10 Juli 2010

Stilkritik am schlafenden Objekt



Gerade wer schwer betrunken auf dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn herumliegt, sollte das natürlich stil- und trendbewusst tun. Und kiezkompatibel.

So hat der abgebildete Suffkopp noch vorm Anvisieren des Deliriums auf ein modisches, mit dem Blau seiner Mütze grandios harmonisierendes Polohemd geachtet, wenngleich dessen Querstreifen den wohl nicht komplett durchdefinierten Torso unschön verdicklichen, optisch.

Beim Fußkleid beweist der Kiezalki von Welt heutzutage natürlich Markenbewusstsein, welches in Zeiten wie diesen unbedingt ebenso geschickt wie dezent auf die Fußballweltmeisterschaft anspielen muss – und es auch tut (Adidas!).

Auch bei der Wahl des Getränkes, mit dem sich der Herr bei knapp 40 Grad im Schatten gepflegt abschoss, spielten ganz offensichtlich ästhetische Kriterien eine erheblich größere Rolle als inhaltliche. So entschied er sich stilsicher zum Erwerb einer farblich sorgsam auf den schwarzrotgelben Zeitgeist abgestimmten Bierdose.

Gut, die seit dem akut tobenden Achtzigerrevival wieder total angesagte Ray-Ban-Sonnenbrille hätte der Rauschausschläfer sich vorm Wegnicken nicht unbedingt auf der Brust drapieren müssen, doch hey: Es ist wenigstens eine Ray-Ban-Brille! (Hätte ich zumindest gern.)

Alles in allem liefert der Mann also eine outfitmäßig ziemlich runde Performance ab, die lediglich durch die im Labberlook gehaltene und ausgerechnet
im Schritt unschön beulende Chinohose in Nuancen beeinträchtigt wird.

Kritik verdient allerdings seine sich über zwei Stufen erstreckende Schlafhaltung. Sie hat etwas Vorläufiges, Skizzenhaftes, das führt zu Abzügen in der B-Note.

Angesichts der Art und Weise, wie man sonst so auf dem Spielbudenplatz herumliegt, ist das aber letztlich auch noch ganz okay.


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09 Juli 2010

Häme statt Amaretti



Beim Stammitaliener im Mercado bestellen wir zum Nachtisch zwei Espressi (wahlweise auch „Espresso“ bzw. „Espressos“), die aber beide heute leider – und zwar ganz unüblich – ohne beigefügte Amaretti (resp. „Amaretto“, „Amarettos“) geliefert werden.

Auf die hatte ich mich aber besonders gefreut, ja zuvor sogar erwogen, Paolo zu bitten, mir unter der Hand und ohne Wissen des Chefs ein, zwei mehr zuzuschanzen, denn heute Mittag bin ich ein ganz besonders gieriger Süßschnabel.

Doch leider war Paolo gerade an der Nudeltheke unabkömmlich, und zu seinem gemütlich korpulenten Kollegen, der unsere Bestellung entgegennimmt, habe ich ob seiner in der Vergangenheit oftmals demonstrierten Wortkargheit einen weniger guten Draht. Also bitte ich ihn zur Begrenzung des Schadens nur um ordnungsgemäße Amarettinachlieferung – und hoffe inständig still, er möge mir den Wunsch von meinen sehnsüchtigen Augen ablesen.

Er liefert auch, ohne zu murren, doch wie befürchtet holt er dem Franken und mir nur jeweils ein Amaretto. Na ja, immerhin. Dann passiert das, was immer passiert: Noch während ich meine Vorfreude stillvergnügt feinjustiere, hat der Franke sein Amaretto bereits inhaliert – und zwar ähnlich schnell wie ein Chamäleon mit der Zunge eine Raupe von der Rinde pflückt.

„Du hättest mir deins ruhig auch noch überlassen können“, kritisiere ich den Franken verletzt und nicht ganz frei von Eigennutz, „denn ohne mich hättest du schließlich überhaupt keins bekommen.“

Der Franke ist für solche spitzfindigen Belehrungen allerdings komplett unerreichbar, das war schon immer so. „Hätte, hätte, hätte“, singsangt er fidel durch die Krümel seiner Amarettoreste – und ergänzt mit der Arroganz des Lateiners derart laut, dass sich ganz da hinten an der Nudeltheke sogar Paolo irritiert umdreht:


„Du redest im Irrealis!“

An manchen Tagen mag ich Leute mit humanistischer Bildung einfach nicht.

