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21 August 2010
Auf Kreuzfahrt (6): Auf zu Sadam!
Uns plagt der Shiplag. Auf der Fahrt nach Russland mussten wir die Uhr binnen eines Tages zweimal um eine Stunde vorstellen.
Mit Folgen: Das Wecken zum Landgang in St. Petersburg lag nach Hamburger Zeit um 4:15 Uhr. Ergo torkelte ich – trotz einer beherzten Koffeinüberdosis zum Frühstück – durch die Eremitage wie ein volltrunkener Bonobo. Inzwischen sind wir bereits wieder beim Zurückstellen der Uhren. Ein erheblich angenehmerer Job; trotzdem gerät alles immer mehr durcheinander.
Auf der ganzen Reise kam ich bisher übrigens nur ein einziges Mal in Kontakt mit der Ostsee – als ich am Hafenufer von Tallinn auf einem glitschigen Algenfilm (Foto oben) ausglitt und mit dem rechten Schuh ins Wasser musste, um einen Sturz abzufangen und die Kamera zu retten. Will sagen: Wir sind in Estland.
Gestern holten die USA ihre letzten Kampftruppen aus dem Irak, heute mussten wir zu Sadam – so heißt nämlich Hafen auf Estisch. Und Estisch ist keineswegs ein Küchenmöbel mit Tippfehler, sondern die hiesige Sprache, eine Verwandte des Finnungarischen und deshalb hochgradig seltsam.
Die Esten waren in den vergangenen fast tausend Jahren nur lächerliche 40 nicht besetzt, die beiden Dekaden seit 1990 machen also die Hälfte der estischen Freiheit aus. Entsprechend gut sind sie drauf, sogar die Uniformträger.
Heute wollten wir in einer Tallinner Mall aufs Klo, welches sich als kostenpflichtig entpuppte, doch wir hatten keine hiesigen Münzen parat. Zwei Sicherheitsleute bekamen das mit, einer zückte seine Chipkarte, öffnete damit die Schranke und sagte: „Today it’s free for you.“
Zum ersten Mal im Leben haben wir also einen original Klobesuch spendiert bekommen: welch ein Tag. „Have a happy hour!“, riefen uns die Wachmänner fröhlich hinterher. Hatten wir; auch wenn sie nur fünf Minuten dauerte.
Tallinn verfügt übrigens über eine grandiose gotische Altstadt, die komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Überall Kopfsteinpflaster, windschiefe Steinhäuser, Zwiebelturmkirchen und bunte Paläste, manche davon 800 Jahre alt. Die Gebäude säumen und formen krumme Gässchen, in denen zauberhafte Estinnen in Landestracht Stadtpläne oder glasierte Mandeln verticken – und sich manchmal einfach unbesorgt von der Augustsonne die Lider wärmen lassen, als käme bis in alle Ewigkeit keiner mehr, um dieses kleine Land wieder zu unterjochen.
An einem Tag wie diesem möchte man fast dran glauben, Historie hin oder her.
20 August 2010
Auf Kreuzfahrt (5): In „St. Petersburg“
Ankunft in Leningrad, welches sich vor 20 Jahren in einer Anwandlung neomonarchistischer Romantik in „St. Petersburg“ zurücktaufte. Weicheier!
Zum Glück ist dennoch weiterhin kein Mangel an handfesten stalinistischen Plattenbauten – gut so, denn was kann einen Sonnenuntergang zauberhafter widerspiegeln als Glanzstücke proletarischer Wohnkloarchitektur? Reiseleiterin Irina allerdings erwähnt diese bahnbrechenden Gebäude mit keinem Wort, stattdessen geleitet sie uns mit dem umflorten Blick Rolf Seelmann-Eggebrechts durch den eklen Prunk des Palastes der Adelsfamilie Yussupow.
