01 März 2007

Fundamental verwirrt

Im Juni letzten Jahren beteiligte ich mich an einer Protestaktion gegen das neue Urheberrecht, das zum einen die Kreativen schlechter stellte, zum andern tiefe Eingriffe in den privaten Gebrauch erworbener Kulturprodukte vorsah.

Damals versandte ich parteiübergreifend Mails an Hamburger Abgeordnete im Bundestag. Heute nun, nach ziemlich exakt acht Monaten, erhielt ich eine Antwort des SPD-Mannes Niels Annen.

Doch ehrlich gesagt: Sie befriedigt mich nicht. Deshalb habe ich noch einige Nachfragen. Hier sind sie:

Sehr geehrter Herr Annen,

vielen Dank für Ihre ausführlichen Erläuterungen zum Urheberrecht. Allerdings habe ich zwei Passagen entdeckt, die Sie mir bitte noch einmal näher erklären müssen.

Einerseits schreiben Sie:


„Außerdem ist die Herstellung einer Privatkopie dann nicht erlaubt, wenn hierfür ein wirksamer technischer Kopierschutz umgangen werden muss.“

So weit, so schlecht. Plötzlich aber heißt es nur wenige Absätze später:

„Im Übrigen ist auch die Umgehung von Kopierschutzmaßnahmen, wenn dies ausschließlich zum eigenen Gebrauch oder für persönlich verbundene Personen (Freunde, Verwandte) erfolgt, nicht strafbar.“

Ja, was denn nun? Stehe ich nun mit einem Bein im Gefängnis, wenn ich meiner Schwester eine kopiergeschützte CD mithilfe geeigneter Software kopiere oder nicht? Ihre beiden Aussagen widersprechen sich diametral, und das bestätigt meine Auffassung: Das neue Urheberrecht trägt mehr zur Verunsicherung der Bürger bei als zur Klärung der Rechtslage.

Es war ja schon widersprüchlich genug, einerseits die Privatkopie weiterhin zu gestatten, zugleich aber Schutzmaßnahmen zu erlauben, deren Umgehung zum Zweck einer Privatkopie strafbar ist. Und jetzt erklären Sie mir auch noch innerhalb weniger Absätze, dass die Umgehung des Kopierschutzes zwar illegal sei, aber schließlich doch nicht strafbar?!

Sie verstehen sicherlich meine fundamentale Verwirrung. Daher bin ich sehr gespannt auf Ihre klärenden Worte.

Vielen Dank für die Mühe.

Mit besten Grüßen

Matthias Wagner


Fortsetzung folgt. Hoffentlich. Denn ich will nicht ins Gefängnis.

28 Februar 2007

Nie mehr verreisen

Ms. Columbo hat sich bis zum Jahresende etwas sehr Ehrgeiziges vorgenommen: Sie will einen Liegestütz schaffen.

„Sehr schön! Aber warum verdoppeln wir nicht gleich das Ziel auf zwei Liegestütze?“, versuche ich mich in der Rolle des personal trainer, der ja immer einen Ort jenseits des vorhandenen Potenzials anpeilen muss.

„Nein“, sagt Ms. Columbo bestimmt, „ich setze mir nur realistische Ziele.“

Der diesjährige Winter tat das auch, und sein wichtigstes hat er schon erreicht: der wärmste aller Zeiten zu werden. Auf dem Spielbudenplatz spiegeln sich die Lichtspiele in nassem Beton statt im Schnee, und ich ertappte mich heute dabei, bereits ohne schützende Mütze durch Ottensen zu laufen.

Ja, fast ist er schon wahr, dieser schöne Satz aus Sibylle Bergs letztem Brief: „Draußen ist Frühling“, schreibt sie, „und das Gute am Rest des Lebens könnte sein, dass wir nie mehr verreisen müssen.“

27 Februar 2007

Esoterik und Klassenkampf

Am 2. April 1968 zündeten Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Horst Söhnlein und Thorwald Proll in Frankfurter Kaufhäusern antikapitalistische Brandsätze – gleichsam der Urknall der RAF. Proll führt heute einen Buchladen in unserer Nachbarschaft, was Ms. Columbo und mich zu spinnerten Ideen animiert.

Ihr Vorschlag, testweise einen Brandsatz in seinem Laden zu zünden („Er müsste ja Verständnis dafür haben!“), wird wegen der eindeutigen Rechtslage rasch wieder verworfen. Ich liebäugle nun mit der Idee, demnächst mal beim freien Unternehmer Proll vorbeizuschauen und mit Unschuldsmiene rechte Literatur bei ihm zu ordern, zum Beispiel ein Buch seines einstigen Genossen Horst Mahler, der zum Neonazi mutierte und inzwischen Bücher verfasst mit Titeln wie „Schluss mit deutschem Selbsthass“.

Was würde Proll in diesem Fall tun – mich umstandslos rausschmeißen? In Diskussionen verwickeln? Seinen Geschäftssinn über die Ideologie stellen? Die wichtigste Frage aber lautet: Soll ich wirklich einen Ex-Terroristen reizen?

Im Schaufenster stehen übrigens die oben abgebildeteten Bücher. Sie handeln von chinesischen Kraftsuppen, der wundervollen Kraft des Finger-Yoga und Prolls altem Kumpel Andreas Baader. Esoterik und Klassenkampf: die Dialektik der späten Jahre.

