24 Oktober 2005

Die panische Sekunde

Häufig bin ich auch abends im Einsatz, entweder auf Konzerten (mit gewöhnlich halbdienstlichem Anstrich, weil die Kontaktpflege das gänzlich freie Flottieren durch den Abend ein wenig einschränkt) oder auf Releasepartys und immer öfter auf sogenannten Listening Sessions. Dabei wird mir und den Kollegen einige Zeit vor Veröffentlichung ein neues Album vorgespielt, das sich die Plattenfirma nicht zu bemustern traut.

Das hat seine Gründe. In den 70ern und 80ern, Alice Schwarzers großer Zeit, war jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger. Heute ist jeder Musikjournalist ein potentieller Raubkopierer. Wir werden inzwischen behandelt wie flackernd blickende syrische Hassprediger am Flughafen, die mit seltsam ausgebeulter Taille nach New York fliegen möchten – und zwar ohne Rückflugticket.


Unlängst stand bei einer Listening Session das neue Album von Kate Bush auf dem Programm. Die Plattenfirma hatte das Restaurant Gardoza's an der Alsenstraße dafür gebucht. Nach einer Leibesvisitation und Konfiszierung aller strombetriebener Gegenstände wurde uns auch ohne weitere Auflagen Zutritt gewährt. Das Gardoza’s ist eine gute Wahl für eine komplexe Künstlerin wie Kate Bush. Einerseits strahlt es eine gewisse postmoderne Kühle aus, andererseits wird es von einem gewaltigen offenenen Kamin dominiert. Seine Flammen schlagen hoch in ein großes gläsernes Rohr, das in der Decke verschwindet.


In gemütlicher Runde saßen wir dort beisammen. Da war der Wigger von Spiegel online, der Krulle vom WOM-Journal - und der Zeiser vom Prinz. Der hatte seine journalistischen Utensilien vergessen (wahrscheinlich, weil er unterbewusst annahm, die Plattenfirma argwöhnte in seinem Stift ein verstecktes Aufnahmegerät). Also lieh ich ihm meinen Schreibblock, von dem er im Verlauf der Albumvorführung ein ums andere Blatt abriss, um sich rezensionsrelevante Gedanken zu notieren.


Am Ende sage ich zu ihm: „So, Christian, gibst du mir bitte die Blätter wieder? Die waren nur geliehen.“ Die Sekunde panischer Verblüffung vor seinem erleichterten Auflachen war sehr hübsch anzuschauen.


Als die CD durchgelaufen war, nahm der Mann von der Plattenfirma sie aus dem Player, schaute weihevoll und kündigte ihre sofortige Vernichtung an. Dann zerbrach er sie, achtete aber darauf, dass keine Bruchstücke zu Boden fielen. Uns troff der Geifer, aber wir hatten keine Chance aufs kleinste Silberfitzelchen Kate Bush. Wenigstens händigte man uns die Handys wieder aus.


Guter Abend.

PS: Die Anti-Raubkopierer-Kampagne ist inzwischen Gegenstand von Spott und Satire. Oben abgebildete parodistische Variante des Claims konnte man unlängst bei
spreadshirt.net als T-Shirt kaufen.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The strangest thing" von George Michael, „Solitary diving“ von Adrian Crowley und „Desafinado“ von Astrud Gilberto & George Michael.

3 Kommentare:

  1. Ich muß das T-Shirt kaufen! In der Tat ist dieser recht offensichtliche und keinesfalls subtil zu nennende, dennoch aber des Pudels Kern quasi dem Faß die Krone ins Gesicht schlagende Spruch zwar einfach, aber eben auch einfach großartig.

    Über den Unsinn des Wortes "Raubkopierer" im juristischen, aber auch umgangssprachlichen Sinn muß ich Ihnen ja nichts erzählen. ;-)

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  2. Aber, lieber Matthias, eines war uns in jenem Moment des Schocks entgangen: Der Kollege von der EMI hat nur eine CD zerbrochen. Das neue Album von Kate Bush ist aber ein Doppelalbum. Das heißt: Eine CD ist noch da draußen. Die Spürhunde sind bereits unterwegs!
    Bis Donnerstag bei Teenage Fanclub! Muss meinen DAT-Rekorder noch aufladen.

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  3. Gut, und ich mache schon mal die Tauschbörsen klar ... ;-)
    Matt

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