Heute wird es etwas selbstbezüglich und theoretisch, aber auch sehr spannend, versprochen. Es geht darum: Manipuliert Blogger.com möglicherweise seine Mitgliedszahlen? Einige Indizien scheinen das zumindest nahezulegen.
Wenn man sich zum Beispiel das Profil von ginehidi anschaut, stellt man fest: Es wurde angelegt im Februar 2006 und seither zweimal angeschaut. Auch das benachbarte Profil von dan06 wurde damals angelegt und zweimal aufgerufen. dan06 soll sogar ein Blog haben („danscrew“), aber das ist nicht online. Interessant genug, um ein wenig weiter zu recherchieren. Immerhin suggeriert die achtstellige Zahl am Ende jeder Blogger-URL ja eine hohe Millionenzahl an registrierten Blogs. Doch wo sind die denn alle?
Also habe ich mal wahllos im Heuhaufen herumgestochert und es u. a. mit der sehr viel höheren Zahl 18472123 als URL-Abschluss probiert. Ergebnis: eine julia, wieder angelegt im Februar 2006, angeblich 8 Profilansichten, aber kein Blog. In anderen Ecken – bspw. um die 13.000.000 – sieht es genauso aus. Diesmal sind offenbar im September 2005 massenhaft Namen angelegt worden, z. B. adrikosa. Angeblich 4 Profilaufrufe, kein Blog.
Weitere Stichproben – auch in niedrigen Regionen – ergeben praktisch immer das gleiche Bild: Karteileichen, Dummys, fiktive Blogs ohne Ende; ein echtes ist so selten wie ein Bär im Bayrischen Wald. Es scheint beinah so, als hätte ein Bot hunderttausende (oder gar Millionen?) von Pseudoprofilen angelegt.
Aber könnte es denn wirklich sein, dass der Google-eigene Anbieter Blogger.com im weltweiten Kampf ums boomende Gewerbe exorbitante Mitgliedszahlen vortäuscht? Und warum – um als Marktführer wahrgenommen zu werden? Immerhin geht es ja auch um Werbeeinnahmen.
Wenn jemand eine andere – profanere – Erklärung für das Phänomen der untoten Blogs bei Blogger.com hat: Ich bin sehr gespannt. Denn vielleicht ist es ja wirklich so, dass gefühlte 95 Prozent der Blogger schon nach kurzer Zeit wieder alles stehen und liegen lassen, ohne ihr Blog jemals zu löschen. Das spräche aber auch nicht für die Strahlkraft des Anbieters, wie ich finde. Zumal die üblichen Profilelemente wie Foto (im Bild: meins), Lieblingsfilme usw. ja noch nachzulesen sein müssten. Doch bei all den oben aufgeführten Stichproben fand sich nichts dergleichen; all diese Blogger scheinen kulturelle Banausen zu sein.
Sehr komische Geschichte, nicht wahr? Vielleicht liege ich aber auch völlig falsch, ähnlich wie der durchgeknallte Verschwörungstheoretiker im Film „23“. Also: plausible Theorien erwünscht. Sonst kann ich nicht mehr ruhig schlafen …
„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
19 Juni 2006
Meine trindidadischundtobagoische Freundin
Allmählich wird es wirklich zur Groteske. Seit Frankreich 1998 Fußballweltmeister wurde, haben die Blauen kein einziges WM-Spiel mehr gewonnen. Wenn sie jetzt nicht Togo weghauen – oh je … Schuld sind die Südkoreaner, die Zidane & Co. ein 1:1 abtrotzten und jetzt bessere Chancen als die Franzosen haben, die nächste K.O.-Runde zu erreichen.
Sollten die quirligen Asiaten wirklich ins Achtelfinale einziehen, werden sieben von ihnen nicht nur eine Siegprämie bekommen, sondern auch vom Wehrdienst freigestellt. Zu Südkorea zu halten, kommt also einem pazifistischen Akt gleich, denn ihr Weiterkommen senkte ja logischerweise die globale Kriegsgefahr. Für Schlachten braucht's nun mal Soldaten, und je weniger es davon gibt, desto schwieriger wird es, ein Gemetzel anzuzetteln. Null Soldaten, null Kriege – so simpel ist die Welt. Sieben Südkoreaner weniger sind schon mal ein Anfang. Also: Daumen drücken gegen die Schweiz!
Bei den eben genannten Ländern ist es übrigens einfach, ihre Einwohner zu bezeichnen: Franzosen, Südkoreaner (Foto: Spiegel online), Schweizer. Aber wie ist es mit Trinidad und Tobago? Ganz knifflige Sache, der die Dudenredaktion in ihrem aktuellen Newsletter ein interessantes Kapitel widmet. Ghana geht ja noch („Ghanaer“), ebenso wie Costa-Ricaner. Aber Togo?
Da dachte man immer, mit „Togolese“ korrekt unterwegs zu sein, und muss sich nun belehren lassen: Amtlich heißt es anders, nämlich Togoer. Und Menschen von der Elfenbeinküste heißen nicht etwa „Elfen“, „Elfenbeinküstler“ oder gar „Elfenbeiner“, sondern: Ivorer.
Bei der Ländernamenblähung Serbien und Montenegro stellt sich das Problem jetzt eh nicht mehr, aber wie ist es denn nun mit Trinidad und Tobago – „Trinidader und Tobagoer“? Darf ich vorstellen: meine trindidadischundtobagoische Freundin? Knirsch. Nein: Der Duden erlaubt hier nur die Umschreibung. Man muss also sagen: „Einwohner von Trinidad und Tobago“. Langweilig, aber korrekt.
Ach ja: Sollten sich die Togoer von den Franzosen doch nicht weghauen lassen, wird es ihnen übrigens quietschegal sein, ob wir sie weiter Togolesen nennen oder nicht. Und die Blauen werden wieder mal mit Häme leben müssen – adieu, les bloed …
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Einwohnerbezeichnungen
1. „An englishman in New York“ von Sting
2. „Young americans“ von David Bowie
3. „Zorba the greek“ von Mikis Theodorakis
Sollten die quirligen Asiaten wirklich ins Achtelfinale einziehen, werden sieben von ihnen nicht nur eine Siegprämie bekommen, sondern auch vom Wehrdienst freigestellt. Zu Südkorea zu halten, kommt also einem pazifistischen Akt gleich, denn ihr Weiterkommen senkte ja logischerweise die globale Kriegsgefahr. Für Schlachten braucht's nun mal Soldaten, und je weniger es davon gibt, desto schwieriger wird es, ein Gemetzel anzuzetteln. Null Soldaten, null Kriege – so simpel ist die Welt. Sieben Südkoreaner weniger sind schon mal ein Anfang. Also: Daumen drücken gegen die Schweiz!
Bei den eben genannten Ländern ist es übrigens einfach, ihre Einwohner zu bezeichnen: Franzosen, Südkoreaner (Foto: Spiegel online), Schweizer. Aber wie ist es mit Trinidad und Tobago? Ganz knifflige Sache, der die Dudenredaktion in ihrem aktuellen Newsletter ein interessantes Kapitel widmet. Ghana geht ja noch („Ghanaer“), ebenso wie Costa-Ricaner. Aber Togo?
Da dachte man immer, mit „Togolese“ korrekt unterwegs zu sein, und muss sich nun belehren lassen: Amtlich heißt es anders, nämlich Togoer. Und Menschen von der Elfenbeinküste heißen nicht etwa „Elfen“, „Elfenbeinküstler“ oder gar „Elfenbeiner“, sondern: Ivorer.
Bei der Ländernamenblähung Serbien und Montenegro stellt sich das Problem jetzt eh nicht mehr, aber wie ist es denn nun mit Trinidad und Tobago – „Trinidader und Tobagoer“? Darf ich vorstellen: meine trindidadischundtobagoische Freundin? Knirsch. Nein: Der Duden erlaubt hier nur die Umschreibung. Man muss also sagen: „Einwohner von Trinidad und Tobago“. Langweilig, aber korrekt.
Ach ja: Sollten sich die Togoer von den Franzosen doch nicht weghauen lassen, wird es ihnen übrigens quietschegal sein, ob wir sie weiter Togolesen nennen oder nicht. Und die Blauen werden wieder mal mit Häme leben müssen – adieu, les bloed …
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Einwohnerbezeichnungen
1. „An englishman in New York“ von Sting
2. „Young americans“ von David Bowie
3. „Zorba the greek“ von Mikis Theodorakis
18 Juni 2006
Der Epochenstreit
Heute spätnachts in der Domschänke entbrannte ein astrabefeuerter Disput darüber, welcher kulturellen Epoche wohl die hier abgebildete Speisekarte an der Wand zuzuschreiben sei.
Ich tippte grob auf 1933, doch die Runde erhob empörten Widerspruch, aus dem sich als Kernthese ein „Keinesfalls aus der Nazizeit!“ herausschälte, wofür man vor allem typografische Argumente ins Feld führte.
Stattdessen plädierte man vehement für eine Verwurzelung des offenbar emaillierten Schildes in den 50er Jahren, woraufhin ich mich murrend auf die 40er hochhandeln ließ, ohne zu weiteren Kompromissen bereit zu sein.
Eine endgültige Klärung ist wohl nur durch kompetentes Fachpersonal zu leisten, dessen Eingreifen ich für sehr wünschenswert hielte. Von den drei schwarzen Kreisen war übrigens nur eine mit einer Preisangabe versehen (Mettwurstbrot: 6,50), was eine gewisse Dürftigkeit des kulinarischen Angebotes nahelegt.
Aber darum geht es ja gar nicht.
Ich tippte grob auf 1933, doch die Runde erhob empörten Widerspruch, aus dem sich als Kernthese ein „Keinesfalls aus der Nazizeit!“ herausschälte, wofür man vor allem typografische Argumente ins Feld führte.
Stattdessen plädierte man vehement für eine Verwurzelung des offenbar emaillierten Schildes in den 50er Jahren, woraufhin ich mich murrend auf die 40er hochhandeln ließ, ohne zu weiteren Kompromissen bereit zu sein.
Eine endgültige Klärung ist wohl nur durch kompetentes Fachpersonal zu leisten, dessen Eingreifen ich für sehr wünschenswert hielte. Von den drei schwarzen Kreisen war übrigens nur eine mit einer Preisangabe versehen (Mettwurstbrot: 6,50), was eine gewisse Dürftigkeit des kulinarischen Angebotes nahelegt.
Aber darum geht es ja gar nicht.