26 Februar 2007

Die Schnatterschnepfen

Heute Abend waren wir in der Kantine des Spiegel, wo die Veröffentlichung des ganz ausgezeichnet kompilierten Samplers „Kulturkantine“ gefeiert wurde. Der Songzyklus ist wirklich zum Zungeschnalzen.

Die auftretende Band Lucky Jim sah sich allerdings mit einer Unzahl von Leuten konfrontiert, die sich nicht um die Musik kümmerten, sondern nur um ihren Smalltalk. Journalisten!

Mir platzt da traditionell leicht der Rollkragen, und irgendwann wandte ich mich an die Schnatterschnepfen hinter mir: „Entschuldigen Sie“, sagte ich mit jener gespielten Freundlichkeit, die gerne und zurecht als Vorstufe deutlich bedrohlicherer Sanktionen wahrgenommen wird, „da vorn wird wunderschöne Musik gespielt, möchten Sie nicht lieber zuhören?“

„Oh“, zuckte eine der beiden, die auch noch rauchte, furchtsam zusammen, „sind wir zu laut?“ Ich nickte schmerzlich und verwies auf den weitaus geeigneteren Nachbarraum, in dem zwar genau derselbe psychedelische Spiegel-Kantinenfarbterror das Hirn zum Flirren brachte wie hier, sich aber immerhin keine aparte Indiefolkband das Herz aus dem Leib spielte, um Schnatterschnepfen zum Schweigen zu bringen.

Ich werde nie verstehen, was solche Menschen auf Veranstaltungen wie diese zieht. Geht es ihnen nur um kostenlose Grünkohllasagne in Kräutersoße? Gebratene Scampi auf Pilz-Rucola-Risotto in Safransauce? Geht es nur darum – um Lachstatar auf Reibekuchen mit Kaviarschmand? Quarkklöße mit Pflaumenröster als Nachspeise? Oder den 2005er Tariquet Sauvignon?

Offenbar ja, ja, ja, denn die beiden machten trotz meiner Ansprache genau dort weiter, wo ich sie unterbrochen hatte, wenngleich leiser.

Überall gab es diese summenden Smalltalknester, und ich sah die Vergeblichkeit meiner Bemühungen ein, war aber froh, meinen Frust wenigstens in eine schneidend freundliche Zurechtweisung sublimiert zu haben. Man muss sich Lucky Jim heute Abend als unglückliche Band vorstellen.

In der Spiegel-Kantine hängen übrigens gefühlte zweitausend orange Lampen von der Decke, doch alle – und damit sind wir bei einer sehr aktuellen Diskussion – verfügen bereits über Energiesparbirnen.

Wenn der Spiegel in dieser Sache demnächst mal Position ergreift, weiß ich das jetzt einzuordnen. Insofern doch ein lehrreicher Abend.

25 Februar 2007

Für rektale Anwendung

Plötzlich liegt diese Tube auf meiner Bank in der Umkleidekabine, direkt neben meinem Handtuch. Bevor ich duschen gegangen bin, war sie noch nicht da. Jetzt aber liegt sie hier und fordert mich stumm auf, Verantwortung für sie zu übernehmen.

Allerdings enthält sie laut Aufschrift eine Salbe gegen Analerkrankungen („für rektale Anwendung“), und das verleiht dem Fall eine gewisse Pikanterie.

Mir wird plötzlich klar, dass ich die Tube in der Hand halte und die ganzen anderen nackten Männer sehen können, wie ich ihre Aufschrift studiere. Rasch schaue ich mich um – mit jenem Blick, der „Diese Tube gehört mir nicht, echt!“ ausdrücken soll. Hoffentlich stoße ich nicht auf Gegenblicke, die man als „Schon klar, du Hämorriden-Heini!“ interpretieren muss.

Doch alle tun so, als hätten sie nichts gesehen, und vielleicht stimmt das ja auch. Schnell lege ich die Tube wieder auf die Bank, ganz an den Rand, fern von meinem Handtuch.

Sie oben an der Rezeption abgeben, kommt übrigens nicht in Frage, schon aus Eigenschutz. Wenn, dann sucht sie der wahre Besitzer sowieso hier, in der Umkleidekabine, aber er wird den Teufel tun und an der Rezeption fragen, ob möglicherweise eine Salbe gegen Analerkrankungen für rektale Anwendung abgegeben worden sei.

Es sei denn, er ist ein Geizhals Dagobert Duck’schen Zuschnitts – denn sie ist haltbar bis 2009.

PS: Die Salbe hat verblüffenderweise eine eigene Website.

24 Februar 2007

Ein Cyborg fliegt auf

In meiner Stammdrogerie in der Clemens-Schulz-Straße beschäftigen sie statt echten Menschen neuerdings Cyborgs, die natürlich exakt wie echte Menschen aussehen. Vielleicht sind es auch Androiden wie in Ridley Scotts „Alien“, das kann man von außen natürlich nicht letztgültig beantworten.

Man merkt es nur an Kleinigkeiten – und auch nur dann, wenn der normale Ablauf gestört wird. Als ich zuletzt da war, bezahlte ich mit EC-Karte. Der Cyborg – ein Mauerblümchen mit Weitsichtigenbrille, über die es lächelnd mit geneigtem Kopf drüberlinste, wie es auch weitsichtige Menschen tun würden – schob mir das Kartenlesegerät mit den Worten rüber: „Bitte Geheimzahl eingeben und bestätigen bitte.“

Alles ganz normal also, die geschickt eingebaute „Bitte“-Dopplung war natürlich ein Trick, der den robotischen Kern des Mauerblümchens vertuschen sollte. Ich tat wie geheißen, die „Verkäuferin“ zog meine Karte aus dem Lesegerät, überreichte mir die Quittung und sagte: „Auf Wiedersehen – und vielen Dank, dass Sie bei uns waren.“ Was man Cyborgs oder Androiden halt so einprogrammiert, wenn sie in Kiezdrogerien als Verkäuferinnen durchgehen sollen.

