25 Juni 2006

Laggs auf vier Uhr

Über das Restaurant Tai-Pan („Sushi all you can eat!“ abends für laue 14,90) habe ich schon einmal berichtet, und zwar recht positiv. Damals gab es das Sushi aber auch noch mit Fisch …

Zwischen zwei WM-Spielen laufen Ms. Columbo, der Franke und ich dort wohlgemut auf. Doch nachdem wir eine Viertelstunde lang ratlos suchend auf die kreisenden Gemüsetellerchen, frittierten Hähnchenunterschenkel, Gurkenstücke in Reisröllchen und pappigen Dim Sums gestarrt haben, moniere ich bei der schüchternen deutschen Bedienung die erschütternde Fischarmut, die vermutlich exakt jener der Elbe bei Dresden in den 70er Jahren entspricht. Das sage ich zwar nicht explizit, lasse es aber mitschwingen.

Der Sushikoch, beschwichtigt die junge Frau mich daraufhin eilends, sei im Verborgenen – nämlich der Küche – bereits fleißig tätig, und bald würde der Kreisverkehr, so fuhr sie sinngemäß fort, nur so strotzen vor Köstlichkeiten maritimer Herkunft.

Nach weiteren fünf Minuten des traurigen Betrachtens fischloser Sushischälchen wende ich mich erneut an die zuständigen Instanzen, diesmal aber auf höherer Entscheidungsebene, der chinesischen. Der Mann lächelt ebenso peinlich berührt wie deeskalierend und versichert mir unter unablässigem Nicken die baldige, ja gleichsam sofortige Niveauanhebung der Setlist. Murrend gehe ich zurück Ms. Columbo und dem Franken, und kaum sitze ich, liefert uns der Chinese unter Umgehung des Kreisverkehrs umstandslos eine kleine Kollektion von Lachssushi direkt an den Tisch.

Sogleich besänftigt danken wir herzlich und tun uns gütlich daran, ohne freilich zu den anderen Gästen aufzublicken, die zweifellos unsere Vorzugsbehandlung kräftig zu missbilligen wissen. Andererseits hatte ich – nur ich! – mich zweimal zum Widerstand aufgerafft, während die dumpfe Masse sich stumm in ihr Schicksal fügte. Sie sollen sich also bitte nicht so anstellen und die Zeit bis zur regulären Lieferung des Fischsushi eben mit Omelettstreifen verbringen, die rücklings auf Reisbällchen geschnallt sind.

Und siehe da: Allmählich zeichnet sich auch offiziell eine Besserung der Lage ab. Was auch dringend nötig ist, denn unsere außer der Reihe servierte Lieferung ist schon nach Sekunden aufgeteilt und verputzt. Allerdings wird uns nun auch die schlechte strategische Lage unserer Sitzposition deutlich. Wir sitzen sehr weit entfernt vom Ort der Laufbandbestückung. Jeder Lachs, alle Muscheln müssen, nachdem sie ins Rennen gegangen sind, fast eine komplette Runde absolvieren, ehe sie überhaupt in unsere Reichweite kommen. Und man kann sich vorstellen, wie schwer das angesichts der auf echtes Sushi geiernden Tai-Pan-Gäste selbst einem Fisch wie dem Lachs fallen muss, der in der freien Natur ja sogar Schleusen, Bärentatzen und wahrscheinlich auch Staudämme zu überwinden vermag, während er tapfer flußaufwärts strebt zum Ort seiner Geburt, wo er nach all der Mühsal schließlich umstandslos ablaicht und kurz darauf verstirbt.

Kurz: Es kommt weiterhin nichts Fischiges bei uns an. Von meiner Sitzposition aus sehe ich zwar mit Bassettblick, welche Must-have-Tellerchen aufs Band gestellt werden, doch der mir gegenüber sitzende Franke verfolgt kommentierend ihr Schicksal bis zu jener Sekunde, in der die besser postierte Konkurrenz sie betrüblicherweise runterklaubt.

Doch mit der Zeit schlägt sich wirklich hie und da eins durch bis zu uns. „Laggs auf vier Uhr“, raunt der Franke dann konspirativ zu uns herüber, „jetzt auf drei Uhr, auf zwei … jetzt!“, und die prächtige Ms. Columbo, perfekt platziert direkt am Band, greift beherzt zu und erlegt für unsere kleine Schicksalsgemeinschaft ein Sushischälchen – eins mit echtem Fisch!

Mit dieser perfekten Koordination, einer geradezu patentierbaren Schleppnetzfangmethode fürs Fischen in Innenräumen, entgehen uns hinfort keine relevanten Schälchen mehr, obgleich sie den ganzen Abend über kaum häufiger vorbeikommen als die Queen Mary 2 im hiesigen Trockendock.

Egal: Irgendwie werden wir jedenfalls satt.
Trotz „all you can eat“.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über die Vorzüge des Teamwork
1. „Let's work together“ von Canned Heat
2. „Allein machen sie dich ein“ von Ton Steine Scherben
3. „Smells like team spirit“ (haha!!!) von Nirvana

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land

Gesichtszwillinge (3)


Nanu, seit wann trainiert denn Hannibal Lecter die Schweizer Fußballnationalmannschaft? Anthony Hopkins (rechts, äh links) und Köbi Kuhn wurden möglicherweise bei der Geburt getrennt.
(Fotos: Westlord.com, tele.ch)

Weitere Gesichtszwillinge:
– Franz Beckenbauer und Erich Honecker
– Angela Merkel und Peter Ustinov

24 Juni 2006

Beckenecker


Klar, an der Brille muss er noch arbeiten.
Den Rest hat Franz aber schon ziemlich gut hingekriegt.

23 Juni 2006

Die Fundstücke des Tages (20)

1. Seit vielen Jahren schon erspare ich es mir aktiv und bei vollem Bewusstsein, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. In diesem kleinen Textkunststück von Thilo Baum erfahre ich nun auch, WARUM das die absolut richtige Entscheidung gewesen ist.

2. In der Berliner Galerie Aquarium findet zurzeit eine Ausstellung mit 27 wirklich außergewöhnlichen Fußballexponaten statt – darunter die drei Zähne (Foto), die der bedauernswerte französische Kicker Patrick Battiston 1982 verlor, als unser Tormann Toni Schumacher ihm mitten aufm Platz nach dem Leben trachtete. Oder die konservierte Spucke (!) von Frank Rijkaard, die man angeblich aus Rudi Völlers Haaren herausgeholt hat – bevor er duschte.


3. Im „Kochbuch Foodball“ von Arne Friedrich und Ralf Zacherl gibt es ein Gericht namens „Chicken Frings“. Für einen Kalauerconnaisseur wie mich natürlich ein Fest. Hier weitere Anregungen für die zweite Auflage: Klöße à la Klose, Spaghetti mit Ball-Hack oder Schnitzel in Lahmsoße.


4. Schon gewusst? Es gibt speziellen Multivitaminsaft für Nager. Und der ist nicht billig: Literpreis 18 Euro. Zuchtmäuse hingegen – also genau jene Tiere, die solche Multivitaminsäfte für Nager wahrscheinlich wegsüffeln wie Gerhard Mayer-Vorfelder zwei Bocksbeutel Grauburgunder – kriegt man schon ab 15 Cent. Eine fremde und seltsame Welt.

Alle bisherigen Fundstücke des Tages:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13,
14, 15, 16, 17, 18, 19, Oh, my Google!

22 Juni 2006

Droste gegen Zaimoglu und umgekehrt

(Foto: hr)

Am 16. Juni erschien in der taz ein Artikel („Ohne Fahne niemals nicht”) des Satirikers Wiglaf Droste, in dem er gegen „den deutschen Türken“ wettert, der zur WM „schwarzrotsenfige“ Fahnen schwenke.

Ich entdeckte den Text online und las ihn mit der üblichen Mischung aus Fassungslosigkeit und Genuss. Mit Droste muss man beileibe nicht immer konform gehen, aber eine gallige Schreibe hat der Mann – meine Herrn! Sein Geätze gegen den kulturellen, sozialen und politischen Mainstream gönne ich mir seit Jahren, und eins ist mir inzwischen klar geworden: Wir müssen uns Wiglaf Droste als unglücklichen Menschen vorstellen.

Aber darum geht es hier ja nicht. Sondern darum: Der erwähnte taz-Artikel über „den deutschen Türken“ verschwand plötzlich am Nachmittag des 16. Juni auf Nimmerwiedersehen aus der Online-Ausgabe. Da ich nur den Link gesichert hatte, nicht aber den Text, mailte ich die taz an und bat um Aufklärung. Dort gab man sich sehr, sehr schmallippig. Zum Glück fand ich den Artikel in einem Forum wieder, wo er seither heiß diskutiert wird.

Heute nun, sechs Tage später, druckte die taz eine Gegendarstellung des Schriftstellers Feridun Zaimoglu, und die Sache wird plötzlich glasklar: Droste nämlich hatte Zaimoglu in einem hingerotzten Nebensatz des besagten Artikels als „blasierten Buchabschreiber“ niedergemacht (-> Hintergrund); und offenbar erwirkte der daraufhin die Entfernung des Textes aus dem Web.


Interessanterweise veröffentlichte Droste in seinem Blog am Nachmittag des 16. Juni – wahrscheinlich sofort nach Entfernung des Artikels auf der taz-Seite – eine veränderte Fassung des Textes. Darin verschärft er noch den Ton (oder die taz hatte ihn zuvor entschärft) und bezeichnet Zaimoglu nun als „schmierigen Buchabschreiber“.

Dadurch erhält der Text nun sogar einen latent rassistischen Unterton, was Droste sich unbedingt verkneifen sollte. Sein Blog-Eintrag jedenfalls ist noch immer online. Mal schauen, wann Zaimoglu es schafft, auch den aus dem Netz zu kicken. Die Uhr läuft.

Zum Körzen!