16 Juni 2006
Günter Netzer ist ein Außerirdischer
„Sie hatten eigentlich keine Chance“, lobt heute Abend ARD-Mann Gerhard Delling die tapferen Angolaner, „und die haben sie genutzt.“
Ganz klar ein Mottenkistenfund von seltener Muffigkeit. Das mit der keinen Chance ist nämlich ungefähr der älteste Spontispruch der Welt, seit 1969 das gleichnamige Buch von Herbert Achternbusch auf den Markt kam; der Witz hat einen Zottelbart länger als der von Hồ Chí Minh und löste schon anno 1970 durch seine Omnipräsenz auf öffentlichen Gebäuden Mordfantasien bei der Stadtreinigung aus.
All das muss man wissen, wenn man die Reaktion von Dellings Kompagnon Günter Netzer beurteilen will. Der prustet nämlich völlig baff los, er kringelt sich geradezu, schaut dann den Delling verdattert an und sagt mühsam beherrscht so was wie: „Na, Sie haben aber eine Ausdrucksweise!“
Wie man weiß, galt Netzer zu der Zeit, als dieser Spruch als Graffito auf jeder Wand stand, als linker Hippie mit Ferrari, als Rebell am Ball und irgendwie auch in der Politik. Kann es wirklich sein, dass dieser Mann den Gag noch nie gehört hat?
Seine Verblüffung jedenfalls war unmittelbar und echt, und ich nehme deshalb an, der echte Günter Netzer wurde irgendwann Anfang des Jahrtausends gegen ein physiognomisch identisches, aber lausig ausgebildetes Alien ausgetauscht, das die Invasion der Erde vorbereiten soll – ähnlich wie im Film „Invasion of the body snatchers“.
Heute Nacht kriegt E. T. Netzer wahrscheinlich einen Rüffel und dann ein Update auf Alpha Centauri, weil bestimmt auch seinem Führungsoffizier die Wissenslücke schmerzlich aufgefallen ist.
Zu dieser ganzen Alienproblematik erzähle ich demnächst eventuell auch noch eine weitere kleine Geschichte, wenn mir danach ist.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit SciFi-Bezug
1. „A spaceman came travelling“ von Chris de Burgh
2. „Silver machine“ von Hawkwind
3. „2000 lightyears from home“ von The Rolling Stones
Ganz klar ein Mottenkistenfund von seltener Muffigkeit. Das mit der keinen Chance ist nämlich ungefähr der älteste Spontispruch der Welt, seit 1969 das gleichnamige Buch von Herbert Achternbusch auf den Markt kam; der Witz hat einen Zottelbart länger als der von Hồ Chí Minh und löste schon anno 1970 durch seine Omnipräsenz auf öffentlichen Gebäuden Mordfantasien bei der Stadtreinigung aus.
All das muss man wissen, wenn man die Reaktion von Dellings Kompagnon Günter Netzer beurteilen will. Der prustet nämlich völlig baff los, er kringelt sich geradezu, schaut dann den Delling verdattert an und sagt mühsam beherrscht so was wie: „Na, Sie haben aber eine Ausdrucksweise!“
Wie man weiß, galt Netzer zu der Zeit, als dieser Spruch als Graffito auf jeder Wand stand, als linker Hippie mit Ferrari, als Rebell am Ball und irgendwie auch in der Politik. Kann es wirklich sein, dass dieser Mann den Gag noch nie gehört hat?
Seine Verblüffung jedenfalls war unmittelbar und echt, und ich nehme deshalb an, der echte Günter Netzer wurde irgendwann Anfang des Jahrtausends gegen ein physiognomisch identisches, aber lausig ausgebildetes Alien ausgetauscht, das die Invasion der Erde vorbereiten soll – ähnlich wie im Film „Invasion of the body snatchers“.
Heute Nacht kriegt E. T. Netzer wahrscheinlich einen Rüffel und dann ein Update auf Alpha Centauri, weil bestimmt auch seinem Führungsoffizier die Wissenslücke schmerzlich aufgefallen ist.
Zu dieser ganzen Alienproblematik erzähle ich demnächst eventuell auch noch eine weitere kleine Geschichte, wenn mir danach ist.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit SciFi-Bezug
1. „A spaceman came travelling“ von Chris de Burgh
2. „Silver machine“ von Hawkwind
3. „2000 lightyears from home“ von The Rolling Stones
15 Juni 2006
Ex cathedra: Die WM-Checkliste
War heute leibhaftig und persönlich im Stadion beim 3:0 von Ecuador gegen Costa Rica. Hatte Kloß im Hals, als die Spieler einliefen – einfach deshalb, weil diese Kinder des Glücks wirklich und wahrhaftig bei einer waschechten Weltmeisterschaft mitspielten und ich live dabei sein durfte.
Im „Fifa-WM-Stadion“, wie die AOL Arena, die mal Volksparkstadion hieß, für vier Wochen genannt werden muss, waren alle Nichtsponsorennamen entfernt. Na ja: fast. Auf dem Herrenklo entdeckte ein kleiner Junge ein unscheinbares elektrisches Schaltelement in Bodennähe, auf dem „Siemens“ stand.
Das fiel dem Knirps sofort auf, und er wies seinen Daddy mit einer Mischung aus Unverständnis und Empörung darauf hin, doch der war selbst viel zu schockiert ob der skandalösen Entdeckung, um seinem Söhnchen Lebenshilfe gewähren zu können.
Während des Spiels wurden immer wieder Wellen gestartet, die allerdings nach dem ecuadorianischen 1:0 allesamt an der grimmigen Bewegungslosigkeit des frustrierten costaricanischen Blocks verebbten. Natürlich wurde er dafür fröhlich ausgepfiffen.
Da ich bisher alle (in Worten: ALLE) WM-Spiele gesehen habe, fühle ich mich stark genug für eine Kurzeinschätzung sämtlicher Teams. Eins ist sicher: Der Weltmeister ist auch dabei …
Los geht’s:
– Angola: unbedarft und kampfstark. Können einem das Leben schwer machen, aber ohne Angriff wird das nix.
– Argentinien: abgebrüht, kühl, souverän. WM-Mitfavorit
– Australien: bissig, mit Pitbullmentalität. Wird spielerische Mängel aber nicht ausgleichen.
– Brasilien: schlafender Riese mit einem wachen Moment. Sie sollten mal zu elft spielen.
– Costa Rica: harmlos, leblos, müde. Wie konnten diesen sedierten Mittelamerikanern bloß zwei Tore gegen uns gelingen?
– Deutschland: leidenschaftlich, surfend auf der Brandung der Begeisterung. Mit Heimvorteil wirklich ein WM-Kandidat. Hipp, hipp, hurra.
– Ecuador: ballsicher, stark in allen Mannschaftsteilen – und noch nicht richtig gefordert
– Elfenbeinküste: bullenstark und technisch vorzüglich. Könnten Holland schlagen. Nein: müssen!
– England: überschätzt. Große Namen, aber limitierte Mittel. Kein Weltmeister, nein, nein.
– Frankreich: Altherrentruppe, die ihre Erneuerung verpasst hat. Lebt nur noch vom Nimbus. Und der bröckelt.
– Ghana: ohne Sturm kein Dreier: So simpel ist das.
– Iran: zu wenig aggressiv und wohl auch physisch zweitklassig
– Italien: steigerungsfähig, wird das Potenzial bei Bedarf abrufen. Natürlich.
– Japan: außerhalb Asiens wird das nix
– Kroatien: robust und technisch stark; Mannschaft wird demnächst explodieren.
– Mexiko: spielstark, aber ohne die nötige Durchsetzungsfähigkeit. Und Borghetti ist alt geworden, meine Herren.
– Niederlande: Team wird Fahrt aufnehmen. Muss es auch. Robben kaputttreten: eine Option für jeden Gegner.
– Paraguay: Guter Sturm, aber der sollte auch mal richtig hinhlangen.
– Polen: und tschüss …
– Portugal: Wie immer: viele Vorschusslorbeeren, die rasch verwelken werden.
– Saudi-Arabien: gepflegter Spielstil, wenn man sie lässt. Wird aber nicht mehr passieren.
– Schweden: hat Geniestreichpotenzial. Wird im Achtelfinale scheitern.
– Schweiz: sehr bissig und spröde. Harter Brocken. Und wenn sie auch noch anfangen, Tore zu schießen ...
– Serbien-Montenegro: Können sie mehr als zerstören? Sie werden keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.
– Spanien: perfektes Spielsystem, traumhaftes Verständnis. WM-Favorit.
– Südkorea: konditionsstark, aber zu bieder.
– Togo: gute Ansätze, aber starkes Leistungsgefälle im Team. Werden bald abreisen.
– Trinidad und Tobago: grandiose Amateure mit Herz. Hätten sie nur einen Knipser!
– Tschechien: auf dem Zenit, aber vielleicht auch schon zu saturiert. Alles ist möglich, im Guten wie im Schlechten.
– Tunesien: abwehrschwach, aber psychisch stabil – zumindest gegen Gegner aus der gleichen Liga.
– Ukraine: katastrophal. So lebhaft wie der Betonsarkophag überm AKW Tschernobyl.
– USA: schwach wie Bushs Umfragewerte. Selbst gegen Ghana wird das nichts.
Im „Fifa-WM-Stadion“, wie die AOL Arena, die mal Volksparkstadion hieß, für vier Wochen genannt werden muss, waren alle Nichtsponsorennamen entfernt. Na ja: fast. Auf dem Herrenklo entdeckte ein kleiner Junge ein unscheinbares elektrisches Schaltelement in Bodennähe, auf dem „Siemens“ stand.
Das fiel dem Knirps sofort auf, und er wies seinen Daddy mit einer Mischung aus Unverständnis und Empörung darauf hin, doch der war selbst viel zu schockiert ob der skandalösen Entdeckung, um seinem Söhnchen Lebenshilfe gewähren zu können.
Während des Spiels wurden immer wieder Wellen gestartet, die allerdings nach dem ecuadorianischen 1:0 allesamt an der grimmigen Bewegungslosigkeit des frustrierten costaricanischen Blocks verebbten. Natürlich wurde er dafür fröhlich ausgepfiffen.
Da ich bisher alle (in Worten: ALLE) WM-Spiele gesehen habe, fühle ich mich stark genug für eine Kurzeinschätzung sämtlicher Teams. Eins ist sicher: Der Weltmeister ist auch dabei …
Los geht’s:
– Angola: unbedarft und kampfstark. Können einem das Leben schwer machen, aber ohne Angriff wird das nix.