Doch dann kam die Störung im Ablauf: Ich hatte vergessen, die mitgebrachte leere Kohlensäurepatrone gegen eine neue einzutauschen. Sie hatte sich bereits der Kundin hinter mir zugewandt, musste ihren normalen Ablaufmodus also unterbrechen und sich erneut mir widmen, einem Kunden also, der eigentlich längst abgefertigt war.

Und jetzt drang allmählich ihr Cyborgsein durch. Denn sie linste lächelnd mit geneigtem Kopf über ihre Weitsichtigenbrille, wie es auch weitsichtige Menschen tun würden, und schob mir das Kartenlesegerät mit den Worten rüber: „Bitte Geheimzahl eingeben und bestätigen bitte.“

Das war exakt dieselbe Floskel wie vor einer Minute. Ein echter Mensch aber hätte an dieser Stelle eine Variation eingebaut, da er davon ausgegangen wäre, der Kunde könne sich noch an den unmittelbar zurückliegenden Ablauf erinnern, wüsste also Bescheid, was zu tun sei. Zum Beispiel hätte sie, wäre sie kein Cyborg gewesen, lächelnd und mit geneigtem Kopf sagen können: „Na, Sie wissen ja, wie das geht, nicht wahr?“

Ein erster Verdacht keimte in mir auf, doch ich ließ mir nichts anmerken, sondern tippte erneut meine Geheimnummer ein. Die Buchung erfolgte, sie zog meine Karte aus dem Lesegerät, überreichte mir die Quittung und sagte: „Und einsneunundachtzig zurück. Auf Wiedersehen – und vielen Dank, dass Sie bei uns waren.“

Ich schaute auf die Quittung wie ein grenzdebiler Bonobo und dann sehr verblüfft zu ihr hoch, dann noch mal auf die Quittung. Dort war die Kartenzahlung ausgewiesen. Also nix mit Wechselgeld. Ich schaute wieder hoch, doch sie hatte sich bereits der Kundin hinter mir zugewandt.

Sowieso war ich von der Tatsache, gerade der Selbstenttarnung eines Budnikowsky-Cyborgs beigewohnt zu haben, viel zu frappiert, um das einzig Logische zu tun: auf reale Auszahlung der fiktiven einsneunundachtzig zu bestehen.

23 Februar 2007

Lauter pointenlose Belanglosigkeiten

Manche Arztpraxen öffnen irrsinnigerweise morgens um 7. Und mancher Volldepp von Patient lässt sich um diese Zeit einen Termin aufschwatzen.

Heute morgen also klingelt mein Wecker um 6.14 Uhr, oder besser: Er traktiert mich mit seinem üblichen Ätherrauschen aus Wort- und Musikfetzen, denn seine Antenne ist wirklich mies – ein plastikummantelter Draht, der schlaff im Nichts baumelt und nur widerwillig Funkwellen einfängt, die er noch widerwilliger in beliebige Geräusche übersetzt. Egal: Er weckt.

Um diese Jahreszeit ist es morgens um kurz vor 7 noch dunkel auf dem Kiez, und ich hege die morbid romantische Hoffnung, über leere Straßen nach Altona radeln zu können, ja, ich hoffe insgeheim sogar auf die postnukleare Aura eines Films wie „Quiet Earth“, wo die verschonten letzten Menschen durch entvölkerte Städte ziehen, Tankstellen und Supermärkte plündern und vergnügt falsch herum durch Einbahnstraßen brettern.

Doch die Hoffnung zerstiebt schnell, ich bin keineswegs allein: Die fleißigen Lieschen der Stadtreinigung kurven lärmend und stinkend überall herum, vor allem auf den Radwegen, es ist verdammt noch mal gefährlicher als zur Rushhour. Von wegen Quiet Earth.

Wenn man morgens um 7.15 Uhr einen Arzt aufsucht, der gerade mal eine Viertelstunde vorher seine Praxis aufschloss, erwartet man zügig bedient zu werden, denn wo um alles in der Welt kann der Doktor zwischen 7 und 7.15 Uhr schon viel Zeit verlieren, hm? Nun, meiner schafft das. Erst um viertel vor 8 bin ich dran, nach einer Minute Gedankenaustausch mit ihm muss ich in ein anderes Zimmer, wo die Arzthelferin von neulich (heute ist ihr String weiß!) mich seltsamen Tests unterzieht, in denen Schwachstrom und ein Elektrodentrio wichtige Rollen spielen.

Danach darf ich mich wieder vorm ersten Behandlungsraum platzieren. Ein privilegiertes Gefühl gegenüber den armen Wartezimmerwürsten, die heute noch gar nicht vorgelassen wurden zum Weißkittel, während ich bereits auf meinen zweiten Termin warte, ha!, und das im gedimmten Licht des Vorraums, wo ich mich in eine ähnliche Situation hineindämmere wie einst Kafkas verlorener Held vor der Tür des Gesetzes. Allerdings drohe ich unablässig wegzunicken, was Kafka nicht gerecht wird.