(Illustr.: Uni Münster)

Statt der BILD-Zeitung lese ich täglich das BILDblog. Zugegeben, damit überlasse ich verdienten Kollegen wie Stefan Niggemeier die Drecksarbeit. Aber diese Methode schützt mich auch vor gesundheitsgefährdenden Sätzen. So stoße ich nämlich nur ab und zu auf Ekliges von BILD-Mann Norbert Kotzdörfer Körzdörfer.

Nun war es allerdings mal wieder soweit: Das BILDblog servierte mir eine besonders vomitive Körzdörferei. Direkt vor der WM hatte der Wortauswürger nämlich in BILD noch mal kräftig an der Patriotismusschraube gedreht, und zwar mit Ausrufen wie: „Ja zu Deutschland! Ja zu deutschem Bier! Ja zur deutschen Hymne!

Das könnte man natürlich einfach alles als strunzdumm und simpelstgestrickt abtun, doch ein Satz aus Körzdörfers Parolenparade überschritt meine Ekelgrenze doch erheblich: Ja zur deutschen Frau, die lächelnd zuschaut! – und zwar den deutschen Männern, die in den Fußballkampf ziehen.

Tja, und jetzt sitze ich hier mit diesem Satz und kann nicht anders, als an die Rhetorik eines deutschen Ministers zu denken und sein Gesabbel von der „deutschen Frau“, die „einspringt, um Männer für die Front frei zu machen“.

Aber das geht wahrscheinlich nur mir so.

Ex cathedra: Die Top 3 der Polit- und Parolensongs
1. „Woman is the nigger of the world“ von John Lennon
2. „Fight the power“ von Public Enemy
3. „Nazi punks fuck off“ von Dead Kennedys

20 Juni 2006

19 Juni 2006

Im Reich der Zombieblogs

Heute wird es etwas selbstbezüglich und theoretisch, aber auch sehr spannend, versprochen. Es geht darum: Manipuliert Blogger.com möglicherweise seine Mitgliedszahlen? Einige Indizien scheinen das zumindest nahezulegen.

Wenn man sich zum Beispiel das Profil von ginehidi anschaut, stellt man fest: Es wurde angelegt im Februar 2006 und seither zweimal angeschaut. Auch das benachbarte Profil von dan06 wurde damals angelegt und zweimal aufgerufen. dan06 soll sogar ein Blog haben („danscrew“), aber das ist nicht online. Interessant genug, um ein wenig weiter zu recherchieren. Immerhin suggeriert die achtstellige Zahl am Ende jeder Blogger-URL ja eine hohe Millionenzahl an registrierten Blogs. Doch wo sind die denn alle?

Also habe ich mal wahllos im Heuhaufen herumgestochert und es u. a. mit der sehr viel höheren Zahl 18472123 als URL-Abschluss probiert. Ergebnis: eine julia, wieder angelegt im Februar 2006, angeblich 8 Profilansichten, aber kein Blog. In anderen Ecken – bspw. um die 13.000.000 – sieht es genauso aus. Diesmal sind offenbar im September 2005 massenhaft Namen angelegt worden, z. B. adrikosa. Angeblich 4 Profilaufrufe, kein Blog.

Weitere Stichproben – auch in niedrigen Regionen – ergeben praktisch immer das gleiche Bild: Karteileichen, Dummys, fiktive Blogs ohne Ende; ein echtes ist so selten wie ein Bär im Bayrischen Wald. Es scheint beinah so, als hätte ein Bot hunderttausende (oder gar Millionen?) von Pseudoprofilen angelegt.

Aber könnte es denn wirklich sein, dass der Google-eigene Anbieter Blogger.com im weltweiten Kampf ums boomende Gewerbe exorbitante Mitgliedszahlen vortäuscht? Und warum – um als Marktführer wahrgenommen zu werden? Immerhin geht es ja auch um Werbeeinnahmen.

Wenn jemand eine andere – profanere – Erklärung für das Phänomen der untoten Blogs bei Blogger.com hat: Ich bin sehr gespannt. Denn vielleicht ist es ja wirklich so, dass gefühlte 95 Prozent der Blogger schon nach kurzer Zeit wieder alles stehen und liegen lassen, ohne ihr Blog jemals zu löschen. Das spräche aber auch nicht für die Strahlkraft des Anbieters, wie ich finde. Zumal die üblichen Profilelemente wie Foto (im Bild: meins), Lieblingsfilme usw. ja noch nachzulesen sein müssten. Doch bei all den oben aufgeführten Stichproben fand sich nichts dergleichen; all diese Blogger scheinen kulturelle Banausen zu sein.

Sehr komische Geschichte, nicht wahr? Vielleicht liege ich aber auch völlig falsch, ähnlich wie der durchgeknallte Verschwörungstheoretiker im Film „23“. Also: plausible Theorien erwünscht. Sonst kann ich nicht mehr ruhig schlafen …

Meine trindidadischundtobagoische Freundin

Allmählich wird es wirklich zur Groteske. Seit Frankreich 1998 Fußballweltmeister wurde, haben die Blauen kein einziges WM-Spiel mehr gewonnen. Wenn sie jetzt nicht Togo weghauen – oh je … Schuld sind die Südkoreaner, die Zidane & Co. ein 1:1 abtrotzten und jetzt bessere Chancen als die Franzosen haben, die nächste K.O.-Runde zu erreichen.

Sollten die quirligen Asiaten wirklich ins Achtelfinale einziehen, werden sieben von ihnen nicht nur eine Siegprämie bekommen, sondern auch vom Wehrdienst freigestellt. Zu Südkorea zu halten, kommt also einem pazifistischen Akt gleich, denn ihr Weiterkommen senkte ja logischerweise die globale Kriegsgefahr. Für Schlachten braucht's nun mal Soldaten, und je weniger es davon gibt, desto schwieriger wird es, ein Gemetzel anzuzetteln. Null Soldaten, null Kriege – so simpel ist die Welt. Sieben Südkoreaner weniger sind schon mal ein Anfang. Also: Daumen drücken gegen die Schweiz!

Bei den eben genannten Ländern ist es übrigens einfach, ihre Einwohner zu bezeichnen: Franzosen, Südkoreaner (Foto: Spiegel online), Schweizer. Aber wie ist es mit Trinidad und Tobago? Ganz knifflige Sache, der die Dudenredaktion in ihrem aktuellen Newsletter ein interessantes Kapitel widmet. Ghana geht ja noch („Ghanaer“), ebenso wie Costa-Ricaner. Aber Togo?


Da dachte man immer, mit „Togolese“ korrekt unterwegs zu sein, und muss sich nun belehren lassen: Amtlich heißt es anders, nämlich Togoer. Und Menschen von der Elfenbeinküste heißen nicht etwa „Elfen“, „Elfenbeinküstler“ oder gar „Elfenbeiner“, sondern: Ivorer.

Bei der Ländernamenblähung Serbien und Montenegro stellt sich das Problem jetzt eh nicht mehr, aber wie ist es denn nun mit Trinidad und Tobago – „Trinidader und Tobagoer“? Darf ich vorstellen: meine trindidadischundtobagoische Freundin? Knirsch. Nein: Der Duden erlaubt hier nur die Umschreibung. Man muss also sagen: „Einwohner von Trinidad und Tobago“. Langweilig, aber korrekt.

Ach ja: Sollten sich die Togoer von den Franzosen doch nicht weghauen lassen, wird es ihnen übrigens quietschegal sein, ob wir sie weiter Togolesen nennen oder nicht. Und die Blauen werden wieder mal mit Häme leben müssen – adieu, les bloed …

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Einwohnerbezeichnungen
1. „An englishman in New York“ von Sting
2. „Young americans“ von David Bowie
3. „Zorba the greek“ von Mikis Theodorakis

18 Juni 2006

Der Epochenstreit

Heute spätnachts in der Domschänke entbrannte ein astrabefeuerter Disput darüber, welcher kulturellen Epoche wohl die hier abgebildete Speisekarte an der Wand zuzuschreiben sei.

Ich tippte grob auf 1933, doch die Runde erhob empörten Widerspruch, aus dem sich als Kernthese ein „Keinesfalls aus der Nazizeit!“ herausschälte, wofür man vor allem typografische Argumente ins Feld führte.

Stattdessen plädierte man vehement für eine Verwurzelung des offenbar emaillierten Schildes in den 50er Jahren, woraufhin ich mich murrend auf die 40er hochhandeln ließ, ohne zu weiteren Kompromissen bereit zu sein.

Eine endgültige Klärung ist wohl nur durch kompetentes Fachpersonal zu leisten, dessen Eingreifen ich für sehr wünschenswert hielte. Von den drei schwarzen Kreisen war übrigens nur eine mit einer Preisangabe versehen (Mettwurstbrot: 6,50), was eine gewisse Dürftigkeit des kulinarischen Angebotes nahelegt.

Aber darum geht es ja gar nicht.

16 Juni 2006

Günter Netzer ist ein Außerirdischer

„Sie hatten eigentlich keine Chance“, lobt heute Abend ARD-Mann Gerhard Delling die tapferen Angolaner, „und die haben sie genutzt.“

Ganz klar ein Mottenkistenfund von seltener Muffigkeit. Das mit der keinen Chance ist nämlich ungefähr der älteste Spontispruch der Welt, seit 1969 das gleichnamige Buch von Herbert Achternbusch auf den Markt kam; der Witz hat einen Zottelbart länger als der von Hồ Chí Minh und löste schon anno 1970 durch seine Omnipräsenz auf öffentlichen Gebäuden Mordfantasien bei der Stadtreinigung aus.

All das muss man wissen, wenn man die Reaktion von Dellings Kompagnon Günter Netzer beurteilen will. Der prustet nämlich völlig baff los, er kringelt sich geradezu, schaut dann den Delling verdattert an und sagt mühsam beherrscht so was wie: „Na, Sie haben aber eine Ausdrucksweise!“

Wie man weiß, galt
Netzer zu der Zeit, als dieser Spruch als Graffito auf jeder Wand stand, als linker Hippie mit Ferrari, als Rebell am Ball und irgendwie auch in der Politik. Kann es wirklich sein, dass dieser Mann den Gag noch nie gehört hat?