Sie schwärmt von den „schönen, begabten, steinreichen“ Mitgliedern dieses degenerierten Geschlechts – und verschweigt, wie die Mischpoke einst jene Fantastilliarden erräuberte, ohne die sie niemals ihre Tapeten mit Blattgold hätte durchwirken können. Abstoßend!
Immerhin können die Yussupows auf die verdienstvolle Massakrierung des durchgeknallten Esofreaks Rasputin verweisen – und zwar hier im Keller, unter unseren Füßen, nur ein paar Meter weit weg vom Tapetenblattgold.
Nur auf der Kanalrundfahrt hatte die schwärmerische Irina kurz ihre stramme UdSSR-Sozialisation aufblitzen lassen. „Äs war nicht alläs schlächt in Sowjetzeit“, sagte sie, „abgäsähän von Stalin vielleicht, aber heute auch ist nicht alläs gutt!“ Eine wohltuende präventive Relativierung all dessen, was später an Seelmanneggebrechteskem aus der guten Frau herausbrechen sollte.
Die Leningrader … na gut: Petersburger Jugend frönt übrigens einem merkwürdigen Brauch, dessen Ursprung sich selbst die ansonsten allwissende Irina nicht erklären kann: Sie befestigt Schlösser an den zahlreichen Brückengeländern, die das sog. Venedig des Nordens zieren, welches am Stadtrand eher als Bitterfeld des Ostens durchgeht.
Nach dem Anbringen der Schlösser entsorgt die Jugend die Schlüssel, wahrscheinlich der Einfachheit halber in der Newa. Irgendwann war die verweichlichte Stadtverwaltung so verzweifelt über diese Unsitte, dass sie – anstatt die Jugend nach gutem alten, leider etwas in Vergessenheit geratenem Brauch en tout nach Sibirien zu expedieren – an allen Brücken quaderförmige Gitterkäfige aufstellte.
Damit verband sie die Hoffnung, die Jugend möge ablassen von den historischen Geländern und sich stattdessen den Käfigen zuwenden. Einen Honigtopf in die Zimmerecke zu stellen, um Wespen vom Kuchen wegzulocken, folgt ähnlichen taktischen Überlegungen.
Das Irre an der Petersburger Aktion: Die verweichlichte, neomonarchistische Jugend fiel darauf rein! Seitdem kettet sie ihre Schlösser nicht mehr an Brücken, sondern brav an die Gitterkonstrukte. Versteh einer die russische Seele!
Hätte die Stadtverwaltung stattdessen alle Brücken abgerissen und dort handfeste Plattenbauten hingestellt, die abends den Sonnenuntergang zauberhaft widerspiegeln, wäre dieser romantische Spuk ebenfalls von heute auf morgen vorbei gewesen.
Unter Stalin, so viel ist sicher, wäre das nicht passiert.
19 August 2010
Auf Kreuzfahrt (4): Von der natürlichen Schönheit der Finn(inn)en
Wir besichtigten Helsinki, eine Stadt mit Stadtteilen namens „Töölö“ und auch sonst von überschaubarem Liebreiz. In ihrem straßenbahnveredelten Jugendstil ist sie gleichwohl ohne jede Anfälligkeit für ein naheliegendes böses Wortspiel mit Doppel-l.
Die Sonne brannte zunächst auf eine Weise, wie ich es so weit im Norden niemals vermutet hätte, ehe es sich ordnungsgemäß zuzog und leicht zu tröpfeln begann.
Ms. Columbo wies mich beim Stadtbummel auf die hohe Anzahl teiggesichtiger Frauen mit auffälliger Kopfbreite hin. Bis dahin war mir einfach nur zur sprichwörtlichen natürlichen Schönheit der hiesigen Bewohnerinnen das entsprechende Sprichwort nicht mehr eingefallen, doch nun, da ich einmal darauf hingewiesen worden war, begegneten mir an allen Ecken Helsinkis ausgesprochene Musterexemplare breitgesichtiger Teigigkeit.
