem Bekannten, den sie gerade herzte, als ich vorüberging, sagte sie: „Du bist erst der zweite!“

Dabei war die Frau keineswegs das Musterbeispiel einer knollengesichtigen Vettel, der man intuitiv die Schuld an der taubenverzaubernden Lache am Hamburger Berg in die Schuhe geschoben hätte. Vielleicht wusste einfach die Mehrzahl der Passanten nicht, was unter „free hugs“ zu verstehen sein sollte.

Angesichts der politisch stets hochmotivierten Kiezbewohnerschaft hätte sich dahinter ja auch die Aufforderung an irgendeinen US-Gouverneur verstecken können, einen gewissen Herrn Hugs endlich aus dem Gefängnis zu entlassen, vergleichbar mit dem Fall Mumia Abu-Jamal. Befreit Herbert Hugs! Er sitzt schon viel zu lange in der Todeszelle!

Temporärer Themenwechsel: „Fick dich in den Arsch, du Hurensohn!“, soll der Fußballspieler Nicolas Anelka nach Angaben französischer Medien sinngemäß zu seinem Trainer gesagt haben, und obwohl diese Aufforderung selbst für einen Nationalcoach physisch nur sehr schwer umzusetzen ist, also ganz offensichtlich scherzhaft gemeint war, musste der Spieler sofort nach Hause fahren.

Anelka hätte dem Trainer statt des missverständlichen Imperativs besser einen „free hug“ anbieten sollen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

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19 Juni 2010

Fundstücke (84)



Diese haushohe Werbefläche, die uns seit einigen Wochen anschreit, wenn wir den Balkon betreten, passt heute plötzlich noch besser als gestern.

Hinter Michael: der Michel,
schemenhaft, stoisch und ganz und gar kickabhold.


18 Juni 2010

Schland ist gar nicht schlimm



Kaum geht die WM los, schwenken die Fans Flaggen in den deutschen Landesfarben und fahren sie an Autofenstern spazieren. Und kaum passiert das, kriegen manche Linke einen automatischen Beißreflex, der Plakate wie das abgebildete hervorbringt (Dank an Miele, der mir das Foto mailte).

Sie zeigen damit allerdings nur, wie verknöchert sie inzwischen sind. Sie sind selbst längst – auch wenn sie jung sind – zu Ewiggestrigen geworden, die gar nicht mehr merken, wie gegenstandslos ihr Eifer längst ist, wie grandios er ins Leere läuft.

Das war natürlich mal anders. Wer in den 50er und 60er Jahren die Fahne schwenkte, tat das meist zur Bemäntelung seiner braunen Vergangenheit – weil er die schwarz-weiß-rote Nazifahne nun mal nicht mehr schwenken durfte. Zurecht wandte sich die APO damals gegen das neue Staatssymbol, weil das, was ihm voranging und sich nun schwarz-rot-gold bemäntelte, noch lange nicht verarbeitet und überwunden war.

Doch was damals der Verschleierung der eigenen Vergangenheit diente, ist im Lauf der vergangenen drei, vier Jahrzehnte – oh Wunder – zum Symbol der längsten Phase parlamentarischer Demokratie in der deutschen Geschichte geworden. Wer heutzutage Schwarz-Rot-Gold schwenkt, huldigt damit – sofern er es überhaupt politisch meint – höchstens den Adenauers, Erhards, Schmidts und Merkels, ob er sie nun gewählt hat oder nicht.

Er zeigt damit demokratische Gesinnung – also das, was den Neonazis so immens zuwider ist. Deshalb sieht man auf Demos der Rechten auch niemals Schwarz-Rot-Gold, sondern immer nur Schwarz-Weiß-Rot, natürlich ohne Hakenkreuz, man will ja nicht in den demokratischen Knast …

Wenn die verknöcherte Linke sich nun aufregt über das Herzeigen eines demokratischen Symbols, zeigt sie damit nur, wie wenig sie die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland begriffen hat und wie sehr sie noch in den Denkmustern der APO steckengeblieben ist.

Natürlich nichts gegen die APO: Sie war unabdingbar für die Austragung des Generationskonfliktes, der durch die personale Kontinuität nach Ende des Hitlerregimes unausweichlich wurde. Ihre Relevanz in den 60ern und 70ern ist unbestritten. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Und gerade deshalb ist es geradezu tragisch, wie jene, die sich einst zurecht als fortschrittlich betrachteten, plötzlich zu Ewiggestrigen werden; zu Linken, deren politisches Lebenselixier offensichtlich die Schimäre eines Nationalismus ist, die sie weiter aufrechterhalten müssen, um selbst nicht unterzugehen.