Seine Verblüffung jedenfalls war unmittelbar und echt, und ich nehme deshalb an, der echte Günter Netzer wurde irgendwann Anfang des Jahrtausends gegen ein physiognomisch identisches, aber lausig ausgebildetes Alien ausgetauscht, das die Invasion der Erde vorbereiten soll – ähnlich wie im Film „Invasion of the body snatchers“.

Heute Nacht kriegt E. T. Netzer wahrscheinlich einen Rüffel und dann ein Update auf Alpha Centauri, weil bestimmt auch seinem Führungsoffizier die Wissenslücke schmerzlich aufgefallen ist.

Zu dieser ganzen Alienproblematik erzähle ich demnächst eventuell auch noch eine weitere kleine Geschichte, wenn mir danach ist.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit SciFi-Bezug
1. „A spaceman came travelling“ von Chris de Burgh
2. „Silver machine“ von Hawkwind
3. „2000 lightyears from home“ von The Rolling Stones

15 Juni 2006

Ex cathedra: Die WM-Checkliste

War heute leibhaftig und persönlich im Stadion beim 3:0 von Ecuador gegen Costa Rica. Hatte Kloß im Hals, als die Spieler einliefen – einfach deshalb, weil diese Kinder des Glücks wirklich und wahrhaftig bei einer waschechten Weltmeisterschaft mitspielten und ich live dabei sein durfte.

Im „Fifa-WM-Stadion“, wie die AOL Arena, die mal Volksparkstadion hieß, für vier Wochen genannt werden muss, waren alle Nichtsponsorennamen entfernt. Na ja: fast. Auf dem Herrenklo entdeckte ein kleiner Junge ein unscheinbares elektrisches Schaltelement in Bodennähe, auf dem „Siemens“ stand.

Das fiel dem Knirps sofort auf, und er wies seinen Daddy mit einer Mischung aus Unverständnis und Empörung darauf hin, doch der war selbst viel zu schockiert ob der skandalösen Entdeckung, um seinem Söhnchen Lebenshilfe gewähren zu können.

Während des Spiels wurden immer wieder Wellen gestartet, die allerdings nach dem ecuadorianischen 1:0 allesamt an der grimmigen Bewegungslosigkeit des frustrierten costaricanischen Blocks verebbten. Natürlich wurde er dafür fröhlich ausgepfiffen.

Da ich bisher alle (in Worten: ALLE) WM-Spiele gesehen habe, fühle ich mich stark genug für eine Kurzeinschätzung sämtlicher Teams. Eins ist sicher: Der Weltmeister ist auch dabei …

Los geht’s:


– Angola: unbedarft und kampfstark. Können einem das Leben schwer machen, aber ohne Angriff wird das nix.
– Argentinien: abgebrüht, kühl, souverän. WM-Mitfavorit
– Australien: bissig, mit Pitbullmentalität. Wird spielerische Mängel aber nicht ausgleichen.
– Brasilien: schlafender Riese mit einem wachen Moment. Sie sollten mal zu elft spielen.
– Costa Rica: harmlos, leblos, müde. Wie konnten diesen sedierten Mittelamerikanern bloß zwei Tore gegen uns gelingen?
– Deutschland: leidenschaftlich, surfend auf der Brandung der Begeisterung. Mit Heimvorteil wirklich ein WM-Kandidat. Hipp, hipp, hurra.
– Ecuador: ballsicher, stark in allen Mannschaftsteilen – und noch nicht richtig gefordert

– Elfenbeinküste: bullenstark und technisch vorzüglich. Könnten Holland schlagen. Nein: müssen!

– England: überschätzt. Große Namen, aber limitierte Mittel. Kein Weltmeister, nein, nein.

– Frankreich: Altherrentruppe, die ihre Erneuerung verpasst hat. Lebt nur noch vom Nimbus. Und der bröckelt.
– Ghana: ohne Sturm kein Dreier: So simpel ist das.

– Iran: zu wenig aggressiv und wohl auch physisch zweitklassig

– Italien: steigerungsfähig, wird das Potenzial bei Bedarf abrufen. Natürlich.

– Japan: außerhalb Asiens wird das nix

– Kroatien: robust und technisch stark; Mannschaft wird demnächst explodieren.

– Mexiko: spielstark, aber ohne die nötige Durchsetzungsfähigkeit. Und Borghetti ist alt geworden, meine Herren.

– Niederlande: Team wird Fahrt aufnehmen. Muss es auch. Robben kaputttreten: eine Option für jeden Gegner.

– Paraguay: Guter Sturm, aber der sollte auch mal richtig hinhlangen.

– Polen: und tschüss …

– Portugal: Wie immer: viele Vorschusslorbeeren, die rasch verwelken werden.

– Saudi-Arabien: gepflegter Spielstil, wenn man sie lässt. Wird aber nicht mehr passieren.

– Schweden: hat Geniestreichpotenzial. Wird im Achtelfinale scheitern.

– Schweiz: sehr bissig und spröde. Harter Brocken. Und wenn sie auch noch anfangen, Tore zu schießen ...

– Serbien-Montenegro: Können sie mehr als zerstören? Sie werden keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.

– Spanien: perfektes Spielsystem, traumhaftes Verständnis. WM-Favorit.

– Südkorea: konditionsstark, aber zu bieder.

– Togo: gute Ansätze, aber starkes Leistungsgefälle im Team. Werden bald abreisen.

– Trinidad und Tobago: grandiose Amateure mit Herz. Hätten sie nur einen Knipser!

– Tschechien: auf dem Zenit, aber vielleicht auch schon zu saturiert. Alles ist möglich, im Guten wie im Schlechten.

– Tunesien: abwehrschwach, aber psychisch stabil – zumindest gegen Gegner aus der gleichen Liga.

– Ukraine: katastrophal. So lebhaft wie der Betonsarkophag überm AKW Tschernobyl.

– USA: schwach wie Bushs Umfragewerte. Selbst gegen Ghana wird das nichts.

Reeperwahn nachts um halb eins

An dieser Stelle muss jetzt mal German Psychos Ruf zerstört werden. Also: Er warf für uns heute nicht nur den Videobeamer an und projizierte das Spiel Deutschland-Polen auf eine eigens aufgehängte Leinwand; nein, er gewährte auch bereitwillig Zugang zu seinem Kühlschrank, in dem offenbar unerschöpfliche Astravorräte einer zweckdienlichen Verwendung entgegenbangten oder -fieberten; das weiß man bei Bier generell nicht so genau.

Seine zuvorkommende Art gipfelte im generösen Angebot, mir als Dauerleihgabe sein aussortiertes Nokiahandy zu überlassen, weil sich hinterm Display meines schraddeligen Siemensteils inzwischen derart viele Fusseln verfangen haben, dass ich mich wundere, wieso ich zu Hause überhaupt noch staubsaugen muss.


Kurz: German Psycho war ein vollendeter Gastgeber. Nur die direkt neben der Leinwand geparkte Chromaxt wirkte beunruhigend. Warum nur war sie so überaus blitzeblank gewienert …?

Als wir auf dem Heimweg die Reeperbahn erreichen, übersteigt der Trubel nach dem Sieg alle Vorstellungen. Tausende von Fans springen, hüpfen und singen auf der Meile herum, was einer Vollsperrung gleichkommt (das um 0:03 dokumentierte Bild der Kiezcam zeigt das nur sehr unzureichend). Dem Verkehr aus den Nebenstraßen bleibt nichts anderes übrig, als still zu verzweifeln. Und das war nur ein Vorrundenspiel …

Ein großer bulliger Mann in der Menge fasst plötzlich meine Hand und fragt: „Du Deutscher?“ Ich bejahe mit dem Konter „Und du bist Pole?“ Mit wehem Lächeln bestätigt er. „Tut mir Leid“, sage ich, eingedenk der polnischen Niederlage in letzter Sekunde. Er drückt meine Hand noch fester.

Weitaus merkwürdiger mutet indes der korpulente Typ unter unserem Balkon an, der um kurz vor halb eins an die Hauswand gegenüber schifft und dies mit einem dröhnenden „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland!“ begleiten zu müssen glaubt; mit passablem Bariton übrigens.


Pissende Patrioten sind mir gleichwohl lieber als brandschatzende, weshalb ich die zag aufkeimenden Chromaxtfantasien recht erfolgreich niederkämpfen kann.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über fatalen Waffengebrauch
1. „Careful with that axe, Eugene“ von Pink Floyd
2. „If I had a rocket launcher“ von Bruce Cockburn
3. „The man who shot Liberty Valance“ von James Taylor

14 Juni 2006

Bücher in freier Wildbahn

Als Mitglied eines weltweiten Netzwerks, welches sich für die generelle Freilassung von Büchern aus Bibliotheken und Schlafzimmerregalen einsetzt (vulgo „Bookcrossing“) erhalte ich stets eine Benachrichtigung per Mail, wenn mal wieder ein Exemplar in St. Pauli ausgesetzt wurde. Manchmal gehe ich dann sogar auf Pirsch, habe aber noch nie eins gefunden.

Natürlich habe ich auch selbst schon diverse Bücher ausgewildert, doch ein Finder hat sich noch nie via Bookcrossing bei mir gemeldet. Dabei waren die Bücher immer weg, wenn ich das nächste Mal verstohlen den fraglichen Ort in Augenschein nahm. Meldet euch doch mal, Männo!

Egal: Dieser Tage erreichte mich die Nachricht, ein Buch von Douglas Adams sei freigelassen worden, und zwar in „St. Pauli, Hamburg, at Heiligengeistfeld. Nun, diese Information ist in Zeiten, wo das WM-Fanfest täglich Zehntausende auf ein Areal von brutto 50 Hektar lockt, kaum konkreter als der Hinweis: Hinterlegt am Mittelmeer.

Die Suche habe ich mir also gespart. Aber da war ich trotzdem.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Literaturbezug
1. „Summertime in England“ von Van Morrison
2. „American pie“ von Don McLean
3. alles von My Latest Novel

12 Juni 2006

Schönheit kommt von außen

Nachdem wir gestern auf dem Fanfest noch einmütig die besondere Anmut der persischen Frauen gepriesen haben, die selbst von Niederlage und Tschador nicht zu beeinträchtigen war, ist Andreas heute hochverblüfft von der erstaunlichen Schönheitsquote unter den Ghanaerinnen.