Foto unter Creative-Common-Lizenz von Tinette.

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07 Juli 2010

Fundstücke (87): Wow, Frucht mit Frucht!

Wie lange ist es eigentlich her, dass man das Selbstverständliche noch nicht extra erwähnen musste – vielleicht fünf Jahre? Sieben? Zehn?

Sachdienliche Hinweise sind willkommen, gerade von den Älteren unter uns.

Entdeckt in Eppendorf.

05 Juli 2010

Vielleicht Voodoo?



Sauen und Ferkel gehen bei Aldi zurzeit gar nicht gut. Und ihnen geht’s auch nicht gut: der Preisverfall immens, die Haltung in schlecht belüfteten Plastikwaben keinesfalls artgerecht. Immerhin sind die Paarhufer dort (vorläufig) noch besser dran als das arme Stofftier, welches ich unlängst leblos auf der Budapester Straße vorfand.



Mit schwarzem Klebeband von allen Sinneseindrücken abgeschnitten, mit ebendiesem auch noch stramm gewindelt und schließlich brutalstmöglich auf einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße entsorgt: Wer tut so was? Und warum – nur weil den Petzi keiner im Urlaub versorgen wollte? Oder war es Voodoo?

Der Kiez wird mir durch solche Funde keinen Deut weniger unheimlich, ehrlich gesagt. Und das passiert oft. Überall liegt jemand oder etwas herum, das dort nicht hingehört. Und jeder lässt ihn, sie oder es liegen.

Ich im vorliegenden Fall übrigens auch, nicht nur aus hygienischen Gründen: Ich wollte einfach nicht wissen, was mich hinter dem schwarzen Klebeband erwartete.


Und seither nagt die Neugier an mir wie ein Nacktmull im Ramadan.

04 Juli 2010

Ohne Worte (79)



Titelfoto der Berliner Morgenpost von heute


Getting high on Low



So grobschlächtig und -gestrickt die englische Boulevardpresse auch ist: Mich als Kalauerfan (Was hat man nach schlaflosen Sabbelnächten im Web? Einen Chatlag …) erfreut sie doch immer wieder.

Die Sun, so was wie die englische BILD-Zeitung, glänzte heute nach dem grandiosen deutschen Kantersieg gegen Argentinien mit der wieder mal clever erfundenen und – wie es sich gehört – unübersetzbaren Doppelbedeutung „Not even Klose“.

Die Argentinier waren also nicht mal nah dran am Sieg, und zwar wegen Miro – gut gelöst, Sun.

Ein bisschen schade ist es natürlich, dass sie keine Umlaute können, die Briten. „Jogi Low“ klingt dadurch despektierlicher, als es wahrscheinlich gemeint ist. Wortspiele mit „Low“ sind der Sun aber bisher noch nicht eingefallen; dazu müsste das deutsche Team wohl erst mal verlieren. Andererseits wäre ein die hiesigen Fangefühle trefflich beschreibendes „Getting high on Low“ schon jetzt überaus angebracht.

Es gibt übrigens auch sehr alberne Kalauer. Wie z. B. konnte man ca. 1970 Platten mit Hippiemusik guten Gewissens beschreiben? Ganz klar: als Fixvorlagen …
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03 Juli 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (31)



Immer mal wieder gibt es auf dem Kiez tragischtraurige Wechselwirkungen, wenn die gezackten Ränder zweier sich völlig fremder Welten aneinander vorbeischrammen.

Dabei entstehen schrille Dissonanzen, die allerdings manchmal fast den Rang einer Botschaft gewinnen. Wie hier an der Reeperbahn Ecke Talstraße.

02 Juli 2010

Es lebe die Lager-Mentalität!



Wir befinden uns im Jahr 2010 n. Chr. Das ganze Hamburger Fanfestgelände (Foto) ist von den Dänen besetzt. Das ganze Fanfest? Nein, ein von einem unbeugsamen Mann betriebener Stand hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten …

Und jetzt noch mal von vorn: Das Fanfest ist komplett durchmonopolisiert, was punktuell von besonderer Tragik ist. Ich spreche vom Bier. Ausgeschenkt wird nämlich nur Carlsberg.

