21 März 2012

Manchmal lieber ehrlich



„Hat es geschmeckt?“, fragt die wasserstoffblondierte Kellnerin im Alten Senator.

Das Restaurant in der historischen Peterstraße wirkt von außen wie die Verkörperung bürgerlicher Fachwerkgemütlichkeit, sieht innen aber eher aus wie der Frühstücksraum eines Garni-Hotels in Sulzdorf an der Lederhecke.

Immer wenn es mir nicht sonderlich geschmeckt hat und ich im Restaurant diese Frage gestellt bekomme, gibt es jene Sekunde, in der die Entscheidung fallen muss zwischen Ehrlich- und Höflichkeit. Prägt eine gewisse Saumseligkeit den Abend, die ein wenig Zeit lässt für die unweigerlich folgende Diskussion, neige ich zur Ehrlichkeit. Heute allerdings auch, obwohl die Liveübertragung des DFB-Pokalspiels schon seit ungefähr einer Viertelstunde läuft.

„Nun, begeistert bin ich nicht“, antworte ich der Kellnerin also wahrheitsgemäß. „Oh, warum?“, fragt sie. „Das Fleisch war zu trocken, die Panade zu pappig, und unter den Bratkartoffeln waren zu viele verbrannte Stücke.“ Sie schaut auf den Teller. „Aber Sie haben alles gegessen“, stellt sie korrekt fest und scheint damit einen Wirkungstreffer zu landen. „Der Hunger“, gebe ich mich allerdings ungewohnt schlagfertig, „trieb’s rein.“ Sie sichert eine Rückmeldung an den Koch zu und geht.

Später serviert sie den Nachtisch (köstliche Rote Grütze), und wir ordern schließlich die Rechnung. Doch sie kehrt stattdessen mit Besteck und einem Teller zurück. Darauf: ein weiteres Wiener Schnitzel. „Probieren Sie mal, ob Ihnen das auch zu trocken ist.“

Eine überraschende Wendung der Geschichte, welche zudem nach bereits verzehrten vier Gängen – darunter eine bis an die Breigrenze sämige Kartoffelsuppe von protzender Kalorienhaftigkeit, ganz zu schweigen vom großzügigst mit Käsestreifen couvrierten Rindercarpaccio – den unbedingten Willen zur Grenzüberschreitung erfordert.

Doch es gibt natürlich kein Entkommen. Der Alte Senator gibt schließlich alles, um den Nimbus seines Wiener Schnitzels zu erhalten; da muss ich also jetzt durch.

Ich probiere einen Bissen. Das Schnitzel ist identisch mit dem ersten: Die pappige Panade hält das weiterhin trockene Kalbfleisch in einem korsettartigen Klammergriff. „Was müsste denn besser sein?“, fragt die Kellnerin, nachdem ich mein Missfallen bekräftigt habe.

Nun, das Fleisch müsste saftiger sein und die Panade sich bergend drumherum wölben, sie müsste gleichsam Blasen schlagen, um den Schnitzel Luft zum Atmen zu lassen, und … „Ich weiß, was Sie meinen“, unterbricht sie mich seufzend, „ich war gerade in Wien.“

Und das rechtfertigt dann doch noch die üblichen zehn Prozent Trinkgeld.

PS: Dieser gane Blogeintrag ist übrigens vor allem ein hochverklausulierter Warnhinweis an den Wiener-Schnitzel-Afiçionado German „Kalbsoberschale“ Psycho.


PPS: Die Waschbecken im Alten Senator sind übrigens ganz superb.




19 März 2012

Ein Kreis schließt sich



Irgendwann Anfang des Jahrtausends
war ich im alten Knust an der Brandstwiete beim Konzert von Mark Olson und Victoria Williams.

Olson hatte irgendwann vorher den Song „Miss Williams’ guitar“ geschrieben, um Victoria anzubaggern, und das hatte prächtig funktioniert: Sie war inzwischen mit ihm liiert, er hatte sogar die Jayhawks wegen ihr verlassen, sie war also sozusagen die Yoko Ono des Alt.country.

Im Song hieß es: „Miss William's guitar/I remember watching her play/And the whole damn crowd/Seemed so far away“, und wenn so was nicht mehr als Anbauern funktioniert, dann weiß ich auch nicht. Jedenfalls hatte es voll hingehauen, Olson war bei Williams gelandet, aber so was von – und jetzt war er sogar mit ihr auf Tour.