Diese Ewiggestrigen brauchen die Nazis – oder zumindest etwas, das sie für naziähnlich halten; und sie brauchen bedingungslos die Illusion, Schwarz-Rot-Gold sei automatisch naziähnlich. Sie brauchen diese Lebenslüge, um ihre eigene Existenz weiter rechtfertigen zu können.

Deshalb ist die Realität ihr größter Feind. Die Realität, die da lautet:

a) Die schwarz-rot-goldene Fahne steht für Demokratie, nicht für Nationalismus.
b) Jene, die momentan die Fahne schwenken, meinen nicht mal einen demokratischen Nationalstaat, sie meinen eine Fußballmannschaft.

Diese Mannschaft ist übrigens längst geprägt von einer bunten Palette von Einwandererkindern, für deren Integration und Deutungshoheit die APO in den 60ern leidenschaftlich auf die Barrikaden gegangen wäre. Fast die Hälfte des aktuellen Kaders besteht nämlich aus Spielern, von denen mindestens ein Elternteil nicht aus Deutschland stammt, sondern aus:

Polen (Klose, Podolski, Trochowski), Türkei (Özil, Taşçı), Spanien (Gomez), Brasilien (Cacau), Tunesien (Khedira), Ghana (Boateng), Bosnien und Herzegowina (Marin) oder Nigeria (Aogo).


Den organischen Zusammenhang von schwarz-rot-goldener Fahne, parlamentarischer Demokratie und multikultureller Integration wollen die Ewiggestrigen allerdings nicht begreifen. Auch nicht, dass jene, die momentan Flaggen schwenken, längst eine angenehm ironische Distanz zu diesem Symbol haben.

Sogar die despektierliche Kurzform „Schland“ für Deutschland ist längst okkupiert, ironisiert und so mit einem nachsichtigen Lächeln eingemeindet worden. Und würde ein echter Nationalist seinem Dackel (oder was immer das ist) dieses lächerliche schwarz-rot-goldene Halsband umschnallen?



Deshalb eine Bitte an die Pawlow’schen Hunde: Kämpft gern gegen die Nazis – aber bitte nicht gegen jene, die das Symbol parlamentarischer Demokratie zur Unterstützung eines Fußballteams „missbrauchen“, welches auch noch auf bestmögliche Weise Aggressionen sublimiert, die früher nur auf dem Schlachtfeld abzubauen waren.

Ich habe heute beim Fanfest übrigens eingedenk des oben abgebildeten Plakats („unverkrampfte Deutsche stinken“) mal an ein paar einschlägig vorbelasteten Fahnenträgern geschnuppert, also vor allem an Spaniern, Argentiniern, Griechen, Japanern, Italienern und natürlich Deutschen.

Und siehe da: Sie müffelten alle ähnlich. Nämlich nach Bier, Schweiß oder Tränen – doch nie nach brauner Soße.

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17 Juni 2010

Fundstücke (83)



1.
In der 1976er Erstauflage des rororo-Taschenbuchs „Hasenherz“ von John Updike (das man übrigens hier skandalöserweise für nur einen Cent kaufen kann, um mal unauffällig an den Beitrag von gestern anzuknüpfen) findet sich auf Seite 260 (und ausschließlich auf Seite 260!) eine derartige Häufung absurdester Tippfehler, dass als Erklärung nur ein Sabotageakt des Setzers in Frage kommt. Wenn Sie das hier lesen, Mister X: Bitte sagen Sie uns, warum Sie das getan haben. Es interessiert mich wirklich! Zumal wir dann gemeinsam klären könnten, was ein „Scamag“ ist; die
Sächsische Cartonnagen-Maschinenfabrik in Dresden können Sie ja kaum gemeint haben. Entdeckt hat den vogelwilden Buchstabensalat Ms. Columbo.



2.
Nirgendwo wäre diese Zierpalme deplatzierter gewesen als vor dem durch sie hervorragend verdeckten Wegweiser im Gesundheitsamt Altona. Glückwunsch an den unbekannten Strategen, der diese nicht einfach zu findende Stelle mit traumhafter Sicherheit ausfindig machte.