Die dänische Brauerei wirbt seit Jahrzehnten mit dem unfreiwillig selbstentlarvenden Slogan „Probably the best beer in the world“. Denn wie wir alle wissen, gestattet das Wörtchen „probably“ einen ziemlich großen Interpretationsspielraum. Wenn man den Slogan zum Beispiel experimentell um einigen Ballast erleichtert und auf „probably beer“ zurechtkürzt, käme man der Wahrheit schon sehr nahe.

Jedenfalls gibt es fanfestweit nur Carlsberg, selbst an Verkaufsständen, die von oben bis unten mit Astra-Logos beklebt sind (ja, ich weiß: Astra gehört zu Carlsberg. Und trotzdem.). Selbst der todtraurige Englandpavillon darf weder Lager noch Ale ausschenken, sondern nur mit schmerzlichem Lächeln Cider. Oder eben Carlsberg.

So geht es jedem Stand. Jedem? Nein: Der Franke, dieser durchtriebene Fuchs, hat mit einem untrüglichen Gespür, welches sich nur dank einer Sozialisation mit Gerstensaftschwerpunkt erwerben ließ, den einzigen Stand auf dem ganzen Heiligengeistfeld aufgetan, der klammheimlich ein anderes Bier ausschenkt.

Ich verrate hier auf gar keinen Fall, welcher das ist, ja, ich verschweige sogar, ob es sich um einen großen oder kleinen Länderpavillon handelt; schließlich muss dieser Claim geschützt werden vor den Nachstellungen der Fifaflitzpiepen und Carlsbergkapos. Seine genauen Koordinaten dürfen nicht in falsche Hände geraten. Herrschaftswissen, Herrschaftszeiten!

Jedenfalls vertickt der Inhaber dieses subversiven Standes unter der Hand ein sehr süffiges Lagerbier, welches natürlich nicht auf seiner Karte steht. Der Franke muss in seiner grobschlächtigen Art, der bisweilen wirklich so etwas wie Leutseligkeit zu entströmen vermag, derart vertrauenserweckend gewirkt haben, dass der Standinhaber ihm in einem Anfall von Zutraulichkeit sein gefährliches Geheimnis verriet – und den Franken qua Ausschank gleichsam vom Mitwisser zum Mittäter machte.

Für sein Lager nimmt der Mann sogar einen Euro weniger als Carlsberg für seine „probably“-Plörre. Klar, die Dänen müssen ihre abgedrückten Lizenzmillionen, mit denen sie sich das Fanfestmonopol erkauft haben, wieder reinholen. Aber mitmachen muss man das trotzdem nicht, wenn man andere Quellen hat. Und die haben wir, verdammt …

Mutmaßungen, welcher tapfere Länderpavillon hier in Hamburg konspirativ wider den Weltkonzern löckt, sind natürlich willkommen – und werden möglicherweise gar mit diskreten Hinweisen belohnt.

Wenn ich übrigens ab heute Nacht spurlos verschwunden sein werde, dann sucht mich in einem dänischen Gulag. Aber sucht mich!

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01 Juli 2010

Esprit nur in der Fantasie

Im Bauch-/Rückenkurs, unter der Knute von Drillinstructor Chris.

Muskelberg (keuchend): „Ah, bitte nicht das Fenster aufmachen! Ich bin verschwitzt, dann habe ich morgen einen steifen Nacken.“
Matt: „Ach, Sie schwitzen …?“

Tja, leider ist dieser kleine Dialog nur semidokumentarisch. In Wahrheit war der Muskelberg eine feingliedrige Blondine, in Wahrheit sagte ich keuchend „Klar doch“ und schloss espritlos das Fenster, in Wahrheit schwitzte ich genauso wie sie.

Das Leben ist eben kein Wunschkonzert. Erst recht nicht an fußballfreien Tagen.


PS: Für das Foto gibt es einen verblüffend logischen Grund: Es entstand in der U-Bahnstation Rödingsmarkt – also in unmittelbarer Nähe des Fitnessclubs. So fügt sich eins zum andern, und zwar auf beglückend harmonische Weise.