Und ich auch.

Da ist die Welt schon mal zu Gast bei Freunden – und düpiert uns mit brutalstmöglicher Ästhetik. Morgen Abend wartet der nächste, ähem, Höhepunkt: die Brasilianierinnen (Foto: WM-Fankurve).

Ach, die WM müsste ewig währen!

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Schönheit
1. „Came so far for beauty“ von Leonard Cohen
2. „For the beauty of Wynona“ von Daniel Lanois
3. „Cylea“ von Christian Redl (Bonustrack)

11 Juni 2006

Der Fluch der Informationsgesellschaft

Unser Bauch-/Rückenkurs am Sonntag ist sakrosankt, ob nun ein WM-Spiel läuft oder nicht, selbst wenn daran die potenziell famosen Holländer beteiligt sind. Die erste Halbzeit verbringe ich noch auf dem Crosstrainer vorm Bildschirm, es steht 1-0, doch während der zweiten Hälfte muss ich Crunches machen, Liegestützen und Schlimmeres.

Zu Hause habe ich daher vorsorglich den DVD-Rekorder programmiert, ich werde also nichts verpassen. Jetzt, nach dem Kurs, gilt es nur noch den Fitnessclub zu verlassen, ohne das Endergebnis mitzukriegen. Spannung ist schließlich alles. Doch auf dem Weg vom Rödingsmarkt zum Kiez steht mir ein Parcours bevor, der mir alles abverlangen wird.

Zunächst muss ich durchs Clubfoyer, wo ein riesiger Flachbildfernseher die WM überträgt. Ein ernstes Hindernis, zumal man den Ton zur Erbauung auch der hintersten Ecke durchaus übers Anstandmaß hinaus aufgedreht hat. Mit tief ins Gesicht gezogener Baseballmütze, den Zeigefingern in den Ohren und innerlich „Na-na-na-ne-na-nä!“ rufend, haste ich durch die audiovisuelle Todeszone und schaffe es wirklich hinaus auf die Straße, ohne das kleinste Infofitzelchen aufzuschnappen.

Keine Ahnung, was die Leute dabei über mich denken. Oder was Ms. Columbo denkt, die ich im Gefolge habe. Na gut, eigentlich weiß ich, was sie denkt, aber ich frage lieber nicht. Die U-Bahn ist safe, wie Agenten oder Irak-Marines wohl sagen würden. An der Reeperbahn aber droht Ungemach. Fast jedes Bistro im Millerntorhochhaus überträgt nämlich live und versucht mit Außenlautsprechern auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Wir müssen daran vorbei, und es besteht das hohe Risiko, durch einen herüberwehenden Sprachfetzen der Nachberichterstattung das Spielergebnis zu erfahren. Das verdürbe mir gründlich den Spätnachmittag.

Auf dem Platz vorm Hochhaus sehe ich schon von weitem eine Gruppe orangeleuchtender Holländer, wende aber sofort den Blick ab, um meine innerlich ratternde Interpretationsmaschine mit keinerlei Hinweisen auf ihre Stimmungslage und somit auf den möglichen Spielausgang zu füttern. Außerdem rufe ich unablässig lautlos „Na-na-na-ne-na-nä!“ in mich hinein. Es wirkt. Aber wie jetzt den Bistrospießrutenlauf unbeschadet überstehen?

Ms. Columbo, selbst im Kopfschütteln noch konstruktiv, schlägt den Weg hintenrum vor. Sofort stimme ich zu. Nur von einer Touristenfresshalle namens Die Scheune droht geringe Gefahr, doch wir kommen ungeschoren dran vorbei, hasten durch die Seilerstraße. Fahrig schließe ich die Haustür auf und rette mich in den Flur.

Ein feiner Schweißfilm bedeckt meine Stirn. Tief in meiner Brust aber glost neben dem Stolz auf die bestandene Bewährungsprobe auch die Vorfreude auf die zweite Halbzeit. Das Interessante am Fußball ist ja, dass man nicht weiß, wie’s ausgeht, und diesen Zustand der Unschuld habe ich mir mit einer logistischen Meisterleistung und einem eiskalten Profi an meiner Seite erhalten.

Erleichtert falle ich in den Sessel und starte die Aufnahme. Doch es passiert nichts mehr, kein Tor, kein Elfer, kein Platzverweis. Die erste Halbzeit, sie hätte vollkommen gereicht.

Aber das konnte ich ja schließlich nicht wissen, verdammt noch mal.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Nichtwissenwollen
1. „Please don't tell me how the story ends“ von Kris Kristofferson
2. „I don't want to talk about it“ von Crazy Horse
3. „Don't tell and we won't ask“ von Thrice


(Das Foto hat nur einen indirekten Bezug: Es zeigt eine Tribüne auf dem WM-Fanfest von hinten. Die über den Rand ragenden Wikingerhelme fand ich lustig.)

Autogenes Grapschen

„Bist du dir eigentlich bewusst“, frage ich Ms. Columbo während der abendlichen Fußballübertragung mit mühsam unterdrücktem Zittern in der Stimme, „dass du momentan die gleiche Luft atmest wie Diego Armando Maradona?“
„Schon“, antwortet sie unangemessen kühl, „aber ich kann einfach sein Handspiel von damals nicht vergessen.“

Eine Antwort, die ich erst einmal verdauen muss. Ich meine: Welcher Mann, der sich für Fußball interessiert, hat schon das unfassbare Glück in Form einer Gattin, die so etwas überhaupt weiß? Wahrscheinlich nur ich. Davon unabhängig erwidere ich geduldig: „Maradona durfte das. 1986 war er Gott. Und seine Hand die Hand Gottes. Und Gott darf alles. Nicht wahr? Außerdem ging es gegen die Engländer, dann darf man das sowieso.“

Komischerweise ist Ms. Columbo nicht restlos überzeugt, weshalb mehr oder weniger ich alleine mich in der Gnade sonne, zurzeit die gleiche Luft zu atmen wie Diego Armando Maradona, der sich nur wenige Kilometer von hier im Stadion des HSV befindet, wo Argentinien gegen die Elfenbeinküste spielt.

Das Pendant zu diesem weihevollen Gefühl lieferte heute (wieder einmal) Lothar Matthäus, der auf die Frage, ob er lieber eine Frau sein möchte, antwortete: „Ich möchte nicht lieber eine Frau sein, denn dann würde ich die ganze Zeit an meinem Busen spielen.“

Gute Nacht.

(Foto: 1115.org)

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen Hände vorkommen
1. „Northern sky“ von Nick Drake
2. „The hands that built America“ von U2
3. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Peter Alexander

10 Juni 2006

Fußball ist unser Beben

Unter unserem Balkon ging es heute Abend nach dem turbulenten 4:2-Sieg Deutschlands gegen Costa Rica zu wie beim Schlager-Move. Der überm Haus verharrende und sich dabei infernalisch gebärdende Helikopter milderte die Schalllage kein bisschen. Kurz: Die WM hat begonnen, und der Kiez bebt.

Am meisten wackelt’s beim Fanfest auf dem Heiligengeistfeld. Dort tummeln sich Zehntausende, die Lightning Seeds spielen ihr unkaputtbares „Football’s coming home“, es gibt Torwände, Sponsorenzelte, und jedes Teilnehmerland hat seinen eigenen Pavillon mit landestypischen Spezialitäten. Die knuffige Tresendame am Stand von Ghana, die in einigen Jahrzehnten ihre Neigung zum Barocken widerstandslos ausgelebt haben wird, bequatscht mich zu zwei Hähnchenschenkeln mit Kochbananen zum Mitnehmen.

Zu Hause bei Ms. Columbo stößt das auf Begeisterung. Wir beschließen, uns in den nächsten Wochen mal einigen Pavillons intensiver zu widmen. Saudi-Arabien etwa lässt sich von Saliba beliefern, einem syrischen Restaurant, das wir sogar für würdig befanden, uns am Hochzeitstag verköstigen zu dürfen. Aber was erwartet uns bloß am Stand der Ukraine – vielleicht Kiewer Kürbisse, die im Dunkeln leuchten, und zwar von ganz alleine? Mal vorsichtig austesten.

Gerade frage ich mich übrigens, wie sich die heutige Niederlage Polens gegen Ecuador in Gelsenkirchen wohl auf die Gemütsverfassung der polnischen Hooligans auswirkt. Schon ohne akuten Frust in den Knochen gelten sie als Al-Kaida der Fußballszene. Ich empfehle daher bis auf weiteres eine weiträumige Meidung des Ruhrgebietes.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Gewalt
1. „Mother of violence“ von Peter Gabriel
2. „His hands“ von Candi Staton
3. alles von DJ Hooligan

09 Juni 2006

Die Fundstücke des Tages (19)

1. Heute spaßeshalber auf der Seite der Bahn nach der Verbindung Hamburg-Peking gesucht. Kann man wirklich buchen, dauert 177 Stunden. Und der Hammer: Man muss nur zweimal umsteigen! Genauso oft wie nach Cuxhaven.

2. Der Burda-Verlag scheint überwiegend aus Trollen zu bestehen, vor allem in der Führungsspitze. Dort wurden nämlich laut turi-2 neue interne Sprachregelungen getroffen, wobei man sich offenbar immer für die affigste aller Optionen entschieden hat. Alles, was bisher Zeitschriften hieß, nennt Burda jetzt „Gutenberg-Applikation“. Das ist Realsatire. Und handgestrickte Lösungen heißen von nun an „tailor-made solutions“, während die arme Jahrespressekonferenz zum „Annual Media Day“ verhunzt wurde. Wenn das Hinweise darauf sind, mit welchem Wortgeklingel Burda künftig seine Gutenberg-Applikationen füllen will, dann gute Nacht.


3. Die Gruner&Jahr-Applikation Bym gibt es nicht mehr. Sicher lag es an den Gründen, die hier zur Markteinführung im Januar erläutert wurden. Kassandro Matt – aber man wollte ja nicht hören.