Viele Männer hingegen (das Foto zeigt zwei Hafenarbeiter, auf die alle nun folgenden Erläuterungen nicht zutreffen) schienen direkt aus Aki Kaurismäkis Castingbüro zu kommen. Die Aufgedunsenheit ihrer Torsi, welche durch bedauerlich passgenaue T-Shirts gut sichtbar herausgearbeitet wurde, versuchten viele zu übertünchen, indem sie sich Fusselbärte stehen ließen und einen allgemeinen Eindruck von Zerzaustheit herzustellen versuchten.
Doch ob Menschen anderer Kulturen in unseren Augen schön sind oder nicht, ist letztlich egal. Nein, die Mitglieder einer territorialen Gemeinschaft müssen sich vor allem untereinander in ausreichendem Maße sexuell anziehend finden; dann hat diese Gemeinschaft eine gute Chance, bis in alle Ewigkeit teiggesichtige, aufgedunsene und zerzauste kleine Scheißer zu zeugen.
Wie es allerdings um das innerfinnische Attraktivitätsempfinden wirklich bestellt ist, vermag ich nicht zu sagen. Die geringste Reproduktionsquote hat meines Wissens jedenfalls nicht Finnland, sondern Italien, und egal, was man gegen die Nachfahren der Römer ins Feld führen kann: breitgesichtige Teigigkeit etc. pp. gehört nicht zu ihren hervorstechenden körperlichen Attributen.
Ab jetzt wird es übrigens richtig spannend auf dieser Kreuzfahrt: Es geht in die Stadt Dostojewskis. Schalten Sie nicht um!
18 August 2010
Auf Kreuzfahrt (3): Wo sind Rolf und Hilde?
Der Tag in Stockholm endete dramatisch, denn ein deutsches Ehepaar blieb bis zur geplanten Abfahrt verschwunden.
Es war vom Landausflug nicht mehr zurückgekehrt. Am Ende, nach zwei Dutzend dringlichen, doch durchweg erfolglosen Suchdurchsagen über Bordlautsprecher, musste unser Schiff ohne Rolf und Hilde weiterfahren; schließlich ist das Ganze hier ist ein Millionenunternehmen, saumselige deutsche Ehepaare müssen im Zweifelsfall selbst sehen, wie sie zurecht- und nach Helsinki kommen.
Die nunmehr verwaiste Kabine der beiden Verschwundenen liegt auf Deck 8. Beim Abendessen fehlten überraschenderweise erstmals auch unsere festen Tischnachbarn, deren Namen wir zwar nicht kennen, aber ihre Decknummer: 8 …
Ist das nun Koinzidenz oder Korrelation? Das blieb bis zum nächsten Morgen erregend ungewiss, bis wir die Nachbarn putzmunter auf Deck 4 antrafen. Rolf und Hilde: Wo seid ihr?!
Apropos Stockholm: Die dortigen Islamisten haben – siehe Foto – offensichtlich eine Rechtschreibschwäche. Oder kein u auf der Tastatur.
17 August 2010
Auf Kreuzfahrt (2): Verlorene Seelen
Als Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff huldigt man dem brutalstmöglichen Eskapismus. Alles hier ist falsch, aber es ist großartig falsch.
Ein Kreuzfahrtschiff der gehobenen Klasse erfüllt die essenziellen Bedürfnisse des westlichen Menschen auf engstem Raum (wenn man 272 Meter Länge, 36 Meter Breite und eine Höhe von 14 Decks als „eng“ bezeichnen will).
Der westliche Mensch kann auf bestens präparierten Terrassen in der Sonne braten, so lange er möchte, er kann sich mitten auf dem Meer über eine vielfach gewundene Rutsche (Foto) ins beheizte Schwimmbad stürzen, er kann Fitnesstraining betreiben, bis der Arzt kommt (was Dottore sich mit 60 Euro pro Kabinenbesuch entlohnen lässt), er kann sich in unzähligen Clubs seine westlichen Depressionen schöntrinken, Bingo, Basketball, Roulette oder Tischtennis spielen – und vor allem: essen, essen, essen.