30 Juni 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (30): Fanfest, Heiligengeistfeld



Wenn ich das grottigste Spiel der WM wählen sollte, fiele mein Urteil sofort auf die gestrige Achtelfinalpartie Parguay–Japan, die ich nur mit kaltem Wasser und ausgiebiger FAZ-Lektüre (und zwar der Ausgabe von gestern!) überstehen konnte.

Mir gegenüber saß ein Paraguayer in vollem Ornat, den ob der dargebotenen Leistungen bleierne Müdigkeit übermannte, obwohl das Poldibild über ihm ständig adrenalinhaltige Wellen durch den Deutschlandpavillon sandte.

Später trafen vier Kumpels des Schläfers ein und weckten ihn. Sie waren durchweg genauso gekleidet, also jeweils mit puffroten Hosen und weißen Stiefeln. Nur dank der Gruppendynamik schliefen sie nicht gemeinsam ein, doch da hatte ich mein Bild schon längst im Kasten. Verzeih mir also, Paraguayo – aber dafür seid ihr wenigstens weiter.

Viel Spaß dann gegen Spanien.


28 Juni 2010

Glory Days



Rauschhafte WM-Tage; sie erinnern an Bruce Springsteens „Glory Days“.

In zwei Wochen schon werden sie wieder vorbei sein, und ich werde mich wieder fragen, wie und wohin sie so schnell verschwinden konnten, diese gloriosen Tage des Fieberns, Freuens und Bangens – und des Essens exotischer Sachen im Fanpark auf dem Heiligengeistfeld, wo jedes Teilnehmerland seinen Ess- und Trinkpavillon hat.

Heute etwa aß ich in Südafrika (Foto) erstmals im Leben Impala und Gnu – und muss sagen: So richtig verstehen kann ich die Löwen in der Kalahari nicht. Andererseits essen die das roh und nicht als Steak, vielleicht kommt das besser.

Es ist übrigens ein verdammt cooles Gefühl, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen. Wobei: In Wahrheit stehen ja ganz andere dort, und zwar die Bakterien.

Doch daran darf man keinen Gedanken verschwenden – vor allem nicht an gloriosen Tagen wie diesen.

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27 Juni 2010

Der Achtelfinaltag



Es lag nicht nur an der grauenerregenden Kombination Halbmarathon und Harley Days, dass wir heute morgen den chaotischen Kiez gen Blankenese verließen; es war auch eine Art Übersprungshandlung, um die Spannung vor dem Achtelfinale gegen England irgendwie in den Griff zu kriegen.

Zum Spiel tuckerten wir dann nachmittags per Fähre (Foto) wieder zurück bis zum Fischmarkt – anders als der hypernervöse Franke, der frühmorgens in die Einsamkeit des Alten Landes geflohen war, um sich dort den lieben langen Tag fahrig lesend an einen Teich zu legen.

Ich wusste ja, dass dieser Typ schräg ist, aber sooo schräg …?

Nach einem gloriosen 4:1 ist der Besuch des Fanfestes auf dem Heiligengeistfeld besonders erhebend und unbedingt zu empfehlen – vor allem wegen des önologisch gut sortierten Italienstandes.

Der Weinhändler dort vertritt die paradoxe, aber äußerst charmante These, man müsse unbedingt noch vor dem Leberschaden alle Weingenüsse der Welt erlebt haben; denn wenn man ihn einmal hätte, den Leberschaden, dann dürfe man ja nicht mehr ran an die feinen Tropfen.

Ich habe selten etwas Überzeugenderes gehört in meinem ganzen Leben.

26 Juni 2010

Zwischen Hölle und Meyer



Der Teufel hat die Hölle umbenannt.

„Hinfort“, sprach der Blödmann, „sollst du, Hölle, auf einen neuen Namen hören, und er sei Harley Days.“ Leider bekam die Direktive keiner mit, wegen des Lärms.

Ich habe übrigens unwiderlegbare Beweise dafür, dass viele Harleyfahrer dieses Blog lesen – und abgrundtief hassen. Sonst würden sie wohl kaum ausgerechnet unter unserem Balkon, den sie unablässig unterqueren, jeweils im Leerlauf den Motor aufheulen lassen.

