19 Januar 2012

Befremdlich vertraut

Auf dem untersten Absatz im Treppenhaus, ein paar Meter hinter der Eingangstür, sitzt ein Mann. Er ist hohlwangig, seine Augen liegen tief versteckt im hageren Schädel, sein Bart ist so stoppelig wie seine Zahnreihen lückenhaft.

In der linken Hand hat der Mann eine Fernsehzeitung und in der rechten eine Packung Jacobs Krönung. Er riecht daran und macht „Ahhh!“.

Ein befremdliches Gebaren, doch auch wenn das jetzt paradox klingt: Gerade das Befremdliche ist einem hier auf St. Pauli besonders vertraut.

Wie auch immer: Erst als ich diesen an einer Kaffeepackung schnuppernden Liederling unter Entbietung eines kurz geknurrten Standard-„Moin“ passiert und unser Haus verlassen habe, dämmert mir das Wichtigste.

Er wohnt hier gar nicht. Aber er sitzt in unserem Hausflur. Und riecht an einer Packung Jacobs Krönung und macht „Ahhh!“.

Das erfordert Maßnahmen, doch zuerst wollen die Frühstücksbrötchen beschafft werden. Unterwegs überlege ich, mit welchen wohlgesetzten, gleichwohl unmissverständlichen und mit der nötigen Grundschärfe im Ton versehenen Worten ich ihn bei meiner Rückkehr hinausexpedieren werde.

Einige Minuten später steht die Ansprache wie eine Eins – doch als ich zurückkomme, sehe ich den Mann Richtung Millerntorplatz davonschlurfen.

Wie er in unser Haus gekommen ist, welche Bedeutung die Kombi TV-Zeitschrift und Kaffeepackung hat bei einem Kantonisten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit weder über ein Fernsehgerät noch über eine Kaffeemaschine verfügt:

Wir werden es nie erfahren.

10 Kommentare:

  1. Wer weiß, was in der Packung war?
    Vielleicht eine Dröhnung anstatt der Krönung.

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  2. Hm, das würde einiges erklären.

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  3. Mich hätte ja Ihre Ansprache interessiert? Hätten Sie ihm angeboten, seinen Kaffee in Ihrer Kaffeemaschine zu kochen?

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  4. @inchtomania
    Sicher hatte Herr Matt ein Brötchen mehr in seiner 'Fresstüte', weil Kaffee auf leeren Magen ist ungesund!
    Frau-Irgendwas-ist-immer

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  5. Sie sollten beide einmal das Wort „expedieren“ nachschlagen, meine Damen und Herren!

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  6. @Herr Matt
    Expedieren ist ja in Ordnug (und Ordnung muss sein Morgens halb zehn in Deutschland), aber nur mit Brötchen!
    Sie sind doch einer von den Guten! *bin mir so sicher*
    Frau-Irgendwas-ist-immer

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  7. Ich rieche auch gerne an Kaffeepulver, das riecht einfach gut, nach Frühstück.
    Ich kann mir gut vorstellen, dass der junge Mann einfach den Geruch von Familienfrühstück und heile Welt in Ihrem (zweifellos sehr heimeligen) Hausflur aufsaugen wollte, bevor er in die (harte, wenig heimelige) Realität Hamburgs entschwindet, sein Tagwerk zu verrichten. Die Motivation des Vagabunden und die Ihre könnten mithin an diesem Morgen in die gleiche Richtung gezielt haben.
    Oder der Kerl war einfach ein bisschen plemplem.
    Bringen Sie ihm beim nächsten mal doch einfach ein Brötchen mit.

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  8. Auf ein nächstes Mal hoffe ich ehrlich gesagt nicht.

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  9. Herr Matt -

    ja, Sie sind ein echter Humanist - hail the goer. Oder so.
    Unabhängig davon, ob er er weiß, daß er für Sie ein solcher ist oder nicht.
    Aber er hatte Jacobs Krönungscafè dabei.

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  10. Herr Matt, seien sie froh, daß besagter Schnüffler nicht an Ihnen gerochen hat :)

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