4. Neu auf meiner Blogroll ist maunamea, und zwar nicht nur, weil sie eine Kieznachbarin ist, sondern weil sie hervorragend bloggt – und ihr Fahrrad einen Namen hat. Es heißt Hartmut.


5. Unten folgt das nächste Dylan-Radioshow-Update, inklusive dem Link zur fünften Sendung. Einen Witz habe ich schon aus der sechsten Folge über Gefängnisse stibitzt: „I don't like jails. They got the wrong type of bars.“ Yep. Hier alle Links: Teil 1 („Weather”), Teil 2 („Mothers”), Teil 3 („Drink”), Teil 4 („Baseball”) und Teil 5 („Coffee”).

08 Juni 2006

Die Flucht vom Fitnessklo

Zwischen Training und Dusche suche ich die Toilette auf, und zwar so, wie die Evolution mich schuf, aber plus Handtuch. Es gibt zwei Kabinen, eine ist besetzt. Als ich meiner dort üblichen Beschäftigung nachgehe, erhalte ich unfreiwillig akustisch Kunde von den erstaunlichen Vorgängen in der Nachbarkabine.

Ohne ins Detail gehen zu wollen – die Geräuschkulisse erinnert an Bombenangriffe. Könnte man Schall riechen, müsste ich sofort in Ohnmacht fallen, niedergestreckt von einem olfaktorischen Overkill. Auch Dauer und Dynamik der Attacken sprengen jede Vorstellung, zumindest meine.

Ich drücke kräftig aufs Tempo und verlasse diesen ungastlichen Ort, so schnell es geht. Im Vorraum leert gerade eine nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund den Mülleimer. Mir wird plötzlich klar, wie wenig schallisoliert die Kabinen sind und wie wenig gedämpft man gewisse Geschehnisse auch hier, an den Waschbecken, vernehmen kann. Und mir wird zugleich bewusst, was die nette Reinigungskraft mit Migrationshintergrund jetzt denken muss. Schließlich weiß sie nichts von einem weiteren in Frage kommenden Kandidaten.

Ein sehr, sehr unangenehmer Gedanke. Ich darf mir das, was eben in der Nachbarkabine geschah, keinesfalls anhängen lassen, soviel ist sicher. Aber soll ich sie wirklich ansprechen und die Sachlage wahrheitsgemäß aufschlüsseln? Soll ich, ein nackter Mann mit Handtuch, mich wirklich vor diese Frau hinstellen und beschwörend murmeln: „Hören Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich war das nicht, ehrlich!“? Hmm.

Sie ist weiter mit dem Leeren des Behälters beschäftigt und hat bisher höflicherweise nicht hochgeschaut; immerhin bewegt sie sich tagtäglich im Reich nackter Männer und weiß, was sich gehört. Und darin liegt meine Chance, doch noch ohne Plädoyer und Stigma aus der Sache rauszukommen. Also stehle ich mich rasch hinaus. Sie hat mich gewiss nicht gesehen, geschweige denn erkannt; erleichtert fliehe ich unter die Dusche.

Und dort, unter der schütztenden Kaskade, fällt mir nicht nur ein ähnliches Erlebnis vom Januar ein, sondern auch eine Geschichte von David Sedaris. Er erzählt davon, wie er auf einer Gartenparty das Klo aufsucht und dort etwas Unbeschreibliches im Becken vorfindet, was sich partout nicht wegspülen lassen will; also beginnt er fiebrig zu rätseln, wie er die dort dümpelnde Elefantenwurst los wird, um nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden.

Eine Geschichte, die mir bislang extrem witzig vorkam, aber im Licht der heutigen Ereignisse deutlich an Komik eingebüßt hat.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Toilettenbezug
1. „Waterloo“ von Abba (haha …)
2. „Pissing in a river“ von Patti Smith
3. „Aliens broke my toilet seat“ von Sir Oliver Mally's Blues Distillery

07 Juni 2006

Die Schmäh von Cordoba

Kurz vor Beginn der Fußball-WM ist es angebracht, noch einmal einen hübsch bösen Comedyclip zu würdigen. Er ging zwar schon mal rund, aber irgendwer verpasst ihn ja immer, und das darf nicht sein.

Es ist übrigens ganz nützlich, sich zuvor noch einmal das Vorbild ins Gedächtnis zu rufen, jenes denkwürdige Spiel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich bei der WM 1978 in Argentinien, welches als die Schmach von Cordoba in die Geschichtsbücher einging. Selbst Fußballfans, die selbige noch immer nicht verwunden haben, dürfte der Clip erfreuen – es sei denn, sie sind Nazis. Aber die stürzen sich ja nur auf meinen Blogeintrag vom 11. Februar.

Gut, hier ist sie also, die „Schmäh von Cordoba“:




Ex cathedra: Die Top 3 der satirischen Songs
1. „Everybody's makin' it big but me“ von Dr. Hook & The Medicine Show
2. „Bobby Brown“ von Frank Zappa
3. „I don't wanna sing Bob Dylan songs“ von Attersee

05 Juni 2006

Ein ganz mieses Nie-Wo

Ich habe schon immer zum Kalauern geneigt, nicht nur über Pfingsten auf Rügen. Ein guter Kalauer ist so doof, dass er schon wieder gut ist. Natürlich muss er einen Sinn ergeben, l’art pour l’art macht ihn fad. Doppeldeutigkeit, vertrackter Hintersinn und ein inhaltlich intakter Bezug beim Verdrehen und Veräppeln eines Spruchs: All das muss ein Vertreter dieses zu Unrecht verpönten Genres schon leisten, wenn er als perfekt geadelt werden möchte. Das ist natürlich bockelschwer, und das meiste, was einem so aus dem Finger rutscht, ist höchstens schön doof, aber keinesfalls weltmeisterlich.

So ahnt man kurioserweise in der Stadt Calau, die angeblich doch seine Namensgeberin gewesen sein soll, nicht einmal, was ein Kalauer überhaupt ist. Das beweist die Rubrik „Kalauer des Monats“ auf ihrer Website, wo es viele miese Witze gibt, aber definitiv keine Kalauer. Hallo, Calau, das hier zum Beispiel ist ein echter: Was heißt Sonnenuntergang auf Finnisch? Hell-Sinki.

Zugegeben, der ist äußerst übel. Selbst ich wage mir dabei allenfalls ins Fäustchen zu lachen, obwohl ich glaube, ihn vor vielen Jahren selbst verbrochen zu haben. Oder nehmen wir den hier: Was sagte die betuchte Adlige, als sie noch einmal über ihre sündhaft teure Geschlechtsumwandlung nachsann? „Once I was rich – now I am Richard …“ Deutliche Steigerung, behaupte ich. Dennoch überlasse ich ihn gern der Beurteilung der Nachwelt. Oder: Wie könnte man die Suche nach jamaikanischen Gangstern nennen? Natürlich Rasta-Fahndung. Und so weiter.

Kalauer jedenfalls passieren mir ständig. Als wir am Freitag vor Pfingsten in Binz auf Rügen eintrafen, fiel mir als erstes ein kalauernder Werbeslogan ein, mit dem das Strandstädtchen junge Individualurlauber anlocken könnte: „Ich binz, wer sonz?“ Gut, der ist grauenhaft. Aber auch ein bisschen lustig. Für mich wenigstens. Selbst Ms. Columbo grinst meist höflich schief, wenn ich mal wieder ein Exemplar zum Besten gebe, was ungefähr täglich vorkommt. Manchmal lacht sie aber auch glöckchenhell auf, und dann weiß ich: Es war ein guter.

Die Kalaueritis wirkt sogar ansteckend. Wenn ich mich recht entsinne, ist der hier auf Ms. Columbos Dung gediehen: Wie nennt man vegetarische Rentner? Korn-Greise … Chapeau! Davon inspiriert kreierte ich – als intern Zuständiger für Schmuddeligkeiten – diesen Bruder im Geiste: Wenn alte Herrschaften Sex haben, nennt man das doch wohl … Greisverkehr. Harhar.

Der Fahrradverleih in Binz heißt übrigens „RADzfatz“. Finde ich zu bemüht, offen gestanden. Ich fühlte mich kalauertechnisch dank meines „Ich binz“ also sicher und überlegen auf der Insel. Doch kurz vor der Abreise musste ich mich düpieren lassen. Da parkte am Straßenrand ein Kleinwagen, der über und über mit Werbung vollgepflastert war, und mittendrin prunkte die Internetadresse www.ich-binz.info.

Jemand war also vor mir da gewesen. Es tröstete mich gar nicht – im Gegenteil –, als ich auf besagter Homepage auch noch diverse Volldeppenapostrophe entdeckte („Info's“, „FeWo’s“). Doch irgendwie passt das zum bisweilen abgrundtiefen „Nie-Wo“ (Arno Schmidt) dieses Beitrags. Gleichwohl möchte ich darum bitten, mir schweinische Elektropost zu ersparen. Also keine Iiiih-Mails, okay …?

(Foto: das schimpansenartige Gesicht des Fernrohrs auf der Binzer Seebrücke)
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Inseln
1. „Island in the sun“ von Harry Belafonte
2. „Tiny island“ von Leo Kottke
3. „Bermuda“ von Jonathan Richman



02 Juni 2006

Das Pimmelproblem

Das Töchterchen meines besten Freundes ist gerade mal zweieinhalb und erschließt sich just die Welt, vor allem verbal. „Hast du einen Pimmel?“, fragt mich die Kleine – und erwischt mich auf dem falschen Fuß. „Ja, hab ich“, verberge ich dennoch nicht ungeschickt meine Überraschung und gebe mich souverän und lebenserfahren: „Wie jeder Mann und jeder Junge.“

„Will sehen!“, kräht sie.

Natürlich wäre es wünschenswert, gegenüber den kleinen Rackern möglichst locker und schamarm mit Nacktheit umzugehen, damit erst gar keine Komplexe und so was entstehen. Nur müsste man dazu wahrscheinlich selber völlig komplexbefreit durchs Leben gehen. Und wer tut das schon?