Ich stand in der ersten Reihe im alten Knust, einen guten Meter entfernt von den Turteltäubchen, und wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen großartigen, schnurgeraden Countryliebesrocker jetzt und hier live zu hören, von den Betroffenen höchstselbst. Und das rief ich ihnen zwischen zwei Songs auch vernehmlich zu.

Ich rief also: „Miss Williams’ guitar“!


Der Effekt war allerdings ein unerwarteter. Mark Olson schaute, als hätte ich ihm einem Waterboarding mit Zitronensaft unterzogen, und Miss Williams tat so, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Beide wechselten einen schnellen Blick, in dem ein Funken Panik aufzuleuchten schien, und dann spielten sie schnell einen anderen Song.

So machten sie den ganzen Abend weiter, sie kramten praktisch alles aus der Kiste, nur ausgerechnet nicht „Miss Williams’ Guitar“.

Ich schämte mich aus nicht näher benennbaren Gründen fürchterlich, doch jetzt die erste Reihe zu verlassen, hätte das Eingeständnis meiner Scham bedeutet und damit irgendwie eine Art Niederlage, weshalb ich mich zwang, dort stehenzubleiben und allen anderen gespielten Songs abbittemäßig Beifall zu zollen. Danach verdrückte ich mich rasch, ohne Zugaben zu fordern.

Wenige Wochen später hörte ich, dass Olson sich von Williams getrennt habe, und ich fühlte mich schlecht. Dabei war sicherlich nicht ich der Grund für das Scheitern dieser auch und gerade künstlerisch vielversprechenden Beziehung, doch der Abend im Knust schien etwas Derartiges nahezulegen.

Heute Abend, zwölf Jahre später, spielte Mark Olson mit den Jayhawks im Grünspan, es war das erste Mal, dass ich mich seit dem schamgeprägten Auftritt im Knust wieder in einem Raum mit ihm befand, und nichts hätte mir ferner gelegen, als „Miss Williams’ guitar“ auf der Setlist zu erwarten.

Das Ergebnis sehen und hören Sie im Video oben. Bestimmt hat Olson den Song nur deshalb ins Programm gehievt, weil er dachte, dieser Typ von damals sei nicht schon wieder im Publikum.

Was macht eigentlich Victoria Williams? Ewig nichts mehr gehört von ihr.


16 März 2012

Fundstücke (156)



Nach den einst in Wolfsburg entdeckten Nudeln Togo und dem überall grassierenden Kaffee zum Gehen (vulgo: zum Weglaufen) wird hier das Prinzip endlich mal konsequent – nämlich kiezadäquat – zu Ende gedacht.

Entdeckt in der Kneipe Makrele in der Talstraße.


15 März 2012

Wie das achte Weltwunder


Hacke, was war das denn?

Da besucht man zuwenigahnend eine Feier von XL Recordings (dem Label von Adele! ADELE!!!) in einer Kneipe in der schwulsten aller Kiezecken, der Talstraße, und plötzlich betritt eine Art achtes Weltwunder die „Bühne“.

Darf ich vorstellen: Willis Earl Beal.

Der Mann hat die Coolness von Prince, die Energie von James Brown, er trägt Miles Davis’ Brille und eine Hose obenrum so eng wie bei Jürgen Drews anno 73. Und später zupfte er mit seinem Cocktailpikser, der im Clip oben noch in seinem Glas Whiskey-Cola steckt, die E-Gitarre.

Beal lebt in Chicago übrigens noch bei seiner Oma. Aber hier, in der schwulsten aller Kiezecken, wäre er der Star in jedem Darkroom. Vor allem mit dieser Hose.

PS: Der Song ging übrigens noch drei Minuten weiter. Ich habe zu früh auf stop gedrückt.


13 März 2012

Die wahren boys in brown



Bechertheoretisch (Boll, Bier) war alles von vorneherein auf Linie. Doch das dann folgende 92-minütige Ringen mit dem Karlsruher SC erwies sich als zäh wie eine Wurzelbehandlung bei Dr. Christian Szell. Erstaunlich, wie zermürbt und unzufrieden man sich nach einem Sieg fühlen kann.

Für die meiste Unterhaltung sorgten denn auch die Karlsruher Fans. Nach frühem Pyrozauber und verbalen und gestischen Scharmützeln mit der Polizei skandierten die aufrechten Badenser nämlich irgendwann einen Slogan, den ich hier im Millerntorstadion auch noch nicht gehört habe.