– Argentinien: abgebrüht, kühl, souverän. WM-Mitfavorit
– Australien: bissig, mit Pitbullmentalität. Wird spielerische Mängel aber nicht ausgleichen.
– Brasilien: schlafender Riese mit einem wachen Moment. Sie sollten mal zu elft spielen.
– Costa Rica: harmlos, leblos, müde. Wie konnten diesen sedierten Mittelamerikanern bloß zwei Tore gegen uns gelingen?
– Deutschland: leidenschaftlich, surfend auf der Brandung der Begeisterung. Mit Heimvorteil wirklich ein WM-Kandidat. Hipp, hipp, hurra.
– Ecuador: ballsicher, stark in allen Mannschaftsteilen – und noch nicht richtig gefordert
– Elfenbeinküste: bullenstark und technisch vorzüglich. Könnten Holland schlagen. Nein: müssen!
– England: überschätzt. Große Namen, aber limitierte Mittel. Kein Weltmeister, nein, nein.
– Frankreich: Altherrentruppe, die ihre Erneuerung verpasst hat. Lebt nur noch vom Nimbus. Und der bröckelt.
– Ghana: ohne Sturm kein Dreier: So simpel ist das.
– Iran: zu wenig aggressiv und wohl auch physisch zweitklassig
– Italien: steigerungsfähig, wird das Potenzial bei Bedarf abrufen. Natürlich.
– Japan: außerhalb Asiens wird das nix
– Kroatien: robust und technisch stark; Mannschaft wird demnächst explodieren.
– Mexiko: spielstark, aber ohne die nötige Durchsetzungsfähigkeit. Und Borghetti ist alt geworden, meine Herren.
– Niederlande: Team wird Fahrt aufnehmen. Muss es auch. Robben kaputttreten: eine Option für jeden Gegner.
– Paraguay: Guter Sturm, aber der sollte auch mal richtig hinhlangen.
– Polen: und tschüss …
– Portugal: Wie immer: viele Vorschusslorbeeren, die rasch verwelken werden.
– Saudi-Arabien: gepflegter Spielstil, wenn man sie lässt. Wird aber nicht mehr passieren.
– Schweden: hat Geniestreichpotenzial. Wird im Achtelfinale scheitern.
– Schweiz: sehr bissig und spröde. Harter Brocken. Und wenn sie auch noch anfangen, Tore zu schießen ...
– Serbien-Montenegro: Können sie mehr als zerstören? Sie werden keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.
– Spanien: perfektes Spielsystem, traumhaftes Verständnis. WM-Favorit.
– Südkorea: konditionsstark, aber zu bieder.
– Togo: gute Ansätze, aber starkes Leistungsgefälle im Team. Werden bald abreisen.
– Trinidad und Tobago: grandiose Amateure mit Herz. Hätten sie nur einen Knipser!
– Tschechien: auf dem Zenit, aber vielleicht auch schon zu saturiert. Alles ist möglich, im Guten wie im Schlechten.
– Tunesien: abwehrschwach, aber psychisch stabil – zumindest gegen Gegner aus der gleichen Liga.
– Ukraine: katastrophal. So lebhaft wie der Betonsarkophag überm AKW Tschernobyl.
– USA: schwach wie Bushs Umfragewerte. Selbst gegen Ghana wird das nichts.
Reeperwahn nachts um halb eins
An dieser Stelle muss jetzt mal German Psychos Ruf zerstört werden. Also: Er warf für uns heute nicht nur den Videobeamer an und projizierte das Spiel Deutschland-Polen auf eine eigens aufgehängte Leinwand; nein, er gewährte auch bereitwillig Zugang zu seinem Kühlschrank, in dem offenbar unerschöpfliche Astravorräte einer zweckdienlichen Verwendung entgegenbangten oder -fieberten; das weiß man bei Bier generell nicht so genau.
Seine zuvorkommende Art gipfelte im generösen Angebot, mir als Dauerleihgabe sein aussortiertes Nokiahandy zu überlassen, weil sich hinterm Display meines schraddeligen Siemensteils inzwischen derart viele Fusseln verfangen haben, dass ich mich wundere, wieso ich zu Hause überhaupt noch staubsaugen muss.
Kurz: German Psycho war ein vollendeter Gastgeber. Nur die direkt neben der Leinwand geparkte Chromaxt wirkte beunruhigend. Warum nur war sie so überaus blitzeblank gewienert …?
Als wir auf dem Heimweg die Reeperbahn erreichen, übersteigt der Trubel nach dem Sieg alle Vorstellungen. Tausende von Fans springen, hüpfen und singen auf der Meile herum, was einer Vollsperrung gleichkommt (das um 0:03 dokumentierte Bild der Kiezcam zeigt das nur sehr unzureichend). Dem Verkehr aus den Nebenstraßen bleibt nichts anderes übrig, als still zu verzweifeln. Und das war nur ein Vorrundenspiel …
Ein großer bulliger Mann in der Menge fasst plötzlich meine Hand und fragt: „Du Deutscher?“ Ich bejahe mit dem Konter „Und du bist Pole?“ Mit wehem Lächeln bestätigt er. „Tut mir Leid“, sage ich, eingedenk der polnischen Niederlage in letzter Sekunde. Er drückt meine Hand noch fester.
Weitaus merkwürdiger mutet indes der korpulente Typ unter unserem Balkon an, der um kurz vor halb eins an die Hauswand gegenüber schifft und dies mit einem dröhnenden „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland!“ begleiten zu müssen glaubt; mit passablem Bariton übrigens.
Pissende Patrioten sind mir gleichwohl lieber als brandschatzende, weshalb ich die zag aufkeimenden Chromaxtfantasien recht erfolgreich niederkämpfen kann.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über fatalen Waffengebrauch
1. „Careful with that axe, Eugene“ von Pink Floyd
2. „If I had a rocket launcher“ von Bruce Cockburn
3. „The man who shot Liberty Valance“ von James Taylor
Seine zuvorkommende Art gipfelte im generösen Angebot, mir als Dauerleihgabe sein aussortiertes Nokiahandy zu überlassen, weil sich hinterm Display meines schraddeligen Siemensteils inzwischen derart viele Fusseln verfangen haben, dass ich mich wundere, wieso ich zu Hause überhaupt noch staubsaugen muss.
Kurz: German Psycho war ein vollendeter Gastgeber. Nur die direkt neben der Leinwand geparkte Chromaxt wirkte beunruhigend. Warum nur war sie so überaus blitzeblank gewienert …?
Als wir auf dem Heimweg die Reeperbahn erreichen, übersteigt der Trubel nach dem Sieg alle Vorstellungen. Tausende von Fans springen, hüpfen und singen auf der Meile herum, was einer Vollsperrung gleichkommt (das um 0:03 dokumentierte Bild der Kiezcam zeigt das nur sehr unzureichend). Dem Verkehr aus den Nebenstraßen bleibt nichts anderes übrig, als still zu verzweifeln. Und das war nur ein Vorrundenspiel …
Ein großer bulliger Mann in der Menge fasst plötzlich meine Hand und fragt: „Du Deutscher?“ Ich bejahe mit dem Konter „Und du bist Pole?“ Mit wehem Lächeln bestätigt er. „Tut mir Leid“, sage ich, eingedenk der polnischen Niederlage in letzter Sekunde. Er drückt meine Hand noch fester.
Weitaus merkwürdiger mutet indes der korpulente Typ unter unserem Balkon an, der um kurz vor halb eins an die Hauswand gegenüber schifft und dies mit einem dröhnenden „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland!“ begleiten zu müssen glaubt; mit passablem Bariton übrigens.
Pissende Patrioten sind mir gleichwohl lieber als brandschatzende, weshalb ich die zag aufkeimenden Chromaxtfantasien recht erfolgreich niederkämpfen kann.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über fatalen Waffengebrauch
1. „Careful with that axe, Eugene“ von Pink Floyd
2. „If I had a rocket launcher“ von Bruce Cockburn
3. „The man who shot Liberty Valance“ von James Taylor
14 Juni 2006
Bücher in freier Wildbahn
Als Mitglied eines weltweiten Netzwerks, welches sich für die generelle Freilassung von Büchern aus Bibliotheken und Schlafzimmerregalen einsetzt (vulgo „Bookcrossing“) erhalte ich stets eine Benachrichtigung per Mail, wenn mal wieder ein Exemplar in St. Pauli ausgesetzt wurde. Manchmal gehe ich dann sogar auf Pirsch, habe aber noch nie eins gefunden.
Natürlich habe ich auch selbst schon diverse Bücher ausgewildert, doch ein Finder hat sich noch nie via Bookcrossing bei mir gemeldet. Dabei waren die Bücher immer weg, wenn ich das nächste Mal verstohlen den fraglichen Ort in Augenschein nahm. Meldet euch doch mal, Männo!
Egal: Dieser Tage erreichte mich die Nachricht, ein Buch von Douglas Adams sei freigelassen worden, und zwar in „St. Pauli, Hamburg, at Heiligengeistfeld“. Nun, diese Information ist in Zeiten, wo das WM-Fanfest täglich Zehntausende auf ein Areal von brutto 50 Hektar lockt, kaum konkreter als der Hinweis: Hinterlegt am Mittelmeer.
Die Suche habe ich mir also gespart. Aber da war ich trotzdem.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Literaturbezug
1. „Summertime in England“ von Van Morrison
2. „American pie“ von Don McLean
3. alles von My Latest Novel
Natürlich habe ich auch selbst schon diverse Bücher ausgewildert, doch ein Finder hat sich noch nie via Bookcrossing bei mir gemeldet. Dabei waren die Bücher immer weg, wenn ich das nächste Mal verstohlen den fraglichen Ort in Augenschein nahm. Meldet euch doch mal, Männo!
Egal: Dieser Tage erreichte mich die Nachricht, ein Buch von Douglas Adams sei freigelassen worden, und zwar in „St. Pauli, Hamburg, at Heiligengeistfeld“. Nun, diese Information ist in Zeiten, wo das WM-Fanfest täglich Zehntausende auf ein Areal von brutto 50 Hektar lockt, kaum konkreter als der Hinweis: Hinterlegt am Mittelmeer.