Die gebratenen Tauben, wie man so schön sagt, fliegen dir den ganzen Tag ins Maul, während Pakistan ertrinkt und Russland erstickt, und die Selbstkasteiung, Espresso, Wein und Whiskey extra bezahlen zu müssen, bringt dich kein Stück weiter auf dem Weg zur Rettung deiner Seele.
Vielleicht würde es helfen, die abendliche sog. Heilige Messe zu besuchen (immer um 17:15 Uhr, wir sind auf einem italienischen Schiff), doch wer’s nicht glaubt, wird halt auch nicht selig.
Weil das alles nun mal unwandelbar so ist, wie es ist, genieße ich mit nur maßvoll schlechtem Gewissen einen brutalsteskapistischen Nachmittag im Whirlpool. Über uns ist der Himmel makellos blau, während unendlich lange die an Rügen erinnernden Klippen von Gotland vorüberziehen.
Abends beim Dinner, als uns wieder gebratene Tauben ins Maul fliegen (respektive Ente bei Ms. Columbo und Knurrhahn bei mir – u. v. m. natürlich, das Dinner hat fünf Gänge, man hätte aber auch neun ordern können), konstatieren wir einen Wechsel in der Besetzung des Kellners gegenüber gestern (s. letzten Blogeintrag).
Der vibrierende Brasilianer hat erstaunlicherweise – obwohl sein Namensschild noch immer auf Tisch 42 steht – heute Abend bereits wieder frei. Oder er sitzt alternativ im Gefängnistrakt unter Deck, weil er sich gestern Abend, als wir längst aufgebrochen waren Richtung Mitternachtspizza im Büffetrestaurant, doch noch wild brüllend durch die übriggebliebenen Passagiere tranchierte, was die Kreuzfahrtleitung aber bislang peinlichst zu verheimlichen wusste.
So, mal schauen, was die Landgänge bringen.
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16 August 2010
Auf Kreuzfahrt (1): Der Kellner
Im Restaurant sitzen wir großartigerweise an Tisch 42 (remember Douglas Adams), doch der brasilianische Kellner scheint uns (und alle unsere Nachbarn) vom ersten Augenblick an zu verachten. Nicht uns als Menschen, sondern in unserer Inkarnation als Kreuzfahrtpassagiere.
Er verachtet uns, weil er scheißfreundlich sein muss und weil es unter seiner Würde ist, Teller abzuräumen, auf denen noch Garnelenreste liegen. Beim Bücken legt er den Kopf schief, eine verkrampfte Geste erpressten Devotseins, für die er seiner Meinung nach bei weitem zu lausig bezahlt wird.
Er ist ein stämmiger Einsneunzigmann mit licht werdendem Haar, das er streng zurückgegelt hat, und er verachtet uns auch deshalb, weil er seine Verachtung nicht zeigen darf.
Stattdessen knipst er sein Lächeln an wie eine 7-Volt Energiesparlampe und sagt mit italienischem Akzent laut „Entschuldigen, Madame!“, ehe er den Teller ruckartig hochnimmt und mit der Kante nur um Zentimeter die Schläfe einer Frau an unserem Tisch verfehlt.
„Entschuldigen, Madame!“, ruft er mit erpresstem, viel zu lausig bezahltem Energiesparlampenlächeln, doch in seinen Träumen zertrümmert er brüllend und mit geblecktem Gebiss sämtliches Porzellan auf unseren Köpfen und tranchiert uns mit allen acht Besteckteilen, die links und rechts neben dem Teller in genau jener Reihenfolge von außen nach innen aufgereiht sind, wie er es in der Kellnerschule gelernt hat.
Ich mag ihn nicht, aber ich kann ihn verstehen. Ich wäre genauso.