Sie brüllten „Pauli verrecke!“ – und bewiesen damit außerordentlich genaue Geschichtskenntnisse. Ja, sie waren heute die wahren boys in brown.

626 Kilometer weit anreisen, Goebbels alle Ehre machen, das Spiel verlieren und nach all diesem Frust wieder 626 Kilometer weit heim ins Reich: Fast könnte man Mitleid haben mit diesen armen Menschen.

Nun zu einem ganz anderen Thema, nämlich der aktualisierten Datenbasis für die weltweit einzigartige kiezianische Bechertheorie, welche heute wieder deutlich gestärkt aus der fußballgewordenen Wurzelbehandlung hervorging:

13.3.2012 KSC/Boll/Bier/√
26.2.2012 Braunschweig/Boll/Wasser/–
13.2.2012 Bochum/Naki/Bier/√
20.12.2011 Frankfurt/Morena/Wasser/√
6.11.2011 Fürth/–/Bier/–
18.10.2011 Düsseldorf/–/Bier/–
23.9.2011 Aue/–/–/–
12.9.2011 1860München/Naki/Bier/√
24.8.2011 Duisburg/Boll/Bier/√
6.8.2011 Aachen/Ebbers/Bier/√

12 März 2012

Ein Tag auf der Internorga



„Du weißt schon, dass uns heute Abend speiübel sein wird, oder?“, sagte ich zwischen englisch-indischen Pakoras und einer Kugel Black-Mamba-Eis aus Schwarzvanille zu Ms. Columbo. „Bis dahin“, antwortete sie und nahm eine Probe Schupfnudeln mit Sauerkraut ins Visier, „ist es noch lange hin.“

Eine solche Szene kann sich praktisch nur auf der Gastronomiemesse Internorga abspielen, wo wir heute einen halben Tag lang mit dem Verzehr von Happen, Pröbchen und Schlückchen beschäftigt waren. Hier stößt man auf alles, was uns Konsumenten demnächst konvenieren soll. Also Sachen wie gezapfte Automatensuppe, Würstchen aus dem Toaster (das Ding hat Röhren statt Schlitze!), Kuchen am Stiel sowie Tofu, das so verzweifelt wie vergeblich ein Schnitzel zu simulieren versucht.

Es gibt kalten Latte Macchiato in Einwegdosen und – o Wunder! – sogar Tomaten, die mal nicht schmecken wie schnittfestes Wasser. Sie heißen „Honigtomaten“ und kommen aus Holland. Warum sie außen allerdings nach überhaupt nichts riechen, weiß wahrscheinlich nur Jean-Baptiste Grenouille. Oder der Genetiker, der diese neueste Paradiesapfelvariante zusammengemixt hat.

Neben der bisweilen kuriosen kulinarischen Auswahl begeisterten mich übrigens besonders die Kalauer. Überall auf der Messe versuchten Anbieter, ihren Produkten mit Sprachspielereien den besonderen Kick zu verleihen. „Cup & Cino“ ist ja schon lange von der Kette gelassen worden, aber ein Teigmaschinenhersteller, der in seinem Slogan „Dough-how“ unterbringt, hat augenblicklich meinen Respekt.

Auch die Wohltäter von „ChariTea“ beweisen kalauertechnisch höchste Treffsicherheit. Nicht aber die voll auf Nüsse setzenden Leute von „Well Nuss“; das kann man einfach nicht richtig aussprechen – je nach voreingestelltem phonetischen Sprachmodus scheitert man entweder am W oder am u.

Die Firma „Tussi on Tour“ hingegen kalauert überhaupt nicht, sondern alliteriert nur. Sie gibt sich aber viel zu pink, um nicht zur Illustration des heutigen Blogeintrags missbraucht zu werden. Was sie eigentlich herstellt, weiß ich allerdings auch nicht. Tussis?


11 März 2012

Fundstücke (155): Die hartnäckige Kortaffel



Wenn man „knadschgabutt“ (O-Ton meine Mutter) und vollzerflossen aus dem Bodyfitkurs von Chris, dem Schlächter, gekrochen kommt und an einem Plakat vorbei muss, auf dem steht „SWEAT IS WEAKNESS“, dann fühlt man sich sofort noch knatschkaputter und zudem unfein veräppelt.

Doch zum Glück gibt es
im öffentlichen Raum auch Kommunikationsversuche, die eher lustig sind als düpierend. Zum Beispiel die oben abgebildete Schaufensterwerbung in einer Schanzenboutique. Wer also demnächst vorhat, sich den ein oder anderen Menschen mit geschlechtsunabhängigen 50 Prozent Ermäßigung anzuschaffen, sollte dort einmal vorbeischauen.