Die Suche habe ich mir also gespart. Aber da war ich trotzdem.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Literaturbezug
1. „Summertime in England“ von Van Morrison
2. „American pie“ von Don McLean
3. alles von My Latest Novel
12 Juni 2006
Schönheit kommt von außen
Nachdem wir gestern auf dem Fanfest noch einmütig die besondere Anmut der persischen Frauen gepriesen haben, die selbst von Niederlage und Tschador nicht zu beeinträchtigen war, ist Andreas heute hochverblüfft von der erstaunlichen Schönheitsquote unter den Ghanaerinnen.
Und ich auch.
Da ist die Welt schon mal zu Gast bei Freunden – und düpiert uns mit brutalstmöglicher Ästhetik. Morgen Abend wartet der nächste, ähem, Höhepunkt: die Brasilianierinnen (Foto: WM-Fankurve).
Ach, die WM müsste ewig währen!
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Schönheit
1. „Came so far for beauty“ von Leonard Cohen
2. „For the beauty of Wynona“ von Daniel Lanois
3. „Cylea“ von Christian Redl (Bonustrack)
Und ich auch.
Da ist die Welt schon mal zu Gast bei Freunden – und düpiert uns mit brutalstmöglicher Ästhetik. Morgen Abend wartet der nächste, ähem, Höhepunkt: die Brasilianierinnen (Foto: WM-Fankurve).
Ach, die WM müsste ewig währen!
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Schönheit
1. „Came so far for beauty“ von Leonard Cohen
2. „For the beauty of Wynona“ von Daniel Lanois
3. „Cylea“ von Christian Redl (Bonustrack)
11 Juni 2006
Der Fluch der Informationsgesellschaft
Unser Bauch-/Rückenkurs am Sonntag ist sakrosankt, ob nun ein WM-Spiel läuft oder nicht, selbst wenn daran die potenziell famosen Holländer beteiligt sind. Die erste Halbzeit verbringe ich noch auf dem Crosstrainer vorm Bildschirm, es steht 1-0, doch während der zweiten Hälfte muss ich Crunches machen, Liegestützen und Schlimmeres.
Zu Hause habe ich daher vorsorglich den DVD-Rekorder programmiert, ich werde also nichts verpassen. Jetzt, nach dem Kurs, gilt es nur noch den Fitnessclub zu verlassen, ohne das Endergebnis mitzukriegen. Spannung ist schließlich alles. Doch auf dem Weg vom Rödingsmarkt zum Kiez steht mir ein Parcours bevor, der mir alles abverlangen wird.
Zunächst muss ich durchs Clubfoyer, wo ein riesiger Flachbildfernseher die WM überträgt. Ein ernstes Hindernis, zumal man den Ton zur Erbauung auch der hintersten Ecke durchaus übers Anstandmaß hinaus aufgedreht hat. Mit tief ins Gesicht gezogener Baseballmütze, den Zeigefingern in den Ohren und innerlich „Na-na-na-ne-na-nä!“ rufend, haste ich durch die audiovisuelle Todeszone und schaffe es wirklich hinaus auf die Straße, ohne das kleinste Infofitzelchen aufzuschnappen.
Keine Ahnung, was die Leute dabei über mich denken. Oder was Ms. Columbo denkt, die ich im Gefolge habe. Na gut, eigentlich weiß ich, was sie denkt, aber ich frage lieber nicht. Die U-Bahn ist safe, wie Agenten oder Irak-Marines wohl sagen würden. An der Reeperbahn aber droht Ungemach. Fast jedes Bistro im Millerntorhochhaus überträgt nämlich live und versucht mit Außenlautsprechern auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Wir müssen daran vorbei, und es besteht das hohe Risiko, durch einen herüberwehenden Sprachfetzen der Nachberichterstattung das Spielergebnis zu erfahren. Das verdürbe mir gründlich den Spätnachmittag.
Auf dem Platz vorm Hochhaus sehe ich schon von weitem eine Gruppe orangeleuchtender Holländer, wende aber sofort den Blick ab, um meine innerlich ratternde Interpretationsmaschine mit keinerlei Hinweisen auf ihre Stimmungslage und somit auf den möglichen Spielausgang zu füttern. Außerdem rufe ich unablässig lautlos „Na-na-na-ne-na-nä!“ in mich hinein. Es wirkt. Aber wie jetzt den Bistrospießrutenlauf unbeschadet überstehen?
Ms. Columbo, selbst im Kopfschütteln noch konstruktiv, schlägt den Weg hintenrum vor. Sofort stimme ich zu. Nur von einer Touristenfresshalle namens Die Scheune droht geringe Gefahr, doch wir kommen ungeschoren dran vorbei, hasten durch die Seilerstraße. Fahrig schließe ich die Haustür auf und rette mich in den Flur.
Ein feiner Schweißfilm bedeckt meine Stirn. Tief in meiner Brust aber glost neben dem Stolz auf die bestandene Bewährungsprobe auch die Vorfreude auf die zweite Halbzeit. Das Interessante am Fußball ist ja, dass man nicht weiß, wie’s ausgeht, und diesen Zustand der Unschuld habe ich mir mit einer logistischen Meisterleistung und einem eiskalten Profi an meiner Seite erhalten.
Erleichtert falle ich in den Sessel und starte die Aufnahme. Doch es passiert nichts mehr, kein Tor, kein Elfer, kein Platzverweis. Die erste Halbzeit, sie hätte vollkommen gereicht.
Aber das konnte ich ja schließlich nicht wissen, verdammt noch mal.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Nichtwissenwollen
1. „Please don't tell me how the story ends“ von Kris Kristofferson
2. „I don't want to talk about it“ von Crazy Horse
3. „Don't tell and we won't ask“ von Thrice
(Das Foto hat nur einen indirekten Bezug: Es zeigt eine Tribüne auf dem WM-Fanfest von hinten. Die über den Rand ragenden Wikingerhelme fand ich lustig.)
Zu Hause habe ich daher vorsorglich den DVD-Rekorder programmiert, ich werde also nichts verpassen. Jetzt, nach dem Kurs, gilt es nur noch den Fitnessclub zu verlassen, ohne das Endergebnis mitzukriegen. Spannung ist schließlich alles. Doch auf dem Weg vom Rödingsmarkt zum Kiez steht mir ein Parcours bevor, der mir alles abverlangen wird.
Zunächst muss ich durchs Clubfoyer, wo ein riesiger Flachbildfernseher die WM überträgt. Ein ernstes Hindernis, zumal man den Ton zur Erbauung auch der hintersten Ecke durchaus übers Anstandmaß hinaus aufgedreht hat. Mit tief ins Gesicht gezogener Baseballmütze, den Zeigefingern in den Ohren und innerlich „Na-na-na-ne-na-nä!“ rufend, haste ich durch die audiovisuelle Todeszone und schaffe es wirklich hinaus auf die Straße, ohne das kleinste Infofitzelchen aufzuschnappen.
Keine Ahnung, was die Leute dabei über mich denken. Oder was Ms. Columbo denkt, die ich im Gefolge habe. Na gut, eigentlich weiß ich, was sie denkt, aber ich frage lieber nicht. Die U-Bahn ist safe, wie Agenten oder Irak-Marines wohl sagen würden. An der Reeperbahn aber droht Ungemach. Fast jedes Bistro im Millerntorhochhaus überträgt nämlich live und versucht mit Außenlautsprechern auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Wir müssen daran vorbei, und es besteht das hohe Risiko, durch einen herüberwehenden Sprachfetzen der Nachberichterstattung das Spielergebnis zu erfahren. Das verdürbe mir gründlich den Spätnachmittag.
Auf dem Platz vorm Hochhaus sehe ich schon von weitem eine Gruppe orangeleuchtender Holländer, wende aber sofort den Blick ab, um meine innerlich ratternde Interpretationsmaschine mit keinerlei Hinweisen auf ihre Stimmungslage und somit auf den möglichen Spielausgang zu füttern. Außerdem rufe ich unablässig lautlos „Na-na-na-ne-na-nä!“ in mich hinein. Es wirkt. Aber wie jetzt den Bistrospießrutenlauf unbeschadet überstehen?
Ms. Columbo, selbst im Kopfschütteln noch konstruktiv, schlägt den Weg hintenrum vor. Sofort stimme ich zu. Nur von einer Touristenfresshalle namens Die Scheune droht geringe Gefahr, doch wir kommen ungeschoren dran vorbei, hasten durch die Seilerstraße. Fahrig schließe ich die Haustür auf und rette mich in den Flur.
Ein feiner Schweißfilm bedeckt meine Stirn. Tief in meiner Brust aber glost neben dem Stolz auf die bestandene Bewährungsprobe auch die Vorfreude auf die zweite Halbzeit. Das Interessante am Fußball ist ja, dass man nicht weiß, wie’s ausgeht, und diesen Zustand der Unschuld habe ich mir mit einer logistischen Meisterleistung und einem eiskalten Profi an meiner Seite erhalten.
Erleichtert falle ich in den Sessel und starte die Aufnahme. Doch es passiert nichts mehr, kein Tor, kein Elfer, kein Platzverweis. Die erste Halbzeit, sie hätte vollkommen gereicht.
Aber das konnte ich ja schließlich nicht wissen, verdammt noch mal.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Nichtwissenwollen
1. „Please don't tell me how the story ends“ von Kris Kristofferson
2. „I don't want to talk about it“ von Crazy Horse
3. „Don't tell and we won't ask“ von Thrice
(Das Foto hat nur einen indirekten Bezug: Es zeigt eine Tribüne auf dem WM-Fanfest von hinten. Die über den Rand ragenden Wikingerhelme fand ich lustig.)
Autogenes Grapschen
„Bist du dir eigentlich bewusst“, frage ich Ms. Columbo während der abendlichen Fußballübertragung mit mühsam unterdrücktem Zittern in der Stimme, „dass du momentan die gleiche Luft atmest wie Diego Armando Maradona?“
„Schon“, antwortet sie unangemessen kühl, „aber ich kann einfach sein Handspiel von damals nicht vergessen.“
Eine Antwort, die ich erst einmal verdauen muss. Ich meine: Welcher Mann, der sich für Fußball interessiert, hat schon das unfassbare Glück in Form einer Gattin, die so etwas überhaupt weiß? Wahrscheinlich nur ich. Davon unabhängig erwidere ich geduldig: „Maradona durfte das. 1986 war er Gott. Und seine Hand die Hand Gottes. Und Gott darf alles. Nicht wahr? Außerdem ging es gegen die Engländer, dann darf man das sowieso.“
Komischerweise ist Ms. Columbo nicht restlos überzeugt, weshalb mehr oder weniger ich alleine mich in der Gnade sonne, zurzeit die gleiche Luft zu atmen wie Diego Armando Maradona, der sich nur wenige Kilometer von hier im Stadion des HSV befindet, wo Argentinien gegen die Elfenbeinküste spielt.
