Auf der Verkehrsinsel zwischen Holsten- und Simon-von-Utrecht-Straße steht morgens ein Zeitungsverkäufer. Der Mann ist Mitte 60, er trägt stets eine Umhängetasche über dem leuchtend roten Poncho.
Als ich ihn das erste Mal von nahem sah, fiel mir sein Walter-Ulbricht-Kinnbart auf (Foto: das Original), der dank seines fortgeschrittenen Alters weiß gefärbt war. Und wie sich rasch herausstellte, teilte der Zeitungsmann auch den Zungenschlag mit dem einstigen SED-Chef.
„Was für ein Ess-zeh-hoa-Weddor!“, begrüßte er mich gestern so fröhlich wie trefflich mit einer gleichwohl schamhaften Umschreibung der meteorologischen Gesamtlage. Heute hingegen lachte nicht nur er, sondern uns beiden auch die Frühlingssonne. „Eine Mopo bitte“, sagte ich.
„Eine Möpö!“, juchzte der Sachse erfreut auf, „un ich dochde schön, eine BILD. BILD is nämlich aus. Viele forgässen: Mir läh’m im Kombjuderzeidaldor“, führte er weltläufig aus, „wenn mor orwends zu viele Exemblore zerügggibd, grischd mor am nägsde Doach ’s Gönding’gend gegörzd. Vom Gombjudor. Döshalb is de BILD aus.“
„Ich brauche sowieso keine BILD“, beruhigte ich ihn, „sondern die Mopo.“ „Eine Möpö“, strahlte der Sachse mit im Morgenlicht tanzenden Ulbricht-Bart, „hier, bidde sähr.“
Ich zahlte 60 Cent und fuhr weiter – in der Gewissheit, einen Menschen kennengelernt zu haben, der einst die DDR überlebt hatte und jetzt, im Westen, wegen stockender Verkäufe das BILD-Kontingent gekürzt bekommt.
Was kann es Schönres gäh’m?
Da geht`mers Herz auf! Ich liebe Sächsisch, weiß auch nicht warum. Bin in Hamburg geboren, groß geworden und noch nie in Sachsen gewesen. Aber ich liebe es. Eine unerotischere Sprache gibt es eigentlich gar nicht. Man stelle sich eine sexy Frau vor mit allen körperlichen Attributen, die Mann sich so vorstellen kann und die macht dann den Mund auf und babbelt Sächsisch. Das wars. Ende, aus, da geht nichts mehr. Da hilft selbst kein Viagra mehr. Umgekehrt sicher auch. Ein Dolph Lundgren, der sächsisch spricht, hätte nie in Rocky IV (oder wars 3) auftreten können.
AntwortenLöschenWobei mich das mit der unverkäuflichen Bild natürlich auch sehr freut.
Nicht mehr lange hin und er wird verkünden:
AntwortenLöschen"Niemond hot die Obsicht ene BILD zu goofen".
stefan, im Falle Dolph Lundgren hatte sich schon damals die Synchronisation als segensreich erwiesen.
AntwortenLöschenoldman, das wäre fein – sofern es ernster gemeint wäre als die Äußerung, die Sie abgewandelt haben.
Sehr schön, wie Sie den Dialekt aufgeschrieben haben. Ich konnte mir den Herrn wirklich vorstellen.
AntwortenLöschenWarum Sie aber für die Mopo Geld ausgeben, ist mir ein Rätsel. Und dann auch noch im gleichen Atemzug die Bild verteufeln. Ist doch mittlerweile dasselbe Niveau, oder nicht?
Ich bin ja Gelegenheits-Mopo-Leser. Immer, wenn ich eine Pizza bei Joeys bestelle, scheinen die unaufgefordert dieses Druckerzeugnis beizulegen. Und genau diesen Stellenwert nimmt die Gazette daher bei mir auch ein.
Die Mopo passt sich in ihrer Wortwahl zwar immer mehr dem großen Konkurrenten an, steht aber a) wenigstens tendenziell auf der richtigen Seite und ist eben nicht ganz so verlogen wie die Bild.
AntwortenLöschenWobei mir ja heute morgen wieder der Hals geschwollen ist. Das hätte ich auch längst gebloggt. Wäre da nicht die selbstauferlegte Restriktion, diese Woche nur in Limerick-(ähnlicher)-Form zu bloggen.
gp, meine Erwägungen folgen weitgehend denen von ramses.
AntwortenLöschenramses, ich dachte immer, Limericks seien auf jedes Thema anwendbar. Also ran an die Mopo!