Die Kumpir-Kette hingegen beharrt seit Jahren hochoffiziell per Leuchtreklame darauf, eine „Patoto“ statt „Potato“ zu backen, und zwar stadtteilübergreifend, denn ich habe das gleiche Schild schon vor Jahren im Grindelviertel entdeckt.

Mein Rat daher an die Kumpir-Kette: Verwendet doch einfach das hübsche Wort „Kartoffel“, dann dürften solche Blamagen bald Geschichte sein. Andererseits gibt es natürlich auch die Möglichkeit „Kortaffel“ …

Ach, macht doch, was ihr wollt.


09 März 2012

Der Franke als Dackelschreck



Wir alle wissen seit vielen leidvollen Jahren, wie viel Angst und Schrecken der Franke unter ganz normalen Menschen zu verbreiten in der Lage ist – einfach nur dadurch, dass er seinen ethnisch bedingten Urinstinkten folgt.

Seit kurzem weiß das auch unser Verlagshund Frankie.

„Der Dackel“, schreibt Wikipedia, „zeichnet sich durch niedrige, kurzläufige, langgestreckte, aber kompakte Gestalt aus. Er ist sehr muskulös, mit aufrechter Haltung des Kopfes und aufmerksamem Gesichtsausdruck.“

Zweifellos alles ehrenvolle Eigenschaften, doch sie nützten unserem Dackel nichts, als der Franke es opportun fand, das gänzlich ahnungslose und bis dahin artbedingt zutrauliche Tier an beiden Vorderpfoten zu packen und ruckartig auf den Rücken zu schleudern.

Der Dackel quittierte das mit einem entsetzten (und entsetzlichen) Quieken, berappelte sich panisch und schoss davon wie Christian Wulff beim Anblick der Steuerfahndung.

Der Franke, von Tierfreunden in der Redaktion (also allen) schroff zur Rede gestellt, rechtfertigte sein Vorgehen damit, dieses bei einem Cockerspaniel bereits einmal erfolgreich praktiziert zu haben. Der habe zwar ebenfalls gequiekt, allerdings vor Vergnügen, und der Dackel solle sich bitte nicht so anstellen.

Es heißt ja immer, Hunde verfügten lediglich über ein Kurzzeitgedächtnis und hätten schon nach zehn Minuten wieder vergessen, dass man sie eben noch fürs Pieseln auf den Teppichboden ausgeschimpft hat (was bei Frankie auch stimmt), doch immer, wenn der Hund seither den Franken auch nur aus der Ferne sieht, wetzt er irren Blicks unter Schreibtische, hinter Heizungen oder bei Frauchen untern Rock.

Das wäre alles ja eher amüsant als schlimm; immerhin ist jede Strategie generell eine gute, welche die Gesellschaft des Franken auf ein Minimum reduziert. Doch leider nahm dieser volltraumatisierte Dackel tagelang jemand in Sippenhaft: mich.

Anscheinend identifizierte er mich als irgendwie frankenähnlich (in der Tat liegen unsere Geburtstage nur gut zwei Wochen auseinander) und entschied sich sicherheitshalber, Männern dieser Altersgruppe generell mit gesunder Panik zu begegnen.

Wenn Frankie mich also erblickte, wich er ebenfalls auf geradezu verletzende Weise vor meiner streichelwilligen Hand zurück, obgleich ich ihn noch niemals an den Vorderpfoten gepackt und ruckartig auf den Rücken geschleudert hatte. Erst ganz allmählich und dank meines übermenschlichen Einfühlungsvermögens gewann ich das Vertrauen dieses grundsympathischen Vertreters der Gattung Canis lupus familiaris zurück.

Der Franke hingegen ist aus Frankies Sicht weiterhin eine Persona non grata, und dafür bewundere ich ihn insgeheim schon ein wenig. Also den Dackel.

Wikipedia schreibt übrigens auch, dass in Brasilien Dackelfelle zum Bespannen von Reibetrommeln verwendet werden, aber im Grunde tut das an dieser Stelle überhaupt nichts zur Sache. Und Frankie sollte das besser auch nie erfahren.


08 März 2012

Lauter Muschis

Als Doktor K.s kleine Tochter Annika (8) neulich die erste Googleabfrage ihres Lebens abschickte, war sie eigentlich nur auf der Suche nach Katzenbildchen.