Ich anscheinend nicht. Jedenfalls sehe ich mich gedrängt, ihr Ansinnen behutsam abtropfen zu lassen. Sie erträgt die Abfuhr fröhlich und wechselt die Strategie. „Ich habe eine Scheide, ich zeig sie dir!“ Irgendwie schaffe ich es, sie auch von diesem Ansinnen abzubringen, indem ich ihre Aufmerksamkeit erfolgreich auf die Strahlkraft des Hochbetts mit angeflanschter Rutschbahn lenke, doch mir wird mal wieder klar: Ich bin nicht geschaffen für Situationen wie diese. Als ich ihrem Papa davon erzähle, lacht der nur: Ach, mit diesen Pimmelforderungen und Scheidenofferten kommt sie zurzeit jedem.

Nicht nur deshalb, sondern u. a. auch wegen der seltsamen kleinkindlichen Hygienevorstellungen und ihrem nachhaltigem Pochen auf komplette elterliche Hingabe kommt mir das Leben ohne Kinder gar nicht mal so schlecht vor. Findet übrigens auch Ms. Columbo.

So, und jetzt ab an die Ostsee (Foto). In den nächsten Tagen teste ich mal das Mail- und Handybloggen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Kinder
1. „Memphis, Tennessee“ von Chuck Berry
2. „Cats in the cradle“ von Harry Chapin
3. „Your mother and I“ von Loudon Wainwright III

01 Juni 2006

30 Mai 2006

Am Polarkiez

Nur ein paar hundert Leute verlieren sich im Millerntorstadion, darunter Alexander, Alexander und ich. Dabei spielt die Türkische Republik Nordzypern beim Fifi Wild Cup gegen Grönland, hey!

Es ist so kalt, als hätten die Männer aus dem Eis eine Methode gefunden, ihr Standardwetter mit nach Hamburg zu schmuggeln. Unsere Hände nehmen die Form des außergewöhnlich steifen Bierplastikbechers an, denn an Fellhandschuhe hat keiner von uns gedacht. Wenn wir ausgetrunken haben, können wir unsere gebogenen Finger als Getränkehalter vermieten. Als Idee nicht schlecht, doch das Vermarktungspotenzial scheint angesichts des dünnbesuchten Turniers begrenzt. Nein, Wärme muss her. Wir müssen auftauen, irgendwie.

Da komischerweise nirgends ein Glühweinstand zu sehen ist, behelfen wir uns mit Currywürsten. Wenn man Gesicht und Hände ganz dicht über die dampfende Masse aus Fleisch und Soße hält, entsteht eine leichte Illusion von Wärme. Mit jedem Bissen allerdings schwindet dieser Effekt; ein Dilemma.

Zur Halbzeit führt Nordzypern mit 1:0. Die Stimmung auf den Rängen ist gedrückt. Keine Wende in der zweiten Hälfte. Wir trippeln auf der Gegengerade hin und her und schauen sinnierend unseren Atemwolken nach, während Grönland sich vergeblich abmüht, den auch auf dem Kiez vereinigungsunwilligen Nordzyprioten ein Remis aufzuschwatzen.

Ich halte Ausschau nach Opa Edi, kann seinen imposanten Grauschopf aber nirgends entdecken. Wir geben uns trotzig der nachgewiesenermaßen falschen Vorstellung hin, Alkohol wärme von innen, und holen uns die nächste Runde Bier. Jetzt spielt die Freie Republik St. Pauli gegen Gibraltar. Einige Hardcorepaulifans machen Stimmung. „Ein Tor, ein Tor, St. Pauli schießt ein Tor!“ fantasiert ein junger Bursche unbeeindruckt von Kälte und mangelnder Unterstützung, was allerdings die Männer vom Affenfelsen zur 1:0-Führung peitscht. Wir klatschen, und nicht nur aus Höflichkeit: Es wärmt.

Zur Halbzeit habe ich das Gefühl, mir werde es alsbald ergehen wie Ötzi, dem Gletschermann vom Hauslabjoch, sofern ich nicht recht bald in eine beheizte Berghütte flüchte. So verabschiede ich mich klappernd von sämtlichen Alexanders, zücke an der Budapester Straße noch kurz die Kamera für die pittoreske Tristesse einer gewissen Bühne 62 und finde muggelige Zuflucht im Grünen Jäger. Dort zieht gerade eine ebenso sympathische wie hochmittelmäßige Band aus Düsseldorf den Abend bis zur Hauptattraktion – Downpilot aus Seattle – in die Länge wie einst die Seiler auf der Reeperbahn ihre Schiffstaue.

Immerhin: Es ist warm. Und Downpilot spielen ihre langsamen Americana-Preziosen mit Ernst und Würde. Außerdem sieht der Sänger aus wie Jackson Browne.

St. Pauli hat übrigens wirklich noch den Ausgleich geschossen, wie ich aus dem Web erfahre. Psychologisch natürlich ganz schlecht für Gibraltar.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Kältebezug
1. „Shiloh Town“ von Tim Hardin
2. „Antarctica starts here“ von John Cale
3. „Frozen“ von Madonna

Aufruf

Lieber Unbekannter (falls du eine Frau bist, korrigiere mich bitte),

du hast am Wochenende in der Seilerstraße einen Fahrradsattel samt Stange „gefunden“. Gut, du hast den Drehhebel umlegen müssen, um die Stange aus dem Rohr zu ziehen. Doch das war völlig in Ordnung so; schließlich hätte dies auch ein Dieb tun können. Ich war ja leider zu faul gutgläubig und hatte es versäumt, den Sattel plus Stange abends mit in die Wohnung zu nehmen; nun hast du das vorsorglich für mich übernommen, und das ist fantastisch.

Allerdings irritiert mich die Dauer der Sicherungsverwahrung. Und auch der Ort ist mir bis jetzt noch nicht ganz klar geworden. Wenn ich wüsste, wer du bist und wo du wohnst, wäre mir auch wohler. Deshalb bleibt mir nur dieser Weg, dir meinen Dank auszudrücken, verbunden mit der Zusicherung: Ja, ich habe gelernt aus dieser Sache. Ich werde künftig immer selber den Drehhebel umlegen, den Sattel samt Stange aus dem Rohr ziehen und des nachts an einem sicheren Ort deponieren.

Du kannst mir das Teil also zurückgeben. Du weißt ja, wo das Fahrrad angeschlossen ist. Heute habe ich mal probiert, damit herumzufahren. Es ist doch recht unbequem.

Noch einmal ganz herzlichen Dank für deine fürsorgliche Zivilcourage. Sie hat möglicherweise ein Verbrechen verhindert. Über einen angemessenen Finderlohn lasse ich natürlich mit mir reden, keine Frage.

Dein Matt

29 Mai 2006

Zwei neue Kerben im Colt

(Foto via emmylou.net)

Im Sanitärbereich der Color Line Arena wedele ich immer hektischer vor den Fotozellen eines Wasserhahns herum, erfolglos. Als ich es bei einem anderen versuche, tritt ein Mann ans erste Waschbecken, streckt kurz und bestimmt die Hand aus und erzwingt mühelos einen prachtvollen Strahl, der mich auch als Rinnsal düpiert hätte. Hmpff.

Im Saal auf der Bühne steht derweil zusammen, was nicht zusammengehört: Mark Knopfler und Emmylou Harris, der schottische Gitarrenstilist also und die Countryikone aus Alabama. Harris sang 1972/73 auf beiden Alben von Gram Parsons, diesem frühvollendeten und -gestorbenen Genie des Countryrock, und sie schaffte 1976 auf Dylans „Desire“ das Unmögliche: mit His Bobness glorios zu duettieren. Ihre Methode war die einzig richtige: einfach drauflossingen mit der ganzen hohen kräftigen Reinheit ihres Jubilierens und gar nicht erst darüber nachdenken, was diese komische Kratzkehle neben ihr vokal so vorhat.

Und heute steht sie in Hamburg auf der Bühne. Oben ist an ihr alles Haar, eine gewaltige weißgraue Löwenmähne; hüftabwärts sieht man zwei Strohhalme in Röhrenjeans, die in Harris' Welt offenbar als Beine durchgehen. Nein, „Emmy“, wie der (nicht mir ihr) verheiratete Knopfler sie irritierend zärtlich nennt, hat kein Gramm Fett zugelegt, seit sie einst den Junkie Parsons beim Dahinsiechen begleiten musste.

Das vieltausendköpfige Publikum scheint allerdings vor allem wegen des Stadionrockers Knopfler da zu sein. Ich würde meine sämtlichen Emmylou-Harris-Alben auf ungefähr folgende berufsspezifische Aufteilung verwetten: Lehrer (48 %), Abteilungsleiter (16 %), Abteilungsleitersekretärinnen (27 %), alle in der verwelkten Blüte ihrer Jahre. Brav klatschen sie jeden Viervierteltakt mit, sie wiegen steif die Köpfe und schauen selig, und zweifellos sind das alles Emotionen mit einer gewissen Substanz, doch ich fremdle sehr auf meinem Platz Nr. 10 im Untergeschoss 16, Reihe 19.


Während der Zugaben stehen sie alle auf, die Lehrer, Abteilungsleiter und Abteilungsleitersekretärinnen, sie klatschen im Takt und wiegen selig die Köpfe. Ich verziehe mich leise, mit zwei weiteren Kerben im Colt. Und neben der größeren der beiden steht Emmy.

Bonustrack: „In my hour of darkness“ von Gram Parsons und Emmylou Harris, 1973

28 Mai 2006

Die Fundstücke des Tages (18)

1. Im Web stößt man immer wieder auf Menschen, die zu viel Zeit haben und somit gegen das erste der Neuen Zehn Gebote verstoßen. Zum Beispiel dieser Geselle hier, der unter dem Eintrag „100 Wege, eine Pizza zu bestellen“ genau das Gegenteil im Schilde führt, nämlich den Pizzaservice in den Wahnsinn zu treiben. Zum Beispiel mit Punkt 31: „Überrasche den Telefonisten mit wenig bekannten Fakten über Volksmusik.“ Aufgelistet werden wirklich 100 solcher Scherzchen.