Später geschieht zu Hause Denkwürdiges. Als ich die Wasserflasche zum Trinken ansetze, entgleitet mir der Drehverschluss und fällt zu Boden, wo er polternd herumhoppelt. Doch anstatt in die hinterste Ecke zu kullern, also durch den schmalen Gang zwischen LP-Phalanx und schwer verschiebbarem Weinklimaschrank bis zu jener Stelle, wo eine kleine Lücke unter der Altbaufußleiste klafft, in die er, der
Drehverschluss, mit ein wenig Trickserei auf Nimmerwiedersehen hineingepasst hätte; statt also genau das zu tun, was herunterfallenden Drehverschlüssen genetisch imprägniert ist, liegt er nach all seinen Rumgetänzel direkt unterm Stuhl, zwischen meinen Füßen.

Ich kann ihn einfach so aufheben, im Sitzen.
Ein irrer Tag.

Fundstücke (33)

1. Der Promoter und Musikjournalist Ralph Buchbender sagt Wahres und Witziges über die Musikbranche: „Nach eingehender Betrachtung aller Aspekte bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es im Grunde keine Entschuldigung für Popmusik gibt. Popmusik zahlt sich monetär kaum noch aus, ist in der Herstellung zu teuer und verkündet meist unpraktikable Lebenskonzepte. Doch das beste Argument für ein generelles Verbot ist die Tatsache, dass die meiste Popmusik schlicht schlecht ist. Niemand stellt tausend Tonnen Erdbeermarmelade her, nur weil er erwartet, dass fünf Tonnen davon essbar sind. Die Popindustrie indes tut genau dies.“

2. „irgendwann merkt man dann, dass man copyrights nicht essen kann“, sagt Felix zum gleichen Themenkomplex.

3. Bela B. von den Ärzten enthüllt in einem Interview mit Zeit.de Bestürzendes über den FC St. Pauli, der als linker alternativer Stadtteilverein eigentlich sein natürlicher Verbündeter sein müsste – und es lange Jahre auch war. Seit einiger Zeit aber laufen Belas Songs nicht mehr im Stadion, und er glaubt zu wissen, dass „einer der Stadionsprecher Die Ärzte hasst. Er steht auf Die Böhsen Onkelz, da sind wir Feindbild. Das hat er mir selbst so erzählt.“ Ein Böhse-Onkelz-Fan – ein Quasinazi also – am Millerntormikro? Bela irrt sich, er muss sich irren.

4. Ich hätte nicht gedacht, dass Bogota (Entfernung: 9198 km) weiter weg liegt von der Reeperbahn als Tokio (8970 km) oder das südafrikanische Houghton Estate (9027 km). Apropos Houghton Estate: Ich hege die schmeichelhafte Vorstellung, es sei Nelson Mandela gewesen, der von dort aus meine Website angesurft habe, er kommt nämlich von dort. Mandela wäre der kleine weiße Punkt in der Bildmitte unten, über dem antarktischen Packeis. Ja, Bloggen bildet, gerade geografisch.

Alle bisherigen Fundstücke: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, Oh, my Google!

21 Februar 2007

Bald knallt’s

Das Laufhaus an der Reeperbahn ist – nach allem, was ich weiß – eine Art Supermarkt des Sex’.

Man flaniert durch die Gänge, inspiziert die Auslage, und wenn einem etwas gefällt, dann kauft man es – Sex und hopp. Man muss es allerdings sofort benutzen und darf es nicht mitnehmen.

Das Laufhaus ist – nach allem, was ich weiß – das größte Bordell auf dem Kiez, und es wird seit der Megarazzia vom November 2005, als der damalige Bosslude samt Entourage hopsgenommen wurde, von den Hells Angels kontrolliert. Vorgestern tauchte ein Typ mit einer Waffe im Laufhaus auf, ballerte herum und traf einen Hells Angel ins Bein.

Seither hält der Kiez die Luft an. Man weiß genau, wie die Angels solche Fälle regeln – ein Revancheschuss ins Bein gilt ihnen keinesfalls als adäquat, nicht mal annähernd. Es wird also bald knallen. Aber wo?

Einer hat jedenfalls einen Logenplatz.

Streit um den Pornobalken

Während der Fußballübertragung Madrid gegen Bayern streite ich mich mit meinem Begleiter A. über die genaue Ausformung jenes Bartes, den man gemeinhin als „Pornobalken“ bezeichnet. Für mich ist das etwas Buschiges, Horizontales, welches eine scharfe Begrenzung zwischen Nase und Oberlippe bezeichnet, wobei es den Verlauf der Letzteren recht exakt nachzeichnet, sie aber keineswegs umschließt (links).

A. allerdings beharrt störrisch auf etwas Kuranyihaftem (rechts), also auf einem Bartverlauf, der auch das Kinn umrandet. Noch während ich mich echauffiere über diese ungeheuerliche Behauptung, reklamiert A. eine Kernkompetenz für sich, die aus gewissen beruflichen Erfahrungen herrührt.

Er habe nämlich, führt er aus, einst in dem Film „Trommelfeuer aus der Sackkanone“ den plötzlich versagenden Hauptdarsteller würdig vertreten, und zwar zur Zufriedenheit aller, vor allem der Hauptdarstellerin. Daher wisse er sehr genau, was unter einem Pornobalken zu verstehen sei, jawohl.

Von soviel Sack- … äh, Sachkenntnis überwältigt, erwäge ich einen Augenblick lang, klein beizugeben, doch das ist einfach nicht meine Art. So steht es in Ermangelung einer objektiven neutralen Instanz am Ende Remis. Zu Hause muss ich natürlich trotzdem zwanghaft googeln nach dem „Trommelfeuer aus der Sackkanone“ – vor allem um herauszufinden, unter welchem Pseudonym A. damals den Hauptdarsteller gedoubelt hat. Dirk Diggler? Bud Naked? Benny Behind?