Deshalb hatte sie mit ihren kleinen Patschehändchen auch etwas ganz Folgerichtiges ins Suchfeld eingegeben und dann auf Enter gedrückt.


Nämlich „Muschi gucken“.

Momentan lässt man sie nicht mehr alleine an den Computer.

PS: Das Foto ist von 2003, aus Gründen.

06 März 2012

Wechselwirkungen



Hier sehen wir einen Künstler (Felix Meyer), wie er das Publikum (u. a. mich) fotografiert, während das Publikum (u. a. ich) den Künstler (Felix Meyer) fotografiert.

Kurz zuvor hatte der Künstler (Felix Meyer) das Publikum (u. a. mich) aufgefordert, den nächsten Song (s. u.) mitzufilmen und auf YouTube hochzuladen, damit er (der Künstler) daraus einen Videoclip für uns (das Publikum) schnitzen kann.

Ja, Mann, das ist das 21. Jahrhundert – und verdammt, ich liebe es!







04 März 2012

Zwei Vorschläge zur Güte

St. Pauli verzeichnet rund 28.000 Einwohner und jährlich mehr als 16.000 Straftaten, überwiegend Körperverletzungen. Es ist also fast schon ein Wunder, wenn man hier im Lauf von zwölf Monaten keinen aufs Maul kriegt.

Die meisten dieser Delikte begehen allerdings nicht wir St. Paulianer selbst, sondern Besucher unseres Viertels. Schon aus Fairnessgründen bitte ich daher hiermit alle Anreisenden, sich der beabsichtigten Straftat bereits vor ihrer Abfahrt zu entledigen. Das würde statistisch zu einer geografisch weit besseren Deliktverteilung führen, und an uns bliebe weniger hängen.

Selbiges schwebt mir übrigens auch hinsichtlich des an Wochenenden zunehmenden Bechermülls vor. Immer ab Samstagfrüh buhlt er an den St. Paulianer Straßenrändern (Foto: Hamburger Berg) signifikant öfter um Aufmerksamkeit als unter der Woche.

Um dies zu verhindern, bin ich wärmstens dafür, dass alle Besucher bereits vorm Herkommen eine ausreichende Getränkemenge inkorporieren und während der Nacht auf St. Pauli dann in aller Stille davon zehren. Das käme sie auch deutlich billiger.

Dies sind übrigens Vorschläge zur Güte. Natürlich wäre auch die Pumpgun eine Option. Bei jährlich 16.000 Straftätern darf ja wohl auch mal ein Kiezbewohner darunter sein.


03 März 2012

Fundstücke (154)



Das goldene Kalb tanzt nicht.

Entdeckt an der Argentinienbrücke auf dem Weg nach Wilhelmsburg.

02 März 2012

Über den Wolken



Es ist eine objektiv feststehende Tatsache vom Range eines Axioms, dass Damien Jurado mit „Cloudy Shoes“ den bisher besten Song des laufenden Jahrzehntes geschrieben hat, und ich würde mich auf Bon Ivers Küchentisch stellen und diese Behauptung wiederholen.

Doch der gute Damien spielte und spielte dieses Stück einfach nicht bei seinem Konzert heute Abend im Schanzenviertel. Stattdessen trug er weiße Socken, und zwar ohne Schuhe. Erst vor den Zugaben unterwarf er sich den bewährten Regeln öffentlichen Verhaltens und bedeckte sich.

Und deshalb wird, wie Sie oben sehen können, seine akustische Solofassung von „Cloudy Shoes“, welche er erst auf unser nachhaltiges Insistieren anstimmte, zum Glück nicht von ästhetischen Tabubrüchen kontaminiert.

Wer sich die episch-psychedelische Originalversion von „Cloudy Shoes“ anhören möchte: bitte sehr.




29 Februar 2012

Das entfesselte Fass



Wenn man nichtsahnend auf der Reeperbahn unterwegs ist und sieht plötzlich aus dem Augenwinkel ein kapitales Whiskeyfass über die Straße gen Westen rollen, dann guckt man erst mal rumpeldumm.

Doch es ist wahr: Da rollt tatsächlich ein Holzfass mit der quirligen Vehemenz eines Braunbären über die Reeperbahn, halb auf dem Parkstreifen, halb auf der Straße – und zwar derart schlingerig und raumgreifend, dass der Verkehr auf der rechten Spur beeinträchtigt wird bis zum Vollstau.