2. In Polen haben sie zum Papstbesuch neben allerlei erotischer Spots auch Tamponwerbung aus dem Fernsehen verbannt. Konsequenterweise dürften menstruierende Polinnen dann auch bis zu Benedikts Rückflug keine Tampons mehr benutzen. Keine Ahnung, ob er das wirklich möchte - vor allem bei Groupies in der ersten Reihe.


3. Ok, Dylan-Hasser dürfen diesen Punkt überspringen, denn hier gibt es den Link zum vierten Teil seiner Radioshow; diesmal geht es um Baseball. Dylan redet übrigens noch öfter als sonst in Versen. Und hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3.


4. Neue Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:

„arbeitsmäßig bin ich callboy und in der wehrbebrange tätig“ (El Paso, Texas). Gut, den hier habe ich mir selbst zuzuschreiben. Dass Callboy Torsten aber jetzt auch die Menschen in Texas bewegt, ist schon erstaunlich. Sind das seine fünfzehn Minuten Ruhm? Genieß ihn, Torsten! Du hast schließlich hart dafür gearbeitet ...

„wie trennt man sich am besten von seiner freundin“ (Bittermark, Nordrhein-Westfalen). Wo das hinführt, ist klar - nämlich alsbald zu dieser Suchabfrage:

„meine dumme ex“ (Mainz, Rheinland-Pfalz). Weiter geht es mit ...

„rache aktion an meiner ex“ (Dreieich, Hessen). Ehe es möglicherweise auf das hier hinausläuft:

„bluterguss tränensack“ (via AOL).

26 Mai 2006

In weiter Ferne, so nah

Unglaublich: Der WM-Pokal ist in der Stadt! Genauer gesagt: in einem großen schwarzen Zelt auf dem Rathausmarkt, und als ich das erfuhr, schwang ich mich sofort aufs Rad, um mich mit dieser bedeutendsten aller Trophäen, die zuletzt Ronaldo triumphierend stemmen durfte, fotografieren zu lassen.

Ich weiß: Es gibt plausiblere Bedürfnisse. Aber auch profanere. Als ich ankam, sah ich mich allerdings einer rund 50 Meter langen Menschenschlange gegenüber, die alles mögliche ausstrahlte (z. B. grimmige Entschlossenheit), doch keinerlei Bereitschaft, Quereinsteigern wie mir mit Höflichkeit („Kommen Sie, ich lasse sie vor!“) oder Sanftmut zu begegnen.

Ich orientierte mich einsichtig ein paar Meter weiter, wo die Postbank eine Torwand aufgestellt hatte. Wer oben und unten je drei Bälle versenke, so das elektrisierende Versprechen, gewänne zwei WM-Tickets. An dieser Stelle darf ich mein Expertentum in dieser Disziplin nicht länger verschweigen. Bereits mehrfach ging ich nämlich aus solchen Wettbewerben siegreich hervor.

Vor einigen Jahren etwa gewann ich dank vierer Treffer beim Schauspielhaussommerfest ein Saisonabonnement, tauschte es aber wegen meiner mangelnden Theateraffinität ein gegen zwei schreiendgelbe Struwwelpeter-T-Shirts, die ich seither nie mehr getragen habe. Und bei einem Torwandschießen in meinem Heimatdorf, bei dem ich die Konkurrenz im Stechen niedergerungen hatte, überreichte man mir einst einen Pokal, auf den der Graveur – offenbar dank eines telefonischen Übermittlungsfehlers – die Inschrift „Sieger im Torwartschießen“ eingestanzt hatte. Diese Trophäe wuchs mir daher nie richtig ans Herz.

Wie auch immer: Für die Chance auf zwei WM-Tickets würde ich natürlich jederzeit versuchen, die alte Schusstechnik wieder aus der Versenkung der vegetativen Erinnerung hervorzuholen. Doch auch hier: eine verflixte Menschenschlange, deren fernes Ende sich irgendwo im Rathausmarkttrubel verlor. Die Aussicht auf stundenlanges Warten hatte auf meinen Eifer sofort einen lähmenden Einfluss, und ich trollte mich. Auf der Heimfahrt sonnte ich mich – think positive, verdammt noch mal! – ersatzweise im Bewusstsein, mich nur gefühlte fünf Meter entfernt vom WM-Pokal aufgehalten zu haben.

Neulich entdeckte ich übrigens beim geschätzten Bloggerkollegen ramses101 die oben abgebildete Veräppelung des WM-Emblems, und rückblickend scheint mir das nun doch besser zu diesem Tag zu passen als die Imagination einer gefühlten Nähe.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Frust
1. „Creep“ von Radiohead
2. „Summertime blues“ von Eddie Cochran
3. „Loser“ von Beck

Damen drücken

Ich nehme ja halb unbewusst an, schlechtes Deutsch sei immer auch ein Indiz für die überschaubare Qualität einer offerierten Dienstleistung. Nehmen wir „Rosi's Grillimbi's“: Rosi mischt doch mit Sicherheit Sägemehl unter die Pferdewurst. Auch das Angebot dieses Berliners, der zurzeit etwas im Gerede ist, kommt mir nur deshalb gleich weniger vielversprechend vor, weil er über sich selber schreibt: „Arbeitsmäßig bin ich Callboy und in der Wehrbebrange tätig.“

Ehrlich gesagt würde ich allein dank dieses Satzes all seinen Dienstleistungsarten mit Skepsis entgegenblicken. Vielleicht tue ich ihm auch unrecht, vielleicht war er es ja, der den Slogan „Das König der Biere“ erfunden hat. Das wäre dann ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus Legasthenie Kapital schlagen lässt.

Wo wir gerade bei Fehlleistungen sind: Neulich erhielt ich eine Mail mit einem hübschen Tippfehler, versteckt in dem Satz „Jetzt heißt es Damen drücken!“ Oftmals im Leben möchte man dem allzu gerne Folge leisten, seufzte ich als Hetero, und ich denke, auch die lesbischen Damen rundherum unterschrieben dies sehr gerne, so man sie nur dazu aufforderte.

Die Fülle der Fehler indes, die der Film „Der DaVinci Code – Sakrileg“ sich leistet, würde ein eigenes Blog erfordern. Ms. Columbo hatte es heute geschafft, meine Abwehrmauer aus Muffeligkeit und zitierbaren Verrissen zu durchbrechen und mich ins Cinemaxx am Dammtor zu entführen. Der Film ist unfassbar schlecht. Wer sich vom Versprechen, einen Thriller vorgesetzt zu bekommen, ins Kino locken lassen will, dem rufe ich hiermit zu: Tu's nicht, das ist gar kein Thriller! Es sei denn, Langeweile, Geschwätzigkeit, die Spritzigkeit einer bulgarischen Landschildkröte auf Arktisurlaub und Drehbuchlöcher von der Tiefe des Grand Canyons sind neuerdings Thrillerkriterien. Und Tom Hanks hat übrigens die Ausdruckskraft einer Wachsleiche.

All das jedoch will ich eigentlich gar nicht bemäkeln, sondern einen positiven Aspekt des Filmes hervorheben, obwohl dieser nur der Synchronisation anzurechnen ist. An einer Stelle nämlich vermeidet sie sorgsam einen grassierenden Deppenanglizismus: Es ist völlig korrekt die Rede von „DNS“ (Desoxyribonukleinsäure), während immer mehr Leute mit „DNA“ glauben glänzen zu müssen.


Dabei wüsste von diesen anglophilen Möchtegernschlaumeiern wahrscheinlich so gut wie keiner, was das ausgeschrieben überhaupt heißt, nämlich desoxyribonucleic acid. Gut, bei DNS habe ich zur Sicherheit auch bei Wikipedia nachschlagen müssen. Doch nähme man mir auch dieses Argument noch, was bliebe dann von „Der DaVinci Code – Sakrileg“ überhaupt übrig an abspeicherwürdigen Erinnerungen? Also.

Das beste an diesem Nachmittag war übrigens – neben der Gesellschaft von Ms. Columbo – der Anblick der Cinemaxx-Wandlampen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Malen
1. „Vincent“ von Don McLean
2. „When I paint my masterpiece“ von Bob Dylan
3. „30 coins of gold“ von David Olney

24 Mai 2006

Poodle-Bob

Heute Abend in der Tanzhalle spielte der kanadische Songwriter Jason Collett mit seiner Band auf, doch die Idee, Bob Dylan ein Ständchen zum 65. zu singen, kam dem guten Mann nicht. Ich zählte auf die Zugaben, doch Collett spielte störrisch Selbstkomponiertes.

Das war toll, keine Frage, aber ein kleines „Forever young“ oder so hätte mein Herz genauso erfreut wie sein zwischendurch erzählter Jugendschwank von einem Tanzabend, der an einem Joint scheiterte.

Dessen noch nicht ganz verglommener Stummel nämlich war Collett irgendwie in den Kragen seines Polyesterpullovers geraten, was ihn zunächst weder bekümmerte noch davon abhielt, mit einer gewissen Crystal Vanderbilt ins Highschoolfoyer zu marschieren. Darauf aber hatte der perfide Jointstummel nur gewartet – und setzte Colletts Pullover in Flammen. Polyester, das weiß er seither, brennt verdammt gut. „Crystal was screaming and laughing“, schilderte Collett den recht holprigen Verlauf der Rettungsaktion, aber ein Dylanstück spielte er nicht mehr heute Abend.

Dafür liefert der hochgeschätzte Herr Poodle ein ebensolches, was mir die beabsichtigte Eloge vollkommen erspart, die mir eh wieder viel zu lang geraten wäre und einen Teil der Leserschaft zum Augenrollen gezwungen hätte. Bis auf Herrn Boogie natürlich, der mich gar zu einer dylanologischen Abhandlung animieren wollte.