Allerdings stoße ich nur auf Seiten, die lustige Filmtitel auflisten, darunter „Der Greis ist heiß“, „Kuck mal, wer da schluckt“, „Vegetarierinnen zur Fleischeslust gezwungen“ oder „Kung Fu Fisting“. All das hilft mir natürlich nicht entscheidend weiter. Ich muss wohl das Remis akzeptieren. Wikipedia allerdings gibt mir qua Beschreibung recht, obwohl auch dort die „smoking gun“, also die Abbildung, fehlt.

Ich muss jetzt unbedingt diesen Film auftreiben, aus diversen Gründen.

19 Februar 2007

Die sixtinische Hölle

Tagein, tagaus steht eine Frau am Tresen der Sixt-Filiale an der Reeperbahn. Ganz links, halb hinter dem Palmwedel: Dort ist sie zu sehen.

Unablässig getunkt und getaucht in orangerotes Kunstlicht fristet sie dort ein tristes Dasein, welches die wärmende Farbe kaum lindern dürfte. Sie sieht nie die Sonne und ich nie einen Kunden am Tresen.

Die eingefärbte Einsamkeit der Frau in ihrer sixtinischen Hölle scheint umfassend, ihre Isolation komplett – eine Art Guantanamo Bay mitten auf dem Kiez, nur ohne Verhöre. (Aber nicht ohne Folter.)

Und während sie gefesselt ist an den verfluchten Tresen und sich nicht bewegen darf, weil doch mal ein Kunde kommen könnte oder wenigstens eine versprengte Saufnase, steht hinten rechts der Slogan: „the spirit of mobility“.

Wer immer sich diese Kombination aus Internierung einer Frau und einem die Bewegungsfreiheit preisenden Spruch ausgedacht hat: Sein zweiter Vorname ist Hohn und sein dritter Spott.


Der Kurs der Sixt-Aktie ist übrigens auf dem höchsten Stand seit siebeneinhalb Jahren.

18 Februar 2007

Die meisten Unfälle passieren zu Hause (2)

Nichtsahnend stehe ich in der Küche und schneide selbstgebackenes Brot. Plötzlich höre ich rechts von mir einen Knall, kein Augenzwinkern später zischt mir ein unbekanntes Flugobjekt millimeterknapp über den Resthaarflaum, klatscht links von mir an die Wand, ditscht dumpf auf die Anrichte und stürzt von dort auf den Linoleumboden, wo es eiernd austrudelt.

Direkt vor den Füßen von Ms. Columbo übrigens.

Ich fühle mich irgendwas zwischen verdutzt, schockiert und froh, überlebt zu haben. „Oh“, sagt Ms. Columbo. Und sie hat allen Grund dazu. Denn wie sich herausstellt, ist sie die Ursache.

Sie hat versucht, aus zwei Metern Entfernung einen Avocadokern durch die offene Balkontür zu feuern. Dabei ist sie so zielsicher vorgegangen wie einst Naohiro Takahara, als er noch für den HSV spielte, und hat statt des riesenhaft gähnenden Schlundes der Tür das kleine geschlossene Kippfenster darüber getroffen. Der Rest ist bekannt.

Wieso sie überhaupt, frage ich, noch immer zitternd und um Fassung ringend, einen Avocadokern in den Garten statt in den Mülleimer habe befördern wollen. „Ein Avocadokern ist doch natürlich“, sagt sie. „Wie ein Apfelgriebsch.“

Und so kam es, dass anno 2019 doch kein jugendlicher Avocadobaum an jener Stelle unseren Garten verzierte, wo man einst das Mordopfer ausgegraben hatte.

(Hier geht es zu Teil 1.)

17 Februar 2007

Das funktioniert nicht überall

Diese Werbung hängt an einem Haus an der Simon-von-Utrecht-Straße.

Als ich sie sah, dachte ich unwillkürlich: Hoffentlich kommt hier keiner vorbei, der am 11. September 2001 einen Angehörigen verloren hat.

In New York hätte man diese Plakatidee jedenfalls sofort wieder verworfen.

16 Februar 2007

Axel Schulz hatte wirklich ein Problem

Heute enthüllte der 38-jährige Boxerimitator Axel Schulz etwas Unfassliches: einen Schlaganfall.

In diesem Blog kamen schon im November, nach seiner fürchterlichen Ringblamage, bestimmte Verdachtsmomente auf, und zwar anhand der Fernsehbilder.

Natürlich gelang mir keine korrekte Diagnose, ich bin ja kein Arzt. Die Fehlstellung seiner rechten Hand aber erinnerte mich damals an Gicht oder Rheuma. Doch es war, wie sich heute herausstellte, noch viel schlimmer: ein Apoplex.

Vielleicht sollte ich umsatteln – vom Bloggen zur Ferndiagnose.

Ist auch viel lukrativer.

15 Februar 2007

Das Geheimnis des Karnevals

Was ist eigentlich dran an diesem Karneval oder wie das bei euch da unten heißt? Was ist so toll daran? Heute habe ich einen Kölner am Homehandy und frage ihn genau das.