Das klingt wie Tarzan mit Stirnhöhlenkatarrh, was die breitärschigen, wehrmachtshelmbedeckten Bart- und Kuttenclowns aber (natürlich) nicht zu kümmern scheint.

Viel besser hingegen klingt Felix Meyer, ein Straßensänger, der so gut ist, dass er jetzt einen Plattenvertrag bekommen hat, und womit? Mit Warner.

Und Recht.


PS: Am Montagabend um 21.30 Uhr spielt er im Grünen Jäger auf St. Pauli. Und bestimmt ist er nach dem Fußballspiel auch noch dort. Wie ich.


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24 Juni 2010

Fundstücke (86 revisited): Züchtige Flora



Gerade erst forderte ich von manchen Bäumen das Tragen von Hosen. Daraufhin wies heute Blogleser P. Krok nach, dass diese Forderung keineswegs abwegig ist, sondern sich manche Vertreter dieser Pflanzenfamilie längst einer züchtigeren Bekleidung befleißigen.

Es geht doch!

Allerdings bin ich mir sehr sicher: Die hier abgebildeten Hosen-Träger sind nicht auf St. Pauli zu Hause. Zu prüde.

Fundstücke (86): Frivole Flora



Kieztypische Freizügigkeit hin oder her:
Manche Bäume sollten Hosen tragen, echt.

Entdeckt am Elbpark.

23 Juni 2010

Besuch in der Herbertstraße



Heute betrat ich die sagenumwobene Herbertstraße, allerdings nur zum Besuch einer Bar- und Ausstellungseröffnung und sonst gar nichts.

Die Adresse lautete Herbertstraße 7. „Hoffentlich verwechsle ich nicht den Eingang“, hatte ich zum Abschied noch scherzhaft zu Ms. Columbo gesagt – und verwechselte dann auch prompt den Eingang nicht.

Allerdings wäre selbst das gar nicht so schlimm gewesen, denn die illustre Hurenschar, die hier normalerweise in den Fenstern sitzt und thematisch abgestufte Dienste offeriert – von Schmusekätzchen über Wuchtbrumme bis Peitschenfrau –, hatte sich vorsichtshalber in ihre Gemächer zurückgezogen angesichts der zu erwartenden Journalist(inn)en und des einen Bloggers (= moi).

Mit O-Saft und Prosecco
begossen wurde nämlich die Eröffnung der Kontaktbar Domenicas Lounge, wo diverse Fotos der legendären Sexdienstleisterin an den Wänden hängen und die Flasche Dom Perignon (warum eigentlich IMMER Dom Perignon?) 750 Euro kostet.

Sofern dem kontaktgeneigten Gast das zu hoch erscheint, kann er auch ausweichen auf Wodka für 150 den Liter oder einen Cappuccino für sagenhaft schmale 2 Euro. Alles darf, nichts muss.

Ich nutzte die einmalig kostengünstige Gelegenheit, um einen benachbarten und wie gesagt verwaisten Hurenpräsentationsraum aufzusuchen (Foto oben), weil man so was sonst immer nur von außen sieht und ethnologisch-kiezkulturelle Aspekte unbedingt für eine nähere Inaugenscheinnahme sprachen.

Erstes Fazit: Alles ist immer rot. Übrigens auch die Wände von Domenicas Lounge und sogar der Schirm im … hüstel … Ständer.

Unter den Gästen waren diverse altgediente Kiezianer, und dementsprechend verliefen auch die Dialoge. Einer erzählte von seinem Vater, der im Krieg in Frankreich stationiert war und den Nazigrößen Prostituierte zuführen musste.

„Mein Vater“, erzählte er, „konnte nämlich Französisch.“ Rückfrage des etwa gleichalten Günter Zint: „Auch die Sprache?“

Nur wenige Meter entfernt von der neuen Bar saß übrigens Domenica einst im Fenster und buhlte um devote Kunden. Der verwaiste Stuhl, der heute dort zu sehen war, verströmte eine gewisse Melancholie und schien zu flüstern: Alles ist endlich, auch die Liebe und die Lust.