Dieses entfesselte Fass scheint aus dem Nichts zu kommen und ein ungebundenes Eigenleben zu führen, denn nirgends ist der Grund für sein fehlgeleitetes Unterwegssein zu erkennen. Es ist einfach da, das Fass, und holpert heftig über die berühmteste Straße Deutschlands. Es bringt Autos zum Bremsen und Passanten zum Glotzen.

Ich muss fester in die Pedale treten, um das Fass zu überholen; schließlich gelingt es mir, den zum Glück leeren Behälter auf Höhe der Haspa zu stoppen, also genau gegenüber der Davidwache, die so was bestimmt auch noch nicht gesehen hat, obwohl sie schon sehr, sehr viel gesehen hat, aber hallo.

Nun thront der Trumm jedenfalls aufrecht, stolz und sicherlich auch ein wenig atemlos auf dem schwach belegten Parkstreifen der Reeperbahn. Dies tut er weithin sichtbar – also hoffentlich auch für den rechtmäßigen Eigentümer.

Auf dem Heimweg komme ich am Herzblut vorbei, und siehe da: Dort stehen zwei Fässer der exakt gleichen Machart vor der Tür herum und bejammern die Absenz ihres entwichenen Bruders.

Das Herzblut hat noch zu, doch drinnen dominieren bereits die Reinigungskräfte. Ich klopfe ans Fenster und gestikuliere einen dringenden Kommunikationsbedarf. Man mustert mich blöde. Da könnte ja jeder kommen, und genau das passiert wahrscheinlich auch tagtäglich.

Ich klopfe noch einmal, winke energisch einen Mann zur Tür. Er öffnet, und ich erkläre ihm sinngemäß, dass ein ausgebüxtes Herzblutfass vor der Haspa steht, nach Mama ruft und dort gern abgeholt werden möchte. Der Mann sagt kein Wort, sondern nickt nur irgendwie abwiegelnd, während er sich unwirsch auf seinen Schrubber stützt.

Doch egal, meine Pflicht ist getan, das normative Tick-, Trick- und Track’sche Gebot „Jeden Tag eine gute Tat“ gilt damit für mich als vollerfüllt. Wer Fässer rettet, selbstlos für urbanen Verkehrsfluss sorgt und dann auch noch durch Bescheidsagen die vollumfängliche Bereinigung der Situation in die Wege leitet, hat gebotstechnisch für heute wahrscheinlich sogar überdosiert.

Mal schauen, wie ich das bis Sonnenuntergang wieder ausgleichen kann, im Bösen.

27 Februar 2012

Wie der Teufel das Weihwasser



Tja, nun stehen wir urplötzlich da ohne jenen Heimsieg, der dem FC St. Pauli die Tabellenführung gebracht hätte – und das trotz Namensbecher, der mich doch so euphorisiert meinen Platz auf der Haupttribüne hatte einnehmen lassen.

Gleichwohl endete die Partie gegen Eintracht Braunschweig zu meinem Entsetzen 0:0. Kein Zweifel: Bei diesem Ergebnis handelt es sich um die profundeste Attacke auf die Bechertheorie seit ihrer erstmaligen Ausformulierung im August 2011.

Was also war heute anders? Welche Prämisse wurde nicht erfüllt? Wie und wo muss die Theorie nun nachgebessert, verfeinert, justiert werden, um weiterhin mit den Naturgesetzen zu harmonieren?

Alle Voraussetzungen schienen jedenfalls auch heute erfüllt gewesen zu sein:
– Ich war a) persönlich anwesend (anders als am 23. 9., als wir Haue von Aue bekamen),
– erwischte b) einen Namensbecher (anders als am 18. 10. bei der Pleite gegen Düsseldorf und am 6. 11. beim Remis gegen Fürth)
– und war c) vorm Anpfiff ordnungsgemäß meiner Dokumentaristenpflicht nachgekommen (siehe Foto).

Und trotzdem kein Heimsieg. Aber warum? Seit dem Abpfiff zermartere ich mir das Gehirn – mit der vorläufigen These, dass der Knackpunkt Folgendes zu sein scheint:
die fatale Kombination Boll/Wasser.

Bereits zum drittenmal (24. August, Duisburg; 28. November, Dresden) hatte mich der Getränkestand mit einem Bollbecher beglückt, doch erstmals – das muss ich zugeben – riskierte ich seine Befüllung mit Mineralwasser. Schließlich gab es heute kein richtiges Bier, sondern nur alkoholfreies, und das kann man weder einem Bollbecher noch mir als Konsumenten zumuten.