„Was so toll daran ist?“, fragt er rhetorisch zurück. „Nun ja: feiern, vögeln, saufen.“

„Kann ich nachvollziehen“, sage ich. „Nichts gegen feiern, vögeln, saufen – aber warum muss man dabei eine rote Pappnase tragen?“

„Weil dich dann morgen die Nachbarin, mit der du gefeiert, gevögelt und gesoffen hast, nicht mehr wiedererkennt“, sagt er.


Dann legt er auf, die Pappnase holen.
Und ich habe endlich den Karneval verstanden.


Foto: Düsseldorfer Altstadt

Attacke auf Senait

Heute Abend kam das NDR-Magazin Zapp mit einer Sensation um die Ecke: Senait Mehari, die mit ihrer grausigen Lebensgeschichte als Kind im Krieg zwei Buchbestseller gelandet hat („Feuerherz“, „Wüstenlied“), habe nie geschossen oder an der Front gestanden.

Ja, unfassbar – nur steht das genauso auch in Senaits Büchern. Offenbar ist das Zapp aber nicht genug. Ein bisschen Töten hätt’s wohl schon sein dürfen, damit sie den gruseligen Adelstitel „Kindersoldatin“ auch führen darf. Zapp hat sogar generelle Zweifel – und Zeugen.

Ominöse Leute, die einst mit ihr zusammen waren, behaupten nun, das sei damals gar kein militärisches Lager gewesen, wo Kinder zu Soldaten gemacht wurden, sondern eine Art Schule. Und Senait, die heute kochend vor Wut in der Redaktion auftauchte, wo ich ihr die NDR-Pressemeldung zu lesen gab, Senait also würde diese Zeugen sehr gerne sprechen, sie herausfordern, in aller Öffentlichkeit. Aber die wollen nicht oder sind unabkömmlich, sagt Zapp.

Dabei wären ihre Interessenlagen vielleicht hochbrisant. Einer etwa soll laut Senait der islamistisch geprägten Rebellenorganisation EFL (Eritrean Liberation Front) angehören. Dass dieser Mann die Glaubwürdigkeit eines Ex-Models, das frei herumläuft und gegen die einstige EFL-Praxis wettert, Kinder zu Soldaten auszubilden, liebend gerne pulverisieren möchte, dürfte klar sein.

Leider war so etwas Zapp egal. Lieber hat die Redaktion in hübscher Kleinarbeit Interviewfetzen von Senait so perfide zusammengeschnipselt, als hätte sie gleichsam ein Geständnis abgelegt.

Zur Klarstellung: Ich kenne Senait seit zwei Jahren, ich mag diese temperamentvolle „Buschtante“ (sie über sich), ich bin auf ihrer Seite. Nicht jede ihrer Erinnerungen mag exakt stimmen – wie könnten sie das auch? Die Ereignisse liegen mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, sie war damals ein kleines Kind, und ja, sie verwechselt in ihrem Buch Koyoten mit Hyänen.

Doch das, ein paar dubiose Zeugen, die sich vor ihrer Wut verstecken, und ein tendenziös geschnittener Zehnminutenfilm können nichts daran ändern: Dass ich ihr glaube – und froh bin, dass sie niemals einen Menschen erschossen hat.

13 Februar 2007

Das Rolltreppentabu

Als ich in St. Pauli aus der U-Bahn steige und gen Ausgang strebe, bietet sich mir ein seltsam asymmetrisches Bild: Auf der fünf Meter breiten festen Treppe zähfließender Verkehr kurz vorm Vollstau, dagegen null Menschen rechts auf der defekten Rolltreppe. Die ich verwundert natürlich benutze.

Und während ich fröhlich und unbehindert hochfedere wie eine verspielte Bergziege, huscht mein Blick links hinüber zur dichtgedrängten Phalanx verärgerter Treppenschnecken, die meine gänzlich freie Bahn wie auf ein Kommando rechts liegengelassen haben.

Warum bloß wirkt eine nicht mehr rollende Rolltreppe auf einen Schlag nur noch so anziehend wie eine doppelt brustamputierte Pamela Anderson?

Ich meine: Die Stufen sind doch weiterhin da, auch wenn sie sich nicht mehr bewegen. Man kann sie benutzen, eine nach der anderen, ich bin der lebende Beweis. Aber nein, die Masse meidet sie mit instinktiver Scheu.

Vielleicht – und das ist ein beunruhigender Gedanke – stimmt ja auch mit mir etwas nicht.

12 Februar 2007

Angst und Schrecken in Altona

Im Altonaer Restaurant Eisenstein, wo ich unlängst das Chorizo-Erlebnis hatte, bekommt man stets vorab ein paar Scheiben Brot mit Butter. Ein begrüßenswerter Service, aber in quantitativer Hinsicht ausbaufähig. Denn das Eisenstein knappst. Dabei sind die maximal drei winzigen Scheibchen lebenswichtig, wenn man etwa ein Pastagericht bestellt, denn was ist das Schönste daran? Das Soßentunken mit saugfähigem Brot.

Bei den üblichen Eisenstein-Portiönchen reicht das Brot aber nur bis zum ersten Drittel der Pastaportion. Also ordere ich gewöhnlich nach – was sich leichter anhört, als es ist. Denn dieser verständliche Wunsch des Königs Gast stößt beim Bedienungspersonal auf Abwehrreflexe. Offenbar manövriert das Restaurant derart knapp an der Klippe des ökonomischen Kollaps’ entlang, dass es mitentscheidend für seine Existenz ist, ob man einen weiteren Kanten des Mehlgebäcks herausgibt oder nicht.