Das Pendant zu diesem weihevollen Gefühl lieferte heute (wieder einmal) Lothar Matthäus, der auf die Frage, ob er lieber eine Frau sein möchte, antwortete: „Ich möchte nicht lieber eine Frau sein, denn dann würde ich die ganze Zeit an meinem Busen spielen.“
Gute Nacht.
(Foto: 1115.org)
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen Hände vorkommen
1. „Northern sky“ von Nick Drake
2. „The hands that built America“ von U2
3. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Peter Alexander
„Schon“, antwortet sie unangemessen kühl, „aber ich kann einfach sein Handspiel von damals nicht vergessen.“
Eine Antwort, die ich erst einmal verdauen muss. Ich meine: Welcher Mann, der sich für Fußball interessiert, hat schon das unfassbare Glück in Form einer Gattin, die so etwas überhaupt weiß? Wahrscheinlich nur ich. Davon unabhängig erwidere ich geduldig: „Maradona durfte das. 1986 war er Gott. Und seine Hand die Hand Gottes. Und Gott darf alles. Nicht wahr? Außerdem ging es gegen die Engländer, dann darf man das sowieso.“
Komischerweise ist Ms. Columbo nicht restlos überzeugt, weshalb mehr oder weniger ich alleine mich in der Gnade sonne, zurzeit die gleiche Luft zu atmen wie Diego Armando Maradona, der sich nur wenige Kilometer von hier im Stadion des HSV befindet, wo Argentinien gegen die Elfenbeinküste spielt.
Das Pendant zu diesem weihevollen Gefühl lieferte heute (wieder einmal) Lothar Matthäus, der auf die Frage, ob er lieber eine Frau sein möchte, antwortete: „Ich möchte nicht lieber eine Frau sein, denn dann würde ich die ganze Zeit an meinem Busen spielen.“
Gute Nacht.
(Foto: 1115.org)
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen Hände vorkommen
1. „Northern sky“ von Nick Drake
2. „The hands that built America“ von U2
3. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Peter Alexander
10 Juni 2006
Fußball ist unser Beben
Unter unserem Balkon ging es heute Abend nach dem turbulenten 4:2-Sieg Deutschlands gegen Costa Rica zu wie beim Schlager-Move. Der überm Haus verharrende und sich dabei infernalisch gebärdende Helikopter milderte die Schalllage kein bisschen. Kurz: Die WM hat begonnen, und der Kiez bebt.
Am meisten wackelt’s beim Fanfest auf dem Heiligengeistfeld. Dort tummeln sich Zehntausende, die Lightning Seeds spielen ihr unkaputtbares „Football’s coming home“, es gibt Torwände, Sponsorenzelte, und jedes Teilnehmerland hat seinen eigenen Pavillon mit landestypischen Spezialitäten. Die knuffige Tresendame am Stand von Ghana, die in einigen Jahrzehnten ihre Neigung zum Barocken widerstandslos ausgelebt haben wird, bequatscht mich zu zwei Hähnchenschenkeln mit Kochbananen zum Mitnehmen.
Zu Hause bei Ms. Columbo stößt das auf Begeisterung. Wir beschließen, uns in den nächsten Wochen mal einigen Pavillons intensiver zu widmen. Saudi-Arabien etwa lässt sich von Saliba beliefern, einem syrischen Restaurant, das wir sogar für würdig befanden, uns am Hochzeitstag verköstigen zu dürfen. Aber was erwartet uns bloß am Stand der Ukraine – vielleicht Kiewer Kürbisse, die im Dunkeln leuchten, und zwar von ganz alleine? Mal vorsichtig austesten.
Gerade frage ich mich übrigens, wie sich die heutige Niederlage Polens gegen Ecuador in Gelsenkirchen wohl auf die Gemütsverfassung der polnischen Hooligans auswirkt. Schon ohne akuten Frust in den Knochen gelten sie als Al-Kaida der Fußballszene. Ich empfehle daher bis auf weiteres eine weiträumige Meidung des Ruhrgebietes.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Gewalt
1. „Mother of violence“ von Peter Gabriel
2. „His hands“ von Candi Staton
3. alles von DJ Hooligan
Am meisten wackelt’s beim Fanfest auf dem Heiligengeistfeld. Dort tummeln sich Zehntausende, die Lightning Seeds spielen ihr unkaputtbares „Football’s coming home“, es gibt Torwände, Sponsorenzelte, und jedes Teilnehmerland hat seinen eigenen Pavillon mit landestypischen Spezialitäten. Die knuffige Tresendame am Stand von Ghana, die in einigen Jahrzehnten ihre Neigung zum Barocken widerstandslos ausgelebt haben wird, bequatscht mich zu zwei Hähnchenschenkeln mit Kochbananen zum Mitnehmen.
Zu Hause bei Ms. Columbo stößt das auf Begeisterung. Wir beschließen, uns in den nächsten Wochen mal einigen Pavillons intensiver zu widmen. Saudi-Arabien etwa lässt sich von Saliba beliefern, einem syrischen Restaurant, das wir sogar für würdig befanden, uns am Hochzeitstag verköstigen zu dürfen. Aber was erwartet uns bloß am Stand der Ukraine – vielleicht Kiewer Kürbisse, die im Dunkeln leuchten, und zwar von ganz alleine? Mal vorsichtig austesten.
Gerade frage ich mich übrigens, wie sich die heutige Niederlage Polens gegen Ecuador in Gelsenkirchen wohl auf die Gemütsverfassung der polnischen Hooligans auswirkt. Schon ohne akuten Frust in den Knochen gelten sie als Al-Kaida der Fußballszene. Ich empfehle daher bis auf weiteres eine weiträumige Meidung des Ruhrgebietes.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Gewalt
1. „Mother of violence“ von Peter Gabriel
2. „His hands“ von Candi Staton
3. alles von DJ Hooligan
09 Juni 2006
Die Fundstücke des Tages (19)
1. Heute spaßeshalber auf der Seite der Bahn nach der Verbindung Hamburg-Peking gesucht. Kann man wirklich buchen, dauert 177 Stunden. Und der Hammer: Man muss nur zweimal umsteigen! Genauso oft wie nach Cuxhaven.
2. Der Burda-Verlag scheint überwiegend aus Trollen zu bestehen, vor allem in der Führungsspitze. Dort wurden nämlich laut turi-2 neue interne Sprachregelungen getroffen, wobei man sich offenbar immer für die affigste aller Optionen entschieden hat. Alles, was bisher Zeitschriften hieß, nennt Burda jetzt „Gutenberg-Applikation“. Das ist Realsatire. Und handgestrickte Lösungen heißen von nun an „tailor-made solutions“, während die arme Jahrespressekonferenz zum „Annual Media Day“ verhunzt wurde. Wenn das Hinweise darauf sind, mit welchem Wortgeklingel Burda künftig seine Gutenberg-Applikationen füllen will, dann gute Nacht.
3. Die Gruner&Jahr-Applikation Bym gibt es nicht mehr. Sicher lag es an den Gründen, die hier zur Markteinführung im Januar erläutert wurden. Kassandro Matt – aber man wollte ja nicht hören.
4. Neu auf meiner Blogroll ist maunamea, und zwar nicht nur, weil sie eine Kieznachbarin ist, sondern weil sie hervorragend bloggt – und ihr Fahrrad einen Namen hat. Es heißt Hartmut.
5. Unten folgt das nächste Dylan-Radioshow-Update, inklusive dem Link zur fünften Sendung. Einen Witz habe ich schon aus der sechsten Folge über Gefängnisse stibitzt: „I don't like jails. They got the wrong type of bars.“ Yep. Hier alle Links: Teil 1 („Weather”), Teil 2 („Mothers”), Teil 3 („Drink”), Teil 4 („Baseball”) und Teil 5 („Coffee”).
2. Der Burda-Verlag scheint überwiegend aus Trollen zu bestehen, vor allem in der Führungsspitze. Dort wurden nämlich laut turi-2 neue interne Sprachregelungen getroffen, wobei man sich offenbar immer für die affigste aller Optionen entschieden hat. Alles, was bisher Zeitschriften hieß, nennt Burda jetzt „Gutenberg-Applikation“. Das ist Realsatire. Und handgestrickte Lösungen heißen von nun an „tailor-made solutions“, während die arme Jahrespressekonferenz zum „Annual Media Day“ verhunzt wurde. Wenn das Hinweise darauf sind, mit welchem Wortgeklingel Burda künftig seine Gutenberg-Applikationen füllen will, dann gute Nacht.
3. Die Gruner&Jahr-Applikation Bym gibt es nicht mehr. Sicher lag es an den Gründen, die hier zur Markteinführung im Januar erläutert wurden. Kassandro Matt – aber man wollte ja nicht hören.
4. Neu auf meiner Blogroll ist maunamea, und zwar nicht nur, weil sie eine Kieznachbarin ist, sondern weil sie hervorragend bloggt – und ihr Fahrrad einen Namen hat. Es heißt Hartmut.
5. Unten folgt das nächste Dylan-Radioshow-Update, inklusive dem Link zur fünften Sendung. Einen Witz habe ich schon aus der sechsten Folge über Gefängnisse stibitzt: „I don't like jails. They got the wrong type of bars.“ Yep. Hier alle Links: Teil 1 („Weather”), Teil 2 („Mothers”), Teil 3 („Drink”), Teil 4 („Baseball”) und Teil 5 („Coffee”).
08 Juni 2006
Die Flucht vom Fitnessklo
Zwischen Training und Dusche suche ich die Toilette auf, und zwar so, wie die Evolution mich schuf, aber plus Handtuch. Es gibt zwei Kabinen, eine ist besetzt. Als ich meiner dort üblichen Beschäftigung nachgehe, erhalte ich unfreiwillig akustisch Kunde von den erstaunlichen Vorgängen in der Nachbarkabine.
Ohne ins Detail gehen zu wollen – die Geräuschkulisse erinnert an Bombenangriffe. Könnte man Schall riechen, müsste ich sofort in Ohnmacht fallen, niedergestreckt von einem olfaktorischen Overkill. Auch Dauer und Dynamik der Attacken sprengen jede Vorstellung, zumindest meine.