Er verachtet uns, weil er scheißfreundlich sein muss und weil es unter seiner Würde ist, Teller abzuräumen, auf denen noch Garnelenreste liegen. Beim Bücken legt er den Kopf schief, eine verkrampfte Geste erpressten Devotseins, für die er seiner Meinung nach bei weitem zu lausig bezahlt wird.
Er ist ein stämmiger Einsneunzigmann mit licht werdendem Haar, das er streng zurückgegelt hat, und er verachtet uns auch deshalb, weil er seine Verachtung nicht zeigen darf.
Stattdessen knipst er sein Lächeln an wie eine 7-Volt Energiesparlampe und sagt mit italienischem Akzent laut „Entschuldigen, Madame!“, ehe er den Teller ruckartig hochnimmt und mit der Kante nur um Zentimeter die Schläfe einer Frau an unserem Tisch verfehlt.
„Entschuldigen, Madame!“, ruft er mit erpresstem, viel zu lausig bezahltem Energiesparlampenlächeln, doch in seinen Träumen zertrümmert er brüllend und mit geblecktem Gebiss sämtliches Porzellan auf unseren Köpfen und tranchiert uns mit allen acht Besteckteilen, die links und rechts neben dem Teller in genau jener Reihenfolge von außen nach innen aufgereiht sind, wie er es in der Kellnerschule gelernt hat.
Ich mag ihn nicht, aber ich kann ihn verstehen. Ich wäre genauso.
15 August 2010
Fundstücke (97)
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
14 August 2010
Natürlich neunundsechzig
Das still vor sich hin bröckelnde Haus in der Bernhard-Nocht-Straße, in dem uns früher das Erotic Art Museum hochinteressante Schweinereien als Kunst verkaufte, trägt ausgerechnet die Hausnummer 69.
Vielleicht war diese Hausnummer damals fürs Erotic Art Museum sogar ein Killerargument für den Einzug. Denn selbst die 66 wäre, wie mir scheint, weniger anzüglich rübergekommen.
Die breitestbeinig auftrumpfende 666 hingegen hätte trotz aller Bemühungen völlig andere Assoziationen geweckt – ganz davon abgesehen, dass die Bernhard-Nocht-Straße gottfroh wäre und sich vor Freude auf die bröckelnden Fassaden klopfte, wenn sie auch nur annähernd so viele Hausnummern aufzuweisen hätte.
Seit zwei Jahren jedenfalls ist der Sex weg, doch die 69 immer noch da. So funktionslos und inhaltsleer, wie es hier zwischen den Zeilen nahegelegt wird, muss sich die vom Erotic Art Museum verlassene Nummer aber trotzdem nicht unbedingt fühlen.
Schließlich wohnen dort Leute. Alles ist denkbar.
13 August 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (32)
Die Grenze zwischen St. Pauli und Altona bewacht so trutzig wie trist der Frischemarkt Gökpinar.
Irgendetwas an der Gesamtoptik seiner Fassade scheint zu signalisieren, dass es mit der Frische bei dem ein oder anderen Gemüse nicht gar so weit her sein kann, wie es der Ladenname behauptet, doch dafür gibt es keinerlei Beweise.
Schließlich sehen Biopaprika, nicht wahr, auch immer fahler und fleckiger aus als die gespritzten spanischen Glanzbomben. Vielleicht sollte ich mich also doch mal reintrauen in den Frischemarkt Gökpinar.
Und sei es nur, um mir einen Schwinger einzufangen für die despektierliche Vermutung von oben.
12 August 2010
Das ikonografische Frühstück
Auf den Landungsbrücken unten am Hafen gibt es wiederum Brücken, von denen aus man das Elbpanorama umso besser genießen kann.
Wenn man mal nicht in die Ferne schaut, sondern direkt unter sich, von der Brücke auf die Brücke sozusagen, dann kann man die rausgestellten Tische und Stühle der Touristennepper in Augenschein nehmen. Dort bot sich mir unlängst ein geradezu ikonografisches Arrangement deutscher Frühstückskultur des mittleren 20. Jahrhunderts.