Das Risiko schien ja auch kalkulierbar. Schließlich hatte sich der Bierverzicht auch damals beim Morenabecher (20. Dezember, Eintracht Frankfurt) als folgenlos erwiesen. Ein Bollbild aber, das weiß ich seit heute und passe die Bechertheorie somit geschmeidig der Realität an, darf anscheinend keinesfalls in Kontakt mit Wasser kommen, sonst ist Torlosigkeit die bittere Folge.

Beim nächsten Mal Boll aufm Becher werde ich also ggflls. dieses rizinusartige Gesöff namens „alkoholfreies Bier“ todesmutig hinunterstürzen – aber vorm Spiel natürlich trotzdem inständig auf Morena hoffen.

Da es ein Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens ist, die Datengrundlage zu publizieren, auf dass sie jedermann überprüfen und selber auswerten kann, folgt unten nun rückwärtschronologisch die bisherige Statistik (rot = kein Heimsieg, aber aus Gründen).


Diese Tabelle
bildet die Basis der Bechertheorie. Sollte jemand abweichende Rückschlüsse daraus ziehen, die zu einer Widerlegung der Boll/Wasser-Abweichung führten: Ich wäre aber so was von gottfroh.

26.02.2012 Braunschweig/Boll/Wasser/–
13.02.2012 Bochum/Naki/Bier/√

20.12.2011 Frankfurt/Morena/Wasser/√
06.11.2011 Fürth/–/Bier/–
18.10.2011 Düsseldorf/–/Bier/–
23.09.2011 Aue/–/–/–
12.09.2011 1860München/Naki/Bier/√
24.08.2011 Duisburg/Boll/Bier/√

06.08.2011 Aachen/Ebbers/Bier/√

26 Februar 2012

Pilates auf Piña Colada



Es gibt Fragen, die man sich nur in Hamburg stellen kann. Zum Beispiel: Wohin gehen wir heute Abend – ins Uebel & Gefährlich oder ins Freundlich + Kompetent?

Vorgestern entschieden wir uns für ersteres, um den australischen Überflieger Gotye – die exakte Schnittmenge aus Sting, Phil Collins und Peter Gabriel – seinen Riesenhit „Someone that I used to know“ singen zu hören.

Immer wenn ich im Uebel & Gefährlich bin, frage ich mich übrigens, warum Betreiber Tino Hanekamp (den mein Rechtschreibprogramm hartnäckigst zu „Dino Hansdampf“ verballhornen möchte) das „Uebel“ mit Ue, das „gefährlich“ aber mit Umlaut schreibt. Und wahrscheinlich hat er es genau aus diesem Grund getan, dieser Fuchs.

Gestern Abend ging es aber weder ins U&G noch ins F+K, sondern ins Haus III&70, wo die hier in diesem Blog sehr beliebte Berliner Songwriterin Julia A. Noack spielte – und das trotz der überaus schlechten Erfahrung beim letzten Auftritt ebenda.


Julia ist weltweit die einzige Songwriterin, die ungestraft „Pilates“ auf „Piña Coladas“ reimen darf, ohne von uns mit Schuhen beworfen zu werden. Im eingebundenen Video aber singt sie überhaupt nicht, sondern loopt höchst mantraesk das Ende ihres Songs „Leave the door ajar“ vor sich hin.

Als ich ihr nach dem Konzert androhte, diese Passage auf YouTube hochzuladen, guckte sie panisch und sagte: „Aber nur, wenn es gut ist.“ Versprochen.

Wie ist es eigentlich im Freundlich + Kompetent?
Ich war noch nie da.


22 Februar 2012

Mit allen Mitteln gegen Kramer



Kramer ist der schlagfertigste Mensch, den ich kenne. Seine Schlagfertigkeiten sind sogar derart originell, dass mir keine einzige davon in Erinnerung geblieben ist. Somit kann ich meine Behauptung nicht mal beweisen. Sie müssen mir also einfach glauben.

Jedenfalls gibt es angesichts seiner überragenden Schlagfertigkeit nichts Schöneres, als ihm die Sprache zu verschlagen. Da mir das innerhalb der vergangenen sieben Tagen gleich zweimal gelungen ist, rechtfertigt das einen eigenen Blogeintrag.