Schon. Aber die typisch-mopoische Überraschung, dass nun ausgerechnet (!) ein Anzugsträger als einziger Testkandidat die stabile Seitenlage hinbekommen hat, ist doch schon sehr speziell. Aber hilft ja nix.
AntwortenLöschenImmerhin wollte er Dir kein Neues Deutschland verkaufen.
AntwortenLöschenIch war übrigens in der vergangenen Woche in Bonn im Haus der Geschichte. Der durch die Ausstellung führende Geschichtsstudent wies beim Ausstellungsstück Ost-Sandmännchen übrigens auf die Ähnlichkeit zu Walter Ulbricht hin, die mir bis dahin gar nicht aufgefallen war.
Zur Mopo kann ich nix sagen, ausser das ich sie hier kennengelernt habe. Ich habe seit gestern Morgen ca. 10 Stunden in diesem Blog verbracht und betrachte mich jetzt als genauso aufgeklärt wie die werte Ms.Columbo. Ich habe systematisch alle Blogeinträge gelesen, ja alle. Aber rückwärts von Jetzt nach Damals.
AntwortenLöschenUnd wissen Sie was Hr. Wagner?: Warum konnten Sie nicht schon 2004 bloggen, dann hätt ich jetzt noch was zu lesen...
Es gefällt mir ausserordentlich gut hier und zum Glück geht's hier ja zügig weiter, jeden Tag neuen Lesestoff. Und manchmal erkenne ich sogar die wenigen Teile von Hamburg wieder, die ich mal besuchen durfte. Z.b. den StageClub, wo ich mir GavinDeGraw angeschaut habe.
Ach und nein, ich bin weder wegen Heidi's Füssen noch wegen Rachgelüsten an sämtlichen Exen hier gestrandet, mich hat Ihr Sternblog hierhin getrieben! Und seid gestern sinniere ich ehrlich darüber nach, welches Haushaltssparwunder ich wohl an eine Damen-Illustrierte verschicken könnte...noch ist mir nix eingefallen.
Eines würde ich allerdings noch gerne wissen:
Um welche Band handelt es sich denn, die Sie so schamhaft verschwiegen haben? In der Story vom verlorenen Mantel und vom "Meisterwerk"....da bin ich echt neugierig.
Abscliessend sag ich mal bis morgen
Übrigens gab oder gibt es ja auch Asterix-Hefte in Mundart, darunter auch Sächsisch. "De Rose und`s Schwärd!". Ist nach der reinen Lehre nicht richtiges Sächsisch, aber für Dialektliebhaber wie mich ein Genuss.
AntwortenLöschenMal seh'n ob ich so' Limerick hier doch mal kurz gebacken krieg.
AntwortenLöschenBetrunken von Most
erschlug Friedhelm Ost
den fischigen Sild
so stand es in Bild
ganz anders beschrieb das die Morgenpost
Ein sächsischer Jeck
steht vorne am Eck
und wedelt ganz wild
mit der neuesten BILD
bei MOPO Lesern verfehlt das den Zweck
Ich versteh' ihn perfekt
als er mich lächeln anbleckt
der Morgenpostmann
und er lächelt mich an:
"In Hamburch schbreschen 's doch ooch Diolekt."
oh, sind deren dreie, Matt verzeihe.
Whykiki, ich bin platt – und beschämt, dass Sie derart viel Lebenszeit (ZEHN Stunden!?) an dieses planlose Geschreibsel hier verschwendet haben. Natürlich rührt es mich auch, und ich werde versuchen, Ihrem Interesse gerecht zu werden, auch künftig. Ach ja, das nie enttarnte Meisterwerk … Es kam von Schiller und hieß „Tag und Nacht“. Arggghh …
AntwortenLöschenoldman, Sie sind ein wahrhafter Dichter! Wunderbar – ich hoffe auf mehr.
Danke, das lernt man in Opas CdhD.
AntwortenLöschenMit Schrecken und Bestürzung stelle ich fest, daß das obige anbleckende Lächeln auf dem Transport ein d verloren hat.
Intuitiv wusste ich auch trotz fehlenden ds sofort, was Sie gemeint hatten …
AntwortenLöschenSind Sie sicher, daß der Bart "weiß gefärbt" war?
AntwortenLöschenBei mir geht das ganz ohne zu färben, obwohl ich lange nicht so alt bin wie der Ulbricht auf dem Bild...
Aha, da möchte jemand spitzfindig sein. Nun, das kann ich auch.
AntwortenLöschenAlso, der Bart war wirklich weiß gefärbt, und zwar vom Alter, metaphorisch gesprochen. Gut so?