Ich drücke kräftig aufs Tempo und verlasse diesen ungastlichen Ort, so schnell es geht. Im Vorraum leert gerade eine nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund den Mülleimer. Mir wird plötzlich klar, wie wenig schallisoliert die Kabinen sind und wie wenig gedämpft man gewisse Geschehnisse auch hier, an den Waschbecken, vernehmen kann. Und mir wird zugleich bewusst, was die nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund jetzt denken muss. Schließlich weiß sie nichts von einem weiteren in Frage kommenden Kandidaten.
Ein sehr, sehr unangenehmer Gedanke. Ich darf mir das, was eben in der Nachbarkabine geschah, keinesfalls anhängen lassen, soviel ist sicher. Aber soll ich sie wirklich ansprechen und die Sachlage wahrheitsgemäß aufschlüsseln? Soll ich, ein nackter Mann mit Handtuch, mich wirklich vor diese Frau hinstellen und beschwörend murmeln: „Hören Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich war das nicht, ehrlich!“? Hmm.
Sie ist weiter mit dem Leeren des Behälters beschäftigt und hat bisher höflicherweise nicht hochgeschaut; immerhin bewegt sie sich tagtäglich im Reich nackter Männer und weiß, was sich gehört. Und darin liegt meine Chance, doch noch ohne Plädoyer und Stigma aus der Sache rauszukommen. Also stehle ich mich rasch hinaus. Sie hat mich gewiss nicht gesehen, geschweige denn erkannt; erleichtert fliehe ich unter die Dusche.
Und dort, unter der schütztenden Kaskade, fällt mir nicht nur ein ähnliches Erlebnis vom Januar ein, sondern auch eine Geschichte von David Sedaris. Er erzählt davon, wie er auf einer Gartenparty das Klo aufsucht und dort etwas Unbeschreibliches im Becken vorfindet, was sich partout nicht wegspülen lassen will; also beginnt er fiebrig zu rätseln, wie er die dort dümpelnde Elefantenwurst los wird, um nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden.
Eine Geschichte, die mir bislang extrem witzig vorkam, aber im Licht der heutigen Ereignisse deutlich an Komik eingebüßt hat.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Toilettenbezug
1. „Waterloo“ von Abba (haha …)
2. „Pissing in a river“ von Patti Smith
3. „Aliens broke my toilet seat“ von Sir Oliver Mally's Blues Distillery
Ohne ins Detail gehen zu wollen – die Geräuschkulisse erinnert an Bombenangriffe. Könnte man Schall riechen, müsste ich sofort in Ohnmacht fallen, niedergestreckt von einem olfaktorischen Overkill. Auch Dauer und Dynamik der Attacken sprengen jede Vorstellung, zumindest meine.
Ich drücke kräftig aufs Tempo und verlasse diesen ungastlichen Ort, so schnell es geht. Im Vorraum leert gerade eine nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund den Mülleimer. Mir wird plötzlich klar, wie wenig schallisoliert die Kabinen sind und wie wenig gedämpft man gewisse Geschehnisse auch hier, an den Waschbecken, vernehmen kann. Und mir wird zugleich bewusst, was die nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund jetzt denken muss. Schließlich weiß sie nichts von einem weiteren in Frage kommenden Kandidaten.
Ein sehr, sehr unangenehmer Gedanke. Ich darf mir das, was eben in der Nachbarkabine geschah, keinesfalls anhängen lassen, soviel ist sicher. Aber soll ich sie wirklich ansprechen und die Sachlage wahrheitsgemäß aufschlüsseln? Soll ich, ein nackter Mann mit Handtuch, mich wirklich vor diese Frau hinstellen und beschwörend murmeln: „Hören Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich war das nicht, ehrlich!“? Hmm.
Sie ist weiter mit dem Leeren des Behälters beschäftigt und hat bisher höflicherweise nicht hochgeschaut; immerhin bewegt sie sich tagtäglich im Reich nackter Männer und weiß, was sich gehört. Und darin liegt meine Chance, doch noch ohne Plädoyer und Stigma aus der Sache rauszukommen. Also stehle ich mich rasch hinaus. Sie hat mich gewiss nicht gesehen, geschweige denn erkannt; erleichtert fliehe ich unter die Dusche.
Und dort, unter der schütztenden Kaskade, fällt mir nicht nur ein ähnliches Erlebnis vom Januar ein, sondern auch eine Geschichte von David Sedaris. Er erzählt davon, wie er auf einer Gartenparty das Klo aufsucht und dort etwas Unbeschreibliches im Becken vorfindet, was sich partout nicht wegspülen lassen will; also beginnt er fiebrig zu rätseln, wie er die dort dümpelnde Elefantenwurst los wird, um nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden.
Eine Geschichte, die mir bislang extrem witzig vorkam, aber im Licht der heutigen Ereignisse deutlich an Komik eingebüßt hat.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Toilettenbezug
1. „Waterloo“ von Abba (haha …)
2. „Pissing in a river“ von Patti Smith
3. „Aliens broke my toilet seat“ von Sir Oliver Mally's Blues Distillery
07 Juni 2006
Die Schmäh von Cordoba
Kurz vor Beginn der Fußball-WM ist es angebracht, noch einmal einen hübsch bösen Comedyclip zu würdigen. Er ging zwar schon mal rund, aber irgendwer verpasst ihn ja immer, und das darf nicht sein.
Es ist übrigens ganz nützlich, sich zuvor noch einmal das Vorbild ins Gedächtnis zu rufen, jenes denkwürdige Spiel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich bei der WM 1978 in Argentinien, welches als die Schmach von Cordoba in die Geschichtsbücher einging. Selbst Fußballfans, die selbige noch immer nicht verwunden haben, dürfte der Clip erfreuen – es sei denn, sie sind Nazis. Aber die stürzen sich ja nur auf meinen Blogeintrag vom 11. Februar.
Gut, hier ist sie also, die „Schmäh von Cordoba“:
Ex cathedra: Die Top 3 der satirischen Songs
1. „Everybody's makin' it big but me“ von Dr. Hook & The Medicine Show
2. „Bobby Brown“ von Frank Zappa
3. „I don't wanna sing Bob Dylan songs“ von Attersee
Es ist übrigens ganz nützlich, sich zuvor noch einmal das Vorbild ins Gedächtnis zu rufen, jenes denkwürdige Spiel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich bei der WM 1978 in Argentinien, welches als die Schmach von Cordoba in die Geschichtsbücher einging. Selbst Fußballfans, die selbige noch immer nicht verwunden haben, dürfte der Clip erfreuen – es sei denn, sie sind Nazis. Aber die stürzen sich ja nur auf meinen Blogeintrag vom 11. Februar.
Gut, hier ist sie also, die „Schmäh von Cordoba“:
Ex cathedra: Die Top 3 der satirischen Songs
1. „Everybody's makin' it big but me“ von Dr. Hook & The Medicine Show
2. „Bobby Brown“ von Frank Zappa
3. „I don't wanna sing Bob Dylan songs“ von Attersee
05 Juni 2006
Ein ganz mieses Nie-Wo
Ich habe schon immer zum Kalauern geneigt, nicht nur über Pfingsten auf Rügen. Ein guter Kalauer ist so doof, dass er schon wieder gut ist. Natürlich muss er einen Sinn ergeben, l’art pour l’art macht ihn fad. Doppeldeutigkeit, vertrackter Hintersinn und ein inhaltlich intakter Bezug beim Verdrehen und Veräppeln eines Spruchs: All das muss ein Vertreter dieses zu Unrecht verpönten Genres schon leisten, wenn er als perfekt geadelt werden möchte. Das ist natürlich bockelschwer, und das meiste, was einem so aus dem Finger rutscht, ist höchstens schön doof, aber keinesfalls weltmeisterlich.
So ahnt man kurioserweise in der Stadt Calau, die angeblich doch seine Namensgeberin gewesen sein soll, nicht einmal, was ein Kalauer überhaupt ist. Das beweist die Rubrik „Kalauer des Monats“ auf ihrer Website, wo es viele miese Witze gibt, aber definitiv keine Kalauer. Hallo, Calau, das hier zum Beispiel ist ein echter: Was heißt Sonnenuntergang auf Finnisch? Hell-Sinki.
Zugegeben, der ist äußerst übel. Selbst ich wage mir dabei allenfalls ins Fäustchen zu lachen, obwohl ich glaube, ihn vor vielen Jahren selbst verbrochen zu haben. Oder nehmen wir den hier: Was sagte die betuchte Adlige, als sie noch einmal über ihre sündhaft teure Geschlechtsumwandlung nachsann? „Once I was rich – now I am Richard …“ Deutliche Steigerung, behaupte ich. Dennoch überlasse ich ihn gern der Beurteilung der Nachwelt. Oder: Wie könnte man die Suche nach jamaikanischen Gangstern nennen? Natürlich Rasta-Fahndung. Und so weiter.
Kalauer jedenfalls passieren mir ständig. Als wir am Freitag vor Pfingsten in Binz auf Rügen eintrafen, fiel mir als erstes ein kalauernder Werbeslogan ein, mit dem das Strandstädtchen junge Individualurlauber anlocken könnte: „Ich binz, wer sonz?“ Gut, der ist grauenhaft. Aber auch ein bisschen lustig. Für mich wenigstens. Selbst Ms. Columbo grinst meist höflich schief, wenn ich mal wieder ein Exemplar zum Besten gebe, was ungefähr täglich vorkommt. Manchmal lacht sie aber auch glöckchenhell auf, und dann weiß ich: Es war ein guter.
Die Kalaueritis wirkt sogar ansteckend. Wenn ich mich recht entsinne, ist der hier auf Ms. Columbos Dung gediehen: Wie nennt man vegetarische Rentner? Korn-Greise … Chapeau! Davon inspiriert kreierte ich – als intern Zuständiger für Schmuddeligkeiten – diesen Bruder im Geiste: Wenn alte Herrschaften Sex haben, nennt man das doch wohl … Greisverkehr. Harhar.
Der Fahrradverleih in Binz heißt übrigens „RADzfatz“. Finde ich zu bemüht, offen gestanden. Ich fühlte mich kalauertechnisch dank meines „Ich binz“ also sicher und überlegen auf der Insel. Doch kurz vor der Abreise musste ich mich düpieren lassen. Da parkte am Straßenrand ein Kleinwagen, der über und über mit Werbung vollgepflastert war, und mittendrin prunkte die Internetadresse www.ich-binz.info.