Vor allem die ältere verkniffene Blonde mit der Brille („die stumme Hexe“) ist eine Meisterin im Ignorieren lockender Rufe und windmühlenartiger Armbewegungen. Und wenn ich es schließlich doch geschafft habe, ihr mit einem Hechtsprung um die Knöchel zu fallen und keuchend meinen Brotwunsch zu japsen, schnappt sie sich mit eisiger Miene das leere Schälchen und schreitet wortlos davon.

Ihre in ebenso schneidender Stille ablaufende Rückkehr nach einigen Minuten ist von Hass und Verachtung geprägt. Ohne jeden Blickkontakt wirft sie im Vorübergehen das nur noch mit zwei winzigen Scheibchen Nachlieferungsbrot erbärmlich bestückte Schälchen auf den Tisch und hinterlässt in mir ein Gefühl der Zerschmetterung und Scham – ganz so, als hätte ich einem taubblinden und halsabwärts gelähmten Waisenkind die Barbiepuppe entwunden und ihr höhnisch auflachend den Kopf abgebissen.

Das alles muss man wissen, wenn man den Ablauf meines heutigen Eisenstein-Besuches korrekt einstufen möchte. Ich hatte eine kleine Tagespizza bestellt, erhielt allerdings versehentlich eine große. Mir fehlte die Zeit und vor allem die moralische Kraft, sie umzutauschen, deshalb aß ich tapfer das über den Tellerrand lappende Teigmonster.

Ein Mordstrumm, ich schaffte ihn gerade so – doch als Folge davon scheiterte ich erstmals in meiner Eisenstein-Geschichte bereits an der ersten Brotportion. Gleich zwei Scheiben blieben übrig, und daraus, das dämmerte mir schnell, erwuchs ein ungeheures Problem für künftige Besuche.

Denn eins war klar: Das Übriglassen dieses Brotes signalisierte der Blonden etwas Grundfalsches – eine überdimensionierte Portion. Möglicherweise schlösse sie daraus, sie könne die Erstration von nun an von drei auf zwei Scheiben reduzieren. Die daraus resultierende Notwendigkeit für mich, in Zukunft noch früher Brot nachbestellen und diesen Bestellvorgang vielleicht sogar ein weiteres Mal wiederholen zu müssen, erfüllte mich mit namenlosem Schrecken.

Nein, an diesen zwei übrigen Scheiben entschied sich alles, hier mussten Weichen gestellt werden. Es gibt ja solche Momente im Leben, wo einem das unmittelbar klar wird – zum Beispiel in diesen Filmen, wo sich der schweißüberströmte Held im Angesicht des tickenden Zeitzünders entscheiden muss, ob er den roten oder den blauen Draht durchschneidet.

Doch was sollte ich tun? Ich war pappsatt, rien ne va plus. Natürlich konnte ich das Brot verschwinden lassen, es somit als aufgegessen suggerieren – aber wohin? Zufällig führte ich keine Tüte mit mir. Und es einfach so in die Jackentasche stecken und hinfort die Restkrümel gedanklich beim Verschimmeln beobachten? Nein, mein Hygieneempfinden ließ das nicht zu.

Es gab schlicht keine Lösung für alle Probleme gleichzeitig, das musste ich mir eingestehen. Und so schnitt ich weder den roten noch den blauen Draht durch, sondern zog aufgewühlt davon und ließ zwei Scheiben Brot auf dem Tisch zurück. In meinem Rücken spürte ich den Hass und die Verachtung der Blonden, vergiftet von zwei, drei Tropfen eisigen Triumphs.

Die einzige Lösung, das fällt mir jetzt erst ein, wäre die, künftig nur noch große Pizzen zu bestellen und nie mehr Pasta. Dann hätte ich gesiegt.

Gewissermaßen.

Windelpflicht für Hunde

Jetzt interviewen sich diese Blogger schon gegenseitig – unfassbar! Die Schnapsidee hatte der geschätzte Heidelberger joshuatree, und meine Uneitelkeit reichte nicht aus, dieses Ansinnen – wie es zum Beispiel Mahatma Gandhi getan hätte – sanft lächelnd abzulehnen. Hier also unser kleines Gespräch, welches er mir erlaubt hat nachzubloggen (dann brauche ich heute keine eigene Idee). Sein Vorspann ist natürlich ein anderer, aber der war mir wirklich entschieden zu peinlich, worauf ich stolz bin.