Verantwortlich für diese beispielhafte, historisch verblüffend authentische Kompilation aus weißen Brötchen mit Räuchersalami, Gurkenscheibe, Scheiblettenkäse sowie Frühstücksei plus Kaffee und allzeit bereitstehenden Sahnedöschen war (natürlich) ein Rentnerpaar.
Aschenbecher und Bierdeckelständer komplettierten sorgsam dieses paradigmatische Ensemble aus einer untergegangenen Epoche, welche gleichwohl von der Generation 60plus unverdrossen glorifiziert wird, unter anderem kulinarisch, wie man sieht.
Die beiden ließen es sich munter schmecken, als gäbe es kein Morgen, sondern nur das Gestern, und zwar für immer und ewig.
Meine Lust auf Vollkornbrötchen wuchs auf dem Heimweg ins Animalische.
11 August 2010
10 August 2010
Altes Geld
Eine junge Berliner Kollegin, die ich bei einem Einladungskonzert mit vorgeschaltetem Fernsehkochdinner treffe, erzählt mir beim Essen von den ganzen Trendläden, die sie unablässig abgrast in der armen sexy Stadt.
Hier eine schicke Butike, da ein Sushiladen (der aus irgendeinem bescheuert coolen Grund „Cantina“ heißt), drüben in Neukölln-Nord der Szeneclub Kinski. Alles super jedenfalls, alles obertrendy, alles Geheimtipps.
Und während sie das erzählt, fällt mir ihr olivgrünes T-Shirt ins Auge. In großen eierschalenfarbenen Brüllbuchstaben steht da „REVOLUTION“ drauf, und rechts oben über dem Schriftzug prangt ein Kreis mit umgekehrtem Ypsilon drin, das Friedenszeichen. Wahrscheinlich hat sie das Shirt in einer schicken Butike gekauft, zwischen Sashimi in der Cantina und einer Kirschsaftschorle im Kinski.
Ich weiß nicht, ob Karl Marx einst an Leute wie die Berliner Kollegin dachte, als er die Proletarier aller Länder zur Revolution aufrief, aber ich glaube fast nicht. Hamburg, sagt sie irgendwann, sei tot, dort habe sie mal gelebt, aber das könne sie nicht mehr, sogar Daniel Richter sei ja jetzt nach Berlin gegangen, in Hamburg nämlich „sitzt das alte Geld.“
Aber einen hübschen Funkturm haben wir, vor allem vom Innenhof des Fernsehkochrestaurants aus gesehen.
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09 August 2010
Fundstücke (96): Pseudokunst
Manchmal passiert es monatelang nicht. Und dann stolpert man über gleich mehrere Pseudokunstexponate an einem Nachmitag.
Heute etwa stießen wir in St. Georg und in der Innenstadt auf diverse ästhetisch reizvolle Zufallsmotive, mit denen man jederzeit eine bestimmte Klientel zu exegetischen Überlegungen bringen könnte – ähnlich wie damals die pittoresken Fahrspuren von Palettenwagen.
Wenn die klassische Beuys-These noch immer stimmt und jedermann ein Künstler ist (weil Kunst nämlich in der Moderne erst durch die Wechselwirkung mit dem Betrachter entsteht), dann gilt das wohl auch für eine Reinigungskraft, die daran scheiterte, Plakatreste komplett zu entfernen (Foto oben) – und ebenso für die gemeine Grünalge in einem Hamburger Fleet:
07 August 2010
Begegnung mit einem Vampir (oder Zombie)
Ein Tag der Merkwürdigkeiten – wobei die unvermittelte Ergänzung zur Anweisung des Hausarztes nicht mal die größte darstellte.
Denn am merkwürdigsten wurde es abends im indischen Restaurant Zala in der Rothenbaumchaussee. Ich erhielt als Wechselgeld Münzen – und die waren erschreckenderweise eiskalt.