Jemand war also vor mir da gewesen. Es tröstete mich gar nicht – im Gegenteil –, als ich auf besagter Homepage auch noch diverse Volldeppenapostrophe entdeckte („Info's“, „FeWo’s“). Doch irgendwie passt das zum bisweilen abgrundtiefen „Nie-Wo“ (Arno Schmidt) dieses Beitrags. Gleichwohl möchte ich darum bitten, mir schweinische Elektropost zu ersparen. Also keine Iiiih-Mails, okay …?
(Foto: das schimpansenartige Gesicht des Fernrohrs auf der Binzer Seebrücke)
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Inseln
1. „Island in the sun“ von Harry Belafonte
2. „Tiny island“ von Leo Kottke
3. „Bermuda“ von Jonathan Richman
So ahnt man kurioserweise in der Stadt Calau, die angeblich doch seine Namensgeberin gewesen sein soll, nicht einmal, was ein Kalauer überhaupt ist. Das beweist die Rubrik „Kalauer des Monats“ auf ihrer Website, wo es viele miese Witze gibt, aber definitiv keine Kalauer. Hallo, Calau, das hier zum Beispiel ist ein echter: Was heißt Sonnenuntergang auf Finnisch? Hell-Sinki.
Zugegeben, der ist äußerst übel. Selbst ich wage mir dabei allenfalls ins Fäustchen zu lachen, obwohl ich glaube, ihn vor vielen Jahren selbst verbrochen zu haben. Oder nehmen wir den hier: Was sagte die betuchte Adlige, als sie noch einmal über ihre sündhaft teure Geschlechtsumwandlung nachsann? „Once I was rich – now I am Richard …“ Deutliche Steigerung, behaupte ich. Dennoch überlasse ich ihn gern der Beurteilung der Nachwelt. Oder: Wie könnte man die Suche nach jamaikanischen Gangstern nennen? Natürlich Rasta-Fahndung. Und so weiter.
Kalauer jedenfalls passieren mir ständig. Als wir am Freitag vor Pfingsten in Binz auf Rügen eintrafen, fiel mir als erstes ein kalauernder Werbeslogan ein, mit dem das Strandstädtchen junge Individualurlauber anlocken könnte: „Ich binz, wer sonz?“ Gut, der ist grauenhaft. Aber auch ein bisschen lustig. Für mich wenigstens. Selbst Ms. Columbo grinst meist höflich schief, wenn ich mal wieder ein Exemplar zum Besten gebe, was ungefähr täglich vorkommt. Manchmal lacht sie aber auch glöckchenhell auf, und dann weiß ich: Es war ein guter.
Die Kalaueritis wirkt sogar ansteckend. Wenn ich mich recht entsinne, ist der hier auf Ms. Columbos Dung gediehen: Wie nennt man vegetarische Rentner? Korn-Greise … Chapeau! Davon inspiriert kreierte ich – als intern Zuständiger für Schmuddeligkeiten – diesen Bruder im Geiste: Wenn alte Herrschaften Sex haben, nennt man das doch wohl … Greisverkehr. Harhar.
Der Fahrradverleih in Binz heißt übrigens „RADzfatz“. Finde ich zu bemüht, offen gestanden. Ich fühlte mich kalauertechnisch dank meines „Ich binz“ also sicher und überlegen auf der Insel. Doch kurz vor der Abreise musste ich mich düpieren lassen. Da parkte am Straßenrand ein Kleinwagen, der über und über mit Werbung vollgepflastert war, und mittendrin prunkte die Internetadresse www.ich-binz.info.
Jemand war also vor mir da gewesen. Es tröstete mich gar nicht – im Gegenteil –, als ich auf besagter Homepage auch noch diverse Volldeppenapostrophe entdeckte („Info's“, „FeWo’s“). Doch irgendwie passt das zum bisweilen abgrundtiefen „Nie-Wo“ (Arno Schmidt) dieses Beitrags. Gleichwohl möchte ich darum bitten, mir schweinische Elektropost zu ersparen. Also keine Iiiih-Mails, okay …?
(Foto: das schimpansenartige Gesicht des Fernrohrs auf der Binzer Seebrücke)
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Inseln
1. „Island in the sun“ von Harry Belafonte
2. „Tiny island“ von Leo Kottke
3. „Bermuda“ von Jonathan Richman
02 Juni 2006
Das Pimmelproblem
Das Töchterchen meines besten Freundes ist gerade mal zweieinhalb und erschließt sich just die Welt, vor allem verbal. „Hast du einen Pimmel?“, fragt mich die Kleine – und erwischt mich auf dem falschen Fuß. „Ja, hab ich“, verberge ich dennoch nicht ungeschickt meine Überraschung und gebe mich souverän und lebenserfahren: „Wie jeder Mann und jeder Junge.“
„Will sehen!“, kräht sie.
Natürlich wäre es wünschenswert, gegenüber den kleinen Rackern möglichst locker und schamarm mit Nacktheit umzugehen, damit erst gar keine Komplexe und so was entstehen. Nur müsste man dazu wahrscheinlich selber völlig komplexbefreit durchs Leben gehen. Und wer tut das schon?
Ich anscheinend nicht. Jedenfalls sehe ich mich gedrängt, ihr Ansinnen behutsam abtropfen zu lassen. Sie erträgt die Abfuhr fröhlich und wechselt die Strategie. „Ich habe eine Scheide, ich zeig sie dir!“ Irgendwie schaffe ich es, sie auch von diesem Ansinnen abzubringen, indem ich ihre Aufmerksamkeit erfolgreich auf die Strahlkraft des Hochbetts mit angeflanschter Rutschbahn lenke, doch mir wird mal wieder klar: Ich bin nicht geschaffen für Situationen wie diese. Als ich ihrem Papa davon erzähle, lacht der nur: Ach, mit diesen Pimmelforderungen und Scheidenofferten kommt sie zurzeit jedem.
Nicht nur deshalb, sondern u. a. auch wegen der seltsamen kleinkindlichen Hygienevorstellungen und ihrem nachhaltigem Pochen auf komplette elterliche Hingabe kommt mir das Leben ohne Kinder gar nicht mal so schlecht vor. Findet übrigens auch Ms. Columbo.
So, und jetzt ab an die Ostsee (Foto). In den nächsten Tagen teste ich mal das Mail- und Handybloggen.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Kinder
1. „Memphis, Tennessee“ von Chuck Berry
2. „Cats in the cradle“ von Harry Chapin
3. „Your mother and I“ von Loudon Wainwright III
„Will sehen!“, kräht sie.
Natürlich wäre es wünschenswert, gegenüber den kleinen Rackern möglichst locker und schamarm mit Nacktheit umzugehen, damit erst gar keine Komplexe und so was entstehen. Nur müsste man dazu wahrscheinlich selber völlig komplexbefreit durchs Leben gehen. Und wer tut das schon?
Ich anscheinend nicht. Jedenfalls sehe ich mich gedrängt, ihr Ansinnen behutsam abtropfen zu lassen. Sie erträgt die Abfuhr fröhlich und wechselt die Strategie. „Ich habe eine Scheide, ich zeig sie dir!“ Irgendwie schaffe ich es, sie auch von diesem Ansinnen abzubringen, indem ich ihre Aufmerksamkeit erfolgreich auf die Strahlkraft des Hochbetts mit angeflanschter Rutschbahn lenke, doch mir wird mal wieder klar: Ich bin nicht geschaffen für Situationen wie diese. Als ich ihrem Papa davon erzähle, lacht der nur: Ach, mit diesen Pimmelforderungen und Scheidenofferten kommt sie zurzeit jedem.
Nicht nur deshalb, sondern u. a. auch wegen der seltsamen kleinkindlichen Hygienevorstellungen und ihrem nachhaltigem Pochen auf komplette elterliche Hingabe kommt mir das Leben ohne Kinder gar nicht mal so schlecht vor. Findet übrigens auch Ms. Columbo.
So, und jetzt ab an die Ostsee (Foto). In den nächsten Tagen teste ich mal das Mail- und Handybloggen.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Kinder
1. „Memphis, Tennessee“ von Chuck Berry
2. „Cats in the cradle“ von Harry Chapin
3. „Your mother and I“ von Loudon Wainwright III
01 Juni 2006
30 Mai 2006
Am Polarkiez
Nur ein paar hundert Leute verlieren sich im Millerntorstadion, darunter Alexander, Alexander und ich. Dabei spielt die Türkische Republik Nordzypern beim Fifi Wild Cup gegen Grönland, hey!
Es ist so kalt, als hätten die Männer aus dem Eis eine Methode gefunden, ihr Standardwetter mit nach Hamburg zu schmuggeln. Unsere Hände nehmen die Form des außergewöhnlich steifen Bierplastikbechers an, denn an Fellhandschuhe hat keiner von uns gedacht. Wenn wir ausgetrunken haben, können wir unsere gebogenen Finger als Getränkehalter vermieten. Als Idee nicht schlecht, doch das Vermarktungspotenzial scheint angesichts des dünnbesuchten Turniers begrenzt. Nein, Wärme muss her. Wir müssen auftauen, irgendwie.
Da komischerweise nirgends ein Glühweinstand zu sehen ist, behelfen wir uns mit Currywürsten. Wenn man Gesicht und Hände ganz dicht über die dampfende Masse aus Fleisch und Soße hält, entsteht eine leichte Illusion von Wärme. Mit jedem Bissen allerdings schwindet dieser Effekt; ein Dilemma.
Zur Halbzeit führt Nordzypern mit 1:0. Die Stimmung auf den Rängen ist gedrückt. Keine Wende in der zweiten Hälfte. Wir trippeln auf der Gegengerade hin und her und schauen sinnierend unseren Atemwolken nach, während Grönland sich vergeblich abmüht, den auch auf dem Kiez vereinigungsunwilligen Nordzyprioten ein Remis aufzuschwatzen.
Ich halte Ausschau nach Opa Edi, kann seinen imposanten Grauschopf aber nirgends entdecken. Wir geben uns trotzig der nachgewiesenermaßen falschen Vorstellung hin, Alkohol wärme von innen, und holen uns die nächste Runde Bier. Jetzt spielt die Freie Republik St. Pauli gegen Gibraltar. Einige Hardcorepaulifans machen Stimmung. „Ein Tor, ein Tor, St. Pauli schießt ein Tor!“ fantasiert ein junger Bursche unbeeindruckt von Kälte und mangelnder Unterstützung, was allerdings die Männer vom Affenfelsen zur 1:0-Führung peitscht. Wir klatschen, und nicht nur aus Höflichkeit: Es wärmt.