3.
Nicht vergessen: Wir leben heute im gloriosen Morgen von vorvorgestern – und in der guten, alten Zeit von übermorgen. (Jaja, das habe ich bestimmt schon mal getwittert.)

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16 Juni 2010

Der Verfall des Euro ist unaufhaltsam



Okay, w
as macht man mit einer alten, aber tadellos erhaltenen Musik-DVD, die man nicht mehr haben will? Richtig: auf Amazon verkaufen.

Ich schaue mir also an, für wieviel Euro sie gebraucht dort angeboten wird, und stelle sie ein – für einen Cent weniger als das bisher niedrigste Angebot, nämlich 9,37 Euro. Schlau.

Wenige Stunden später bietet sie jemand für 9,36 an. Ich unterbiete. Er auch. Irgendwann wird’s mir zu umständlich, und ich senke den Preis um einen vollen Euro ab. Er um einen Euro und einen Cent.

Das Spielchen geht eine ganze Weile so weiter. Irgendwann liegen wir zwei Turteltäubchen bei 2,33 Euro, was ein verdammt niedriger Preis ist für diese tolle DVD – zumal der Rest der Amazon-Gemeinde das Ding nur für mindestens 5,80 Euro herausrücken würde.

Mein Konkurrent – ein Händler, der schon fast 40 000 Bewertungen hat – holt irgendwann zum großen Schlag aus und drückt das Ding in einem Anfall kapitalismusfeindlichen Wahnsinns auf 75 Cent. Jetzt reicht’s mir: Ich gehe antizyklisch hoch auf 5,79 Euro. Soll er sein Exemplar doch unbehelligt verramschen, mir doch egal.


Einen Tag später taxiert er es auf 5,78.

Das Spiel geht von vorne los, der spiralige Countdown nimmt erneut Geschwindigkeit auf. Bei 2,27 lasse ich ihn wieder hängen und springe erneut auf 5,79. Ich muss nicht erwähnen, wie er reagiert.


Inzwischen macht mir das Spiel Spaß. Fast würde ich es bedauern, wenn irgendjemand meine DVD kaufen würde; dabei habe ich nun wirklich keine Verwendung mehr dafür.

Eine neue Runde wird eingeläutet. Zug um Zug geht es auf altbewährte Weise wieder nach unten, die Sprünge abwärts werden immer größer, und irgendwann werfe ich ihm einen Brocken vor die Füße, den er nicht mehr schlucken wird: 14 Cent.

14 Cent also, für eine neuwertige DVD ohne Makel, von einem der größten Rockstars aller Zeiten. Das ist schon kein Schnäppchen mehr, das ist obszön, das ist nicht mehr zu verantworten, vor allem nicht gegenüber der Dritten Welt.

Abends schaue ich rein und sehe sein Gegenangebot: 13 Cent.

Meine Selbstsicherheit ist schlagartig wie pulverisiert. Guckte ich in den Spiegel, ich wäre sicherlich leichenblass. Mir bleibt jetzt nur noch eins: Mit zitternden Fingern klicke ich auf – „kaufen“.

Jetzt habe ich zwei Exemplare einer DVD, die ich schon als Einzelstück unbedingt loswerden wollte. Irgendwas ist hier schrecklich schiefgelaufen, und ich werde wohl ewig darauf sitzenbleiben. Denn eins ist sicher: Niemand auf der ganzen weiten Welt wollte dieses Teil erwerben, selbst für lausig-lachhafte 13 Cent nicht.

Nur ich. Und selbst das nur aus den falschen Gründen.

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15 Juni 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (29): Fanfest, Heiligengeistfeld



Man könnte meinen, es ginge um ein Autofestival, übertragen vom NDR.

Doch wenn man genau hinschaut, wenn man die Automodelle links und rechts der Bühne wegblendet und die Markenlogos erst recht, dann dämmert einem irgendwann, dass all das übertüncht werden soll, doch
auf durchschaubarste Weise.

Sponsoring funktioniert im besten Fall wie jener Parasit, der sich im Hirn der Schnecke einnistet und irgendwann so groß wird, dass er ihren Willen umprogrammieren kann. Dann tut die Schnecke nur noch das, was das Überleben des Parasiten sichert – und stirbt dabei.

Das Spiel endete übrigens 1:1, aber ich habe nicht mal mitgekriegt, dass Italien den Torwart ausgewechselt hat.