Joshuatree: Matt, Dein erster Blogeintrag stammt vom 15. September 05. Du versprachst damals, „sporadisch“ über das, was auf der Rückseite der Reeperbahn passiert, zu berichten. Deine ersten Einträge zeugen auch eher von einer inneren Ablehnung gegenüber Deiner neuen Heimat. Was brachte Ms. Columbo und Dich dazu, überhaupt dorthin zu ziehen?
Matt: Nun, Gelegenheit macht Diebe! Wir erfuhren privat von der Wohnung und schlugen kurz entschlossen zu. Eine Abneigung gegen St. Pauli hegten wir keineswegs. Nur Respekt, mulmige Gefühle – wie es halt so ist, wenn man kleinbürgerlich christlich erzogen wurde und Vorurteile das Weltbild prägen statt sachliches Wissen.
Joshuatree: Das klingt ein wenig nach Kulturschock. Hat die Reeperbahn Dein Gesellschaftsbild verändert?
Matt: Die Gegend hier nimmt einem jedenfalls Illusionen. Zieht man Touristen und Partyvolk ab, bleiben auf dem Kiez überwiegend Angehörige des Prekariats übrig – und natürlich Ms. Columbo und ich …
Joshuatree: Welche Vorurteile haben sich gehalten, welche haben sich zerschlagen?
Matt: Hm, Vorurteile – die über Luden jedenfalls stimmen alle: Goldkettchen, freigelegtes Brusthaar, anabole Physis, Vokuhila, Ferrari. Ich musste mich schon oft mit großer Willensanstrengung zwingen, in Gegenwart dieser Karikaturen auf zwei Beinen nicht laut loszuprusten. Die Folgen wären ja nicht abschätzbar gewesen. Zerschlagen haben sich die Befürchtungen, hier werde man Dauerkunde beim Weißen Ring. Im Gegenteil: Das Sicherheitsgefühl ist größer als einst im reichen und überwiegend verrenteten Elbvorort Sülldorf. Was vielleicht auch daran liegt, dass damals, als wir dort lebten, der Serienkiller Thomas Holst noch seiner Tätigkeit nachging.
Joshuatree: Über erotische Spielzeuge und Spielarten, die Dir täglich begegnen, schreibst Du oft mit einer inneren Distanz – ja, fast Ablehnung. Schafft die Reeperbahn mit ihrer Omnipräsenz eine plump-plakative Übersättigung der persönlichen Erotik, die leise und persönliche Zwischentöne und Interessen nicht zulässt?
Matt: Irgendwas mache ich falsch, wenn schon zum zweiten Mal in diesem kleinen Interview eine Ablehnung aus meinen Texten herausgelesen wird, die gar nicht da ist. Meine Haltung zum Sex-Overkill, der uns hier umgibt, lässt sich, wenn ich in mich hineinschaue, auf folgenden Nenner bringen: ironische Neugier. Man hat immer was zu gucken und zu grinsen, und das kommt in dieser Form auch vor im Blog. Was ich persönlich davon halte und denke und benutze, hat hier aber nix zu suchen – allein schon aus Rücksicht auf eine beteiligte Person, die darüber nicht amüsiert wäre …
Joshuatree: … und was ich sehr gut verstehe. In welche Richtung wird sich das Bloggen generell in Deinen Augen entwickeln?
Matt: Generell? Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht einmal, wo sich mein eigenes Bloggen hinentwickeln wird. Es fällt jedenfalls immer schwerer, unablässig um das ursprünglich definierte Zentrum zu kreisen: St. Pauli. Aber solange das Weitermachen noch leichter ist als das Aufhören, wird tapfer weitergebloggt, über was auch immer.
Joshuatree: Du wirst König von St. Pauli. Welche drei Maßnahmen würdest Du sofort umsetzen?
Matt: Windelpflicht für Hunde, sofortige Zwangsverpflanzung des FC St. Pauli in die erste Liga, empfindliche Bußgelder für Ruppigkeit – und für Wildpinkler vierwöchige Praktika als Toilettenreiniger. Okay, das waren vier. Aber hey: Ich bin der König von St. Pauli!

11 Februar 2007

Ihr String war blau

Beim Friseur. Ich warte und versuche, Vanity Fair zu lesen, doch der gerade einer Glatzenrasur anheimfallende Kunde vor mir erzählt sehr laut von seinem „Afrikanschaman Supermarket“. Der Friseur versteht nicht recht und fragt nach, was ich innerlich auch tue.

„Afrikanschaman!“, insisitiert der Kunde unter Hochdrehen seines Volumereglers. Doch erst beim dritten Mal dämmert uns unisono, wie der Supermarkt beschaffen ist, nämlich „African-german“. Der Geschäftsführer verrät dem Friseur dann auch noch gleich so lautstark wie stolz das Geheimnis seines Erfolges: „Deutsche könne komme un was kaufe, Afrikaner könne komme un was kaufe.“

Eine verblüffend geniale Geschäftsidee, welche der Glatzenkunde offenbar zu höchster merkantiler Blüte geführt hat, denn er zeigt sich sehr laut sehr zufrieden mit den kumulierten deutschafrikanischen Umsätzen. Warum ist da vorher noch niemand drauf gekommen?

Mein Arztbesuch voher war gleichwohl noch interessanter. Seit bestimmt zehn Jahren war ich nicht mehr beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, deshalb weiß ich schlicht nicht, ob es inzwischen Usus ist, dass gutgebaute Arzthelferinnen in halbtransparenten weißen Stoffhosen herumlaufen, durch die man die Farbe ihres Stringtangas sehen kann (blau).

Den Herrn Doktor wagte ich danach allerdings nicht zu fragen. Weitaus mehr brannte mir nämlich mein Problem mit den Tabletten auf der Seele. Ich kann traditionell keine schlucken, selbst winzige nicht, dennoch beharrte der Arzt störrisch darauf, mir welche zu verschreiben.

Mein Vorschlag, doch bitte nach einer flüssigen Variante des fraglichen Medikaments zu suchen, wurde zwar von seiner halbtransparenten Assistentin aufgegriffen, doch mehr als ein bedauerndes Kopfschütteln dieses irritierenden Geschöpfs kam dabei nicht heraus.

Tablettenphobiker wie mich belächelt der Doktor übrigens. Mit jenem rustikalen Humor, der sich nur nach Jahrzehnten des Praktizierens herausbildet, bezeichnete er mich als „Würger“. Allerdings hielt er auch einen potenziellen Trost für mich parat.

„Die meisten Würger“, plauderte er aus dem Spritzenkästchen, „sind entweder Alkoholiker oder hochintelligent. Suchen Sie sich’s aus.“

Habe ich dann auch gemacht.