Zur Halbzeit habe ich das Gefühl, mir werde es alsbald ergehen wie Ötzi, dem Gletschermann vom Hauslabjoch, sofern ich nicht recht bald in eine beheizte Berghütte flüchte. So verabschiede ich mich klappernd von sämtlichen Alexanders, zücke an der Budapester Straße noch kurz die Kamera für die pittoreske Tristesse einer gewissen Bühne 62 und finde muggelige Zuflucht im Grünen Jäger. Dort zieht gerade eine ebenso sympathische wie hochmittelmäßige Band aus Düsseldorf den Abend bis zur Hauptattraktion – Downpilot aus Seattle – in die Länge wie einst die Seiler auf der Reeperbahn ihre Schiffstaue.
Immerhin: Es ist warm. Und Downpilot spielen ihre langsamen Americana-Preziosen mit Ernst und Würde. Außerdem sieht der Sänger aus wie Jackson Browne.
St. Pauli hat übrigens wirklich noch den Ausgleich geschossen, wie ich aus dem Web erfahre. Psychologisch natürlich ganz schlecht für Gibraltar.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Kältebezug
1. „Shiloh Town“ von Tim Hardin
2. „Antarctica starts here“ von John Cale
3. „Frozen“ von Madonna
Es ist so kalt, als hätten die Männer aus dem Eis eine Methode gefunden, ihr Standardwetter mit nach Hamburg zu schmuggeln. Unsere Hände nehmen die Form des außergewöhnlich steifen Bierplastikbechers an, denn an Fellhandschuhe hat keiner von uns gedacht. Wenn wir ausgetrunken haben, können wir unsere gebogenen Finger als Getränkehalter vermieten. Als Idee nicht schlecht, doch das Vermarktungspotenzial scheint angesichts des dünnbesuchten Turniers begrenzt. Nein, Wärme muss her. Wir müssen auftauen, irgendwie.
Da komischerweise nirgends ein Glühweinstand zu sehen ist, behelfen wir uns mit Currywürsten. Wenn man Gesicht und Hände ganz dicht über die dampfende Masse aus Fleisch und Soße hält, entsteht eine leichte Illusion von Wärme. Mit jedem Bissen allerdings schwindet dieser Effekt; ein Dilemma.
Zur Halbzeit führt Nordzypern mit 1:0. Die Stimmung auf den Rängen ist gedrückt. Keine Wende in der zweiten Hälfte. Wir trippeln auf der Gegengerade hin und her und schauen sinnierend unseren Atemwolken nach, während Grönland sich vergeblich abmüht, den auch auf dem Kiez vereinigungsunwilligen Nordzyprioten ein Remis aufzuschwatzen.
Ich halte Ausschau nach Opa Edi, kann seinen imposanten Grauschopf aber nirgends entdecken. Wir geben uns trotzig der nachgewiesenermaßen falschen Vorstellung hin, Alkohol wärme von innen, und holen uns die nächste Runde Bier. Jetzt spielt die Freie Republik St. Pauli gegen Gibraltar. Einige Hardcorepaulifans machen Stimmung. „Ein Tor, ein Tor, St. Pauli schießt ein Tor!“ fantasiert ein junger Bursche unbeeindruckt von Kälte und mangelnder Unterstützung, was allerdings die Männer vom Affenfelsen zur 1:0-Führung peitscht. Wir klatschen, und nicht nur aus Höflichkeit: Es wärmt.
Zur Halbzeit habe ich das Gefühl, mir werde es alsbald ergehen wie Ötzi, dem Gletschermann vom Hauslabjoch, sofern ich nicht recht bald in eine beheizte Berghütte flüchte. So verabschiede ich mich klappernd von sämtlichen Alexanders, zücke an der Budapester Straße noch kurz die Kamera für die pittoreske Tristesse einer gewissen Bühne 62 und finde muggelige Zuflucht im Grünen Jäger. Dort zieht gerade eine ebenso sympathische wie hochmittelmäßige Band aus Düsseldorf den Abend bis zur Hauptattraktion – Downpilot aus Seattle – in die Länge wie einst die Seiler auf der Reeperbahn ihre Schiffstaue.
Immerhin: Es ist warm. Und Downpilot spielen ihre langsamen Americana-Preziosen mit Ernst und Würde. Außerdem sieht der Sänger aus wie Jackson Browne.
St. Pauli hat übrigens wirklich noch den Ausgleich geschossen, wie ich aus dem Web erfahre. Psychologisch natürlich ganz schlecht für Gibraltar.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Kältebezug
1. „Shiloh Town“ von Tim Hardin
2. „Antarctica starts here“ von John Cale
3. „Frozen“ von Madonna
Aufruf
Lieber Unbekannter (falls du eine Frau bist, korrigiere mich bitte),
du hast am Wochenende in der Seilerstraße einen Fahrradsattel samt Stange „gefunden“. Gut, du hast den Drehhebel umlegen müssen, um die Stange aus dem Rohr zu ziehen. Doch das war völlig in Ordnung so; schließlich hätte dies auch ein Dieb tun können. Ich war ja leider zufaul gutgläubig und hatte es versäumt, den Sattel plus Stange abends mit in die Wohnung zu nehmen; nun hast du das vorsorglich für mich übernommen, und das ist fantastisch.
Allerdings irritiert mich die Dauer der Sicherungsverwahrung. Und auch der Ort ist mir bis jetzt noch nicht ganz klar geworden. Wenn ich wüsste, wer du bist und wo du wohnst, wäre mir auch wohler. Deshalb bleibt mir nur dieser Weg, dir meinen Dank auszudrücken, verbunden mit der Zusicherung: Ja, ich habe gelernt aus dieser Sache. Ich werde künftig immer selber den Drehhebel umlegen, den Sattel samt Stange aus dem Rohr ziehen und des nachts an einem sicheren Ort deponieren.
Du kannst mir das Teil also zurückgeben. Du weißt ja, wo das Fahrrad angeschlossen ist. Heute habe ich mal probiert, damit herumzufahren. Es ist doch recht unbequem.
Noch einmal ganz herzlichen Dank für deine fürsorgliche Zivilcourage. Sie hat möglicherweise ein Verbrechen verhindert. Über einen angemessenen Finderlohn lasse ich natürlich mit mir reden, keine Frage.
Dein Matt
du hast am Wochenende in der Seilerstraße einen Fahrradsattel samt Stange „gefunden“. Gut, du hast den Drehhebel umlegen müssen, um die Stange aus dem Rohr zu ziehen. Doch das war völlig in Ordnung so; schließlich hätte dies auch ein Dieb tun können. Ich war ja leider zu
Allerdings irritiert mich die Dauer der Sicherungsverwahrung. Und auch der Ort ist mir bis jetzt noch nicht ganz klar geworden. Wenn ich wüsste, wer du bist und wo du wohnst, wäre mir auch wohler. Deshalb bleibt mir nur dieser Weg, dir meinen Dank auszudrücken, verbunden mit der Zusicherung: Ja, ich habe gelernt aus dieser Sache. Ich werde künftig immer selber den Drehhebel umlegen, den Sattel samt Stange aus dem Rohr ziehen und des nachts an einem sicheren Ort deponieren.
Du kannst mir das Teil also zurückgeben. Du weißt ja, wo das Fahrrad angeschlossen ist. Heute habe ich mal probiert, damit herumzufahren. Es ist doch recht unbequem.
Noch einmal ganz herzlichen Dank für deine fürsorgliche Zivilcourage. Sie hat möglicherweise ein Verbrechen verhindert. Über einen angemessenen Finderlohn lasse ich natürlich mit mir reden, keine Frage.
Dein Matt
29 Mai 2006
Zwei neue Kerben im Colt
Im Sanitärbereich der Color Line Arena wedele ich immer hektischer vor den Fotozellen eines Wasserhahns herum, erfolglos. Als ich es bei einem anderen versuche, tritt ein Mann ans erste Waschbecken, streckt kurz und bestimmt die Hand aus und erzwingt mühelos einen prachtvollen Strahl, der mich auch als Rinnsal düpiert hätte. Hmpff.
Im Saal auf der Bühne steht derweil zusammen, was nicht zusammengehört: Mark Knopfler und Emmylou Harris, der schottische Gitarrenstilist also und die Countryikone aus Alabama. Harris sang 1972/73 auf beiden Alben von Gram Parsons, diesem frühvollendeten und -gestorbenen Genie des Countryrock, und sie schaffte 1976 auf Dylans „Desire“ das Unmögliche: mit His Bobness glorios zu duettieren. Ihre Methode war die einzig richtige: einfach drauflossingen mit der ganzen hohen kräftigen Reinheit ihres Jubilierens und gar nicht erst darüber nachdenken, was diese komische Kratzkehle neben ihr vokal so vorhat.
Und heute steht sie in Hamburg auf der Bühne. Oben ist an ihr alles Haar, eine gewaltige weißgraue Löwenmähne; hüftabwärts sieht man zwei Strohhalme in Röhrenjeans, die in Harris' Welt offenbar als Beine durchgehen. Nein, „Emmy“, wie der (nicht mir ihr) verheiratete Knopfler sie irritierend zärtlich nennt, hat kein Gramm Fett zugelegt, seit sie einst den Junkie Parsons beim Dahinsiechen begleiten musste.
Das vieltausendköpfige Publikum scheint allerdings vor allem wegen des Stadionrockers Knopfler da zu sein. Ich würde meine sämtlichen Emmylou-Harris-Alben auf ungefähr folgende berufsspezifische Aufteilung verwetten: Lehrer (48 %), Abteilungsleiter (16 %), Abteilungsleitersekretärinnen (27 %), alle in der verwelkten Blüte ihrer Jahre. Brav klatschen sie jeden Viervierteltakt mit, sie wiegen steif die Köpfe und schauen selig, und zweifellos sind das alles Emotionen mit einer gewissen Substanz, doch ich fremdle sehr auf meinem Platz Nr. 10 im Untergeschoss 16, Reihe 19.
Während der Zugaben stehen sie alle auf, die Lehrer, Abteilungsleiter und Abteilungsleitersekretärinnen, sie klatschen im Takt und wiegen selig die Köpfe. Ich verziehe mich leise, mit zwei weiteren Kerben im Colt. Und neben der größeren der beiden steht Emmy.
Bonustrack: „In my hour of darkness“ von Gram Parsons und Emmylou Harris, 1973
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