Das erste Mal geschah im Zuge eines kleinen Streiches. Heimlich hatte ich auf seinem Rechner als Bildschirmhintergrund die abgebildete FBI-Warnung installiert und danach das Tastaturkabel gelockert, damit sein spontanes Erschrecken beim Anblick des Bildes durch die zusätzliche vermeintliche Stilllegung seines Computers in einen veritablen Schweißausbruch münden würde.

Natürlich musste er irgendwann dahinterkommen, das war klar, und natürlich würde er dann empört beim Hauptverdächtigen vorstellig werden, nämlich bei mir. Für diesen Fall hatte ich eine vorwärtsverteidigende Abstreitstrategie ersonnen, die ihn überrumpeln und sprachlos machen sollte.

Wie vermutet klingelte er alsbald durch und bezichtigte mich unverhohlen der Tat. Ich konterte unverzüglich mit dem Satz: „Haben sie dir etwa heute schon ins Gehirn geschissen? Ich dachte, damit fangen sie immer erst Mitte der Woche an!“

Völlige Stille am anderen Ende der Leitung. Keine Reaktion, sekundenlang. Dann ein zaghaftes „Wer spricht da überhaupt?“ – was nichts weiter war als das bedingungslose Eingeständnis einer Niederlage auf ganzer Linie.

Dieses Kramer’sche Eloquenzdesaster markierte den ersten großen Erfolg.
Und heute gelang mir der zweite.

Während einer Nichtraucherpause ging es aus irgendwelchen Gründen um das Verhältnis zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger in Marburg anno dunnemals; der Franke und ich pingpongten uns in Kramers Anwesenheit die Eckdaten dieser Beziehung zu, als ich mich einer plötzlichen Eingebung folgend unvermittelt an ihn wandte.

„Weißt du eigentlich“, sagte ich zu Kramer, „dass das Krughafte des Kruges im Geschenk des Gusses west?“ Es ist das einzige Heidegger-Zitat, das ich auch im Schlaf herbeten kann, und der Erfolg war durchschlagend.

Kramer, der schlagfertigste Typ seit Oscar Wilde, stierte mich an, als habe ich ihm erzählt, der Papst plane nach seiner Vatikanzeit eine Karriere als Drogenbaron in Tijuana. Sekundenlange Verwirrung im Kramerhirn. Danach vermochte er sich zu sammeln und irgendwas komplett Unschlagfertiges zu sagen, was ich aber wieder vergessen habe.

Ein Doppeltriumph binnen sieben Tagen. Eigentlich sollte ich jetzt zurücktreten und mich in der Unvergänglichkeit dieses Ruhmes sonnen. Und vielleicht tu ich das auch.


20 Februar 2012

Fundstücke (153)

Noch während ich dieses Schild in der Sternstraße im Schanzenviertel fotografierte, glaubte ich an einen unfreiwilligen Missgriff der Kioskinhaber. Vielleicht hatten sie ja „Alkoholika“ gemeint.

Doch die daneben ausgestellten Fotos des sogenannten „geschulten Personals“ belehrten mich eines Besseren. Darauf zu sehen waren nämlich ausschließlich mittel- bis vollderangierte Männer, die der Gruppenbezeichnung des Schildes außergewöhnlich treffsicher entsprachen.


Nein: Das hier war keine Real-, sondern gewollte Satire. Eine, welche die tagtägliche Kioskwirklichkeit wahrscheinlich ebenso gut widerspiegelte, wie sie dem anvisierten Zielpublikum Heimeligkeit suggerierte. Sie war somit Fazit und Ausblick zugleich.

Und da sage noch einer, die Schanze sei nur was für Hipster.


19 Februar 2012

Die denkbar größte Keule



„Ich finde, wer freiwillig Höfl-Riesch heißt“, sagte ich heute während der Sportnachrichten sinnierend zu Ms. Columbo, „dürfte bei einem Skirennen gar keine Starterlaubnis bekommen, und zwar aus sprachästhetischen Gründen.“

„Und was“, zückte sie als Antwort die praktisch denkbar größte Keule, „wäre mit Eva Sibylle Haule-Frimpong?“ Na, die auch nicht.

Es gäbe gewiss auch gegen einige Details der abgebildeten Scrabblepartie massive sprachästhetische Einwände, doch alle werden sie dadurch weggewischt, dass sie remis endete.

Ich meine: Scrabblepartien enden nie remis. Allenfalls genauso oft, wie Eva Sibylle Haule-Frimpong ein Skirennen gewinnt.