Nicht nur ihn hoffe ich daher mit dem dritten Teil von Dylans Radioshow zu besänftigen, diesmal zum Thema Trinken. Apropos Nahrungsaufnahme: In seiner Autobiografie schildert der Musikmanager Walter Yetnikoff, wie er 1986 mal zum Lunch mit Bob Dylan verabredet war und dieser nicht alleine, sondern mit seiner Mutter, mehreren Onkeln und Kusinen anrauschte.

Während des Mahls musste Yetnikoff dann mit großem Befremden erleben, wie sich der mysteriöse Dichter in Klein-Bobby Zimmerman verwandelte. Dylans Mutter nämlich schnitt Sohnemann das Essen klein, fand ihn zu dünn, drängte darauf, er möge tüchtiger zulangen und sich vor allem klarer artikulieren.

„Bobby", mahnte sie streng das Sprachrohr seiner Generation, „be nice!“
Ergo: Happy birthday, Bob!

*** Exklusiver Bonustrack: „Big River“, ein offiziell unveröffentlichtes Duett von Johnny Cash und Bob Dylan, aufgenommen im Februar 1969 in Nashville, Tennessee.

Auf heißen Sohlen

Heute gibt es auf Spiegel Online einen Rückblick auf die Geschichte jener Fußballschuhe, die bei Weltmeisterschaften getragen wurden – und ich verweise deswegen darauf, weil ich darin verwickelt bin.

Für meine Zeitschrift u_mag habe ich die Buffergalerie nämlich zusammengestellt. Titel: „Shoeting Stars“ …

Im Druck sehen die Schuhe einfach großartig aus, vor allem Helmut Rahns vergoldeter Linker von 1954. Dieser Treter, mit dem er den Ungarn das unschätzbare 3:2 reinnagelte, prangt majestätisch auf einer Doppelseite – beim heiligen Pelé, das ist wie eine Auravolldusche!

Der Werbeblock ist hier noch nicht zu Ende, denn im Spiegel-Online-Text ist
auch die komplette Galerie als Bilderstrecke integriert, versehen mit meinen Kurzkommentaren.

Ach ja, der Tippfehler im Rahn-Text („würde“ statt wurde): Ich war das nicht, das war SpOn! ;-)

10 Wörter, die ich schon immer mal lesen wollte (2)

Kraftgriffschraubendreher
Fesselriemchensandalen
Handtuftlangflorteppich
Flockenquetsche
Fremdkörperfalle
Dauerfusselroller
Pomponwuschel
Graupelschauer
Wuschellampe
Zuglufttiere


Teil 1

23 Mai 2006

Letzte Geheimnisse: Das Herrenklo (1)

Zeit für eine neue Serie in diesem Blog. Sie soll sich – vor allem visuell – mit dem beschäftigen, was der weiblichen Hälfte der Menschheit gemeinhin verborgen bleibt, sofern sie nicht mit der professionellen Reinigung desselben ihr allzu karges Brot verdienen muss: Herrentoiletten. Genauer gesagt: dem Innern der Kabinen.

Denn dort, wo der Mann noch Mann sein darf und muss, sieht es bisweilen heimelig aus und oft klinisch; und immer, wenn es wenigstens ein bisschen ästhetisch dort zugeht, zücke ich gewöhnlich meine selbst an diesem merkwürdigen Örtchen klaglos treue Digicam. Doch keine Angst: Blicke in die Abgründe des männlichen Seins werde ich mir und uns ersparen.

Heute erregte der Sanitärbereich der Bar Hamburg in der Nähe des Hauptbahnhofs meine Aufmerksamkeit. Die stoffbespannte, an eine Nachttischlampe erinnernde Wandleuchte, die hier warmherzig Spülkasten und Keramik anlächelt, überrascht doch an einem Ort, wo gemeinhin eher Abwaschbarkeit gefragt ist.

Dorthin verschlagen hatte es uns wegen eines Showcase' des schwedischen Künstlers Daniel Cirera, der daherkommt wie ein Folkie, aber ein Vokabular drauf hat wie ein Straßenköter aus Compton. Später, im Smalltalk, stellte sich heraus: Cirera hatte Deutsch in der Schule. Und er kann auch noch einen Satz aufsagen: „Ick bin ajne ajngebildede Ssiege“.

Guter Mann.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs ab 18 (Reihenfolge willkürlich)
1. „Sexy MF“ von Prince
2. „Motherfucker“ von Daniel Cirera
3. „Motherfuckin asshole“ von Martha Wainwright

22 Mai 2006

Alarm in Entenhausen

Die Entenmutter mit ihren zehn Küken gehört eindeutig nicht mitten auf die Clemens-Schultz-Straße. Das wird mir sogleich klar, als ich die Bäckerei mit den Sonntagsbrötchen verlasse und die Bescherung sehe. Wo kommen die überhaupt her? Weit und breit kein Teich noch Tümpel.

Ein Passantin mit zum Glück parierendem Hund schirmt die fehlgeleiteten Vögel nach hinten ab, wo bereits eine Kolonne Sonntagsfahrer Ungeduld ausdünstet, angeführt und in Schach gehalten indes von einer sichtbar gerührten Mittelklassewagenlenkerin. Die Enten müssen in den Park, nach Planten un Blomen, so viel ist klar. Das wird tüftelig, denn zwei selbst sonntags stark frequentierte vierspurige Straßen gilt es zu überwinden.

Angesichts dieser nur im Team zu bewältigenden Aufgabe findet sich spontan eine Schicksalsgemeinschaft, der auch ich anzugehören die Ehre habe. Sie besteht aus der Dame mit Hund, einem gemütlichen Schnauzbartträger mit Balkanakzent, der weiterhin hochentzückten Mittelklassewagenlenkerin, die inzwischen geparkt hat und mitsamt ihrer Freundin – Conny, zufällig aus Frankfurt zu Gast – der Entenrettung höchste Priorität einräumt. Eigentlich waren die beiden ja auf dem Weg in die Kunsthalle, wo es ein gutes Frühstück geben soll, doch wat mutt, dat mutt.

Es ist übrigens interessant, wie man als Hüter einer Entenfamilie plötzlich mit den Augen der Schutzbefohlenen in die Welt schaut. Plötzlich scheint aus jeder zweiten Passage ein yetigroßer Hund hervorzustürmen (was ist eigentlich aus dem Leinenzwang geworden, Herr Innensenator?!), und diese lautlos uns entgegenrollenden, ultraschmalen, aber immens hohen Dinger mit nichtsahnenden Menschen obendrauf (sog. „Fahrräder”) nerven ungemein.

Uns gelingt es dennoch irgendwie, die Enten auf den Bürgersteig zu drängen, was immerhin den Verkehrsfluss im Viertel wieder begünstigt. Doch der Gehweg ist eng, die Entenmutter, um die sich die Küken halbkreisförmig scharen, zeigt deutliche Anzeichen aufkeimender Panik. Manchmal versucht sie zur Seite auszubrechen, doch mal der Schnauzbart, mal ich, mal eine der Frauen wissen das jeweils sanft, doch bestimmt zu unterbinden.

Inzwischen haben sich uns auch ein ungefähr 12-jähriges Mädchen namens Lotte (Foto), eine etwa 40-jährige Radlerin und ein so weißhaariger wie solariumsgebräunter Ruheständler angeschlossen. Die illustre, die Gesamtbevölkerung in ihrer Alters- und Milieustruktur verblüffend genau abbildende Rettungstruppe nähert sich mitsamt ihren Schützlingen jetzt der ersten großen Hürde. Sie heißt Budapester Straße und brüllt vor Verkehr.

Der wird kurzerhand gestoppt. Rauf auf die Straße, Blickkontakt zu den Automobilisten und mit breiten Armen entschuldigende Stoppgesten wedeln – die Verblüffung der auf freie Fahrt eingestellten freien Bürger weicht nur in der ersten Reihe dem offenbar genetisch bedingten Entzücken beim Anblick der Vogelfamilie. Dahinter aber geht das Gehupe los. Wir ertragen es mit gandhiesker Gleichmut. Geschafft.

Übers Heiligengeistfeld geht es gut voran. Eins der Küken verschwindet zwar fast zwischen den obszön weit auseinanderliegenden Streben eines Gullydeckels, doch es rettet sich in letzter Sekunde. Puh. Jetzt aber die Glacischaussee; das nächste Problem mit vier Spuren. Wir bringen erneut den Verkehr mit den inzwischen bewährten Mitteln minutenlang zum völligen Erliegen, und die Entenarmada watschelt nervös durchs Spalier.

Nur noch wenige zehn Meter bis zum Parkeingang. Daisy Duck scheint allmählich das rettende Wasser zu riechen, oder ist es die nun doch überhandnehmende Panik? Jedenfalls setzt sie zum Watschelsprint an, der die vor Eifer und Schutzbedürfnis fast platzenden kleinen Wollknäuel in ihrem Gefolge unter höchsten Stress setzt.

Da, der Teich! Die Alte bricht durchs Ufergebüsch, ihre Küken stolpern, klettern, wackeln hinterher, und plötzlich sind alle im Wasser: eine adrenalinüberflutete Entenmama mit ihren zehn Winzlingen, denen nun auch über den heutigen Tag hinaus eine Zukunft beschert sein dürfte.

Für uns alle ein außergewöhnlich schönes Sonntagserlebnis. Wir tauschen Mailadressen, plaudern noch ein wenig, gehen ein Stück gemeinsam und verabschieden uns dann voneinander, fast wie Freunde.

Erst als ich in die Seilerstraße einbiege, dämmert mir: Wir hätten eigentlich die Feuerwehr rufen müssen; die kümmert sich ja professionell um so was. Und sie ist vor allem eins: versichert. Ein von uns verursachter Auffahrunfall beim mutwilligen Stauen einer Hauptverkehrsstraße hätte bei der Assekuranz sicherlich Stirnrunzeln hervorgerufen.

So aber fühlt er sich verdammt gut an, dieser Sonntag. Und zwar nur deshalb, weil wir die Sache selbst in die Hand genommen haben. Wie Jack Bauer in „24“.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Vögel (via Andreas)
1. „Surfin' bird“ von The Trashmen
2. „Blackbird“ von The Beatles
3. „Bird on the wire“ von Leonard Cohen