Obwohl die Liebe sicherlich nur sehr selten vorbeischaute in der Herbertstraße 7. Wenn überhaupt.

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22 Juni 2010

Fundstücke (85)



Ein babyblauer Uraltkäfer mit aufgeschnallten Skiern im Frühsommer mitten auf dem Kiez – wtf?


21 Juni 2010

Ein Werk von schieferer Bedeutung



Auf dieses beeindruckende Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum stieß ich am Wochenende in Altona.

Das raffiniert vernetzte Strich- und Linienmuster mit dem markanten Winkel von 91 (sic!) Grad oben rechts (sic!!!) soll offensichtlich die inzwischen überholte Idee des Räumlichen mit deutlich empörtem Duktus aufs zweidimensional Flächige herunterbrechen und klassische Künstlerpositionen als zerschredderten Kommunikationsprozess in den (gerade abgeschafften!) „Raum“ stellen.

Affektive und transformierende Motivation der die Funktionalität von Le Corbusiers Tapetencolorierungen noch einmal insistierend untermauernden Arbeit ist zweifellos eine neue Ethik des Mit- und vor allem Gegeneinanders, in deren atemberaubend wagemutigem Rostrot eine latent lauernde Gewaltsymbolik „aufgehoben“ ist, deren radikal kapitalismuskritische Sprengkraft erst bei Kunstlicht frappant zutage tritt.

Vielleicht interpretiere ich aber auch einfach zu viel hinein in diese Fahrspuren von Palettenwägelchen im Mercado zu Ottensen.

20 Juni 2010

Freiheit für Herrn Hugs!



Am Hamburger Berg, der kneipengespickten Hauptsaufzone all jener Kiezbesucher, die an käuflichen Damen weniger Interesse haben als an einem gut gezapften Astra, sitzen drei Tauben auf dem Gehweg und picken behaglich in einer großen Lache Erbrochenem.

Diese Tiere sind sich einfach für nichts zu schade, und ich bin heilfroh, dass sie unseren Balkon dank des aufgespannten Netzes nun praktisch nicht mehr besuchen können mit ihren kleinen stinkenden kotzegesprenkelten Schnäbeln.

Die Begegnung mit dem ekelresistenten Taubentrio hatte ich auf dem Weg zum Flohmarkt in der Wohlwillstraße, wo an einem der Stände eine patente Blondine kostenlose Umarmungen anbot – ein Service, der anscheinend nicht der Knaller des Tages war, denn einem Bekannten, den sie gerade herzte, als ich vorüberging, sagte sie: „Du bist erst der zweite!“

Dabei war die Frau keineswegs das Musterbeispiel einer knollengesichtigen Vettel, der man intuitiv die Schuld an der taubenverzaubernden Lache am Hamburger Berg in die Schuhe geschoben hätte. Vielleicht wusste einfach die Mehrzahl der Passanten nicht, was unter „free hugs“ zu verstehen sein sollte.

Angesichts der politisch stets hochmotivierten Kiezbewohnerschaft hätte sich dahinter ja auch die Aufforderung an irgendeinen US-Gouverneur verstecken können, einen gewissen Herrn Hugs endlich aus dem Gefängnis zu entlassen, vergleichbar mit dem Fall Mumia Abu-Jamal. Befreit Herbert Hugs! Er sitzt schon viel zu lange in der Todeszelle!

Temporärer Themenwechsel: „Fick dich in den Arsch, du Hurensohn!“, soll der Fußballspieler Nicolas Anelka nach Angaben französischer Medien sinngemäß zu seinem Trainer gesagt haben, und obwohl diese Aufforderung selbst für einen Nationalcoach physisch nur sehr schwer umzusetzen ist, also ganz offensichtlich scherzhaft gemeint war, musste der Spieler sofort nach Hause fahren.

Anelka hätte dem Trainer statt des missverständlichen Imperativs besser einen „free hug“ anbieten sollen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

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19 Juni 2010

Fundstücke (84)



Diese haushohe Werbefläche, die uns seit einigen Wochen anschreit, wenn wir den Balkon betreten, passt heute plötzlich noch besser als gestern.

Hinter Michael: der Michel,
schemenhaft, stoisch und ganz und gar kickabhold.