Der Kellner verließ freundlich lächelnd den Tisch, während ich die Münzen rasch in der Hosentasche verwschwinden ließ, wo sie mir allerdings sofort durch den Stoff Gefrierbrandflecken in den Oberschenkel stanzten. Derweil ratterten mir die wichtigsten Fragen durch den Kopf, die dieser Vorfall aufwarf:
Lagern sie hier im Zala die Münzen etwa in der Tiefkühltruhe, bevor sie sie rausgeben? Oder war es die Hand des Kellners, die den Temperatursturz des Metalls bewirkte – und was bedeutete das für die Einordnung des Mannes in die Fauna?
Vielleicht gibt es ja doch Wesen, die menschlich wirken und doch keine Warmblüter sind. Seit dem Zala-Besuch scheint mir die Existenz von Vampiren und Zombies wieder deutlich plausibler.
Die Münzen habe ich heute an zwei obdachlose Russen im Brauquartier verschenkt. Sicher ist sicher.
06 August 2010
Fundstücke (95)
05 August 2010
In der potenziellen Hubba-Bubba-Arena
Auf Fremdschämtour beim HSV.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
04 August 2010
Man muss Prioritäten setzen, immer
Mann, war das Licht heute Abend im Hafen saftig! Man hätte es vom Himmel klauben und kneten können und dann in Marmeladengläsern verwahren, für den Winter, der viel zu bald kommen wird.
Doch leider hatten A., der Franke und ich beim Biertrinken unter den Palmen am Pinnasberg kaum ein Auge dafür, weil wir aus irgendeinem idiotischen Grund, der mir, wenn ich ihn noch wüsste, total peinlich wäre, verzweifelt nach dem Namen eines Fußballers suchten, der mal eine klägliche Saison beim FC Bayern verbracht hatte und später nach Hannover geflohen war.
„Ich denke immer an Djorkaeff“, sinnierte A., „aber der war’s nicht.“
„Er fängt mit F an“, sagte ich.
„Nein, mit D“, beharrte A.
Derweil navigierte sich der Franke, der als Bayernfan diesen blöden Namen eigentlich am ehesten hätte wissen müssen, mit seinem Webhandy durch die kicker.de-Seite, blieb aber ständig an nebensächlichen Meldungen wie „Robben fällt für zwei Monate aus“ hängen.
„Forsthoff?“, warf ich hoffnungslos ein. Natürlich nicht. Inzwischen hatte auch A. sein archaisches Webhandy gestartet. „Es lädt“, murmelte er, „bin schon bei 6 Prozent.“ Allmählich leckte das letzte Glitzern des saftigen knetbaren Hafenlichts über die Spitzen der höchsten Kräne, aber ich hatte eh kein Marmeladenglas dabei.
„Elf Prozent“, sagte A.
Am Geländer hatte ein Mann Aufstellung genommen, der eine Gruppe Jugendlicher anschrie. „Eure Statistiken sind das Letzte!“, brüllte er. „Ihr werdet untergehen, alle!“ Uns kümmerte das alles nicht, es gab Wichtigeres auf der Welt, nämlich einen Namen, der uns auf der Zunge lag, aber nicht rauswollte, verdammt.
„Ich hab’s“, sagte A. in einem Tonfall, der nicht triumphal klingen sollte, obwohl er’s war. „Schlaudraff. Es war Schlaudraff.“
Schlagartig entwich dem Abend die Spannung, es wurde dunkel, und bald trieb uns die Augustkälte nach Hause. Schlaudraff. Ich hatte es gewusst: Irgendwas mit F.
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03 August 2010
Eine Betrugsanleitung – nicht zu Hause nachmachen!
So, hier kommt ein Geschäftsmodell für Skrupellose, dem ich neulich zum Opfer gefallen zu sein glaube, ohne die Kraft und die Unmoral zu haben, es meinerseits anwenden zu können:
Bei Amazon irgendwas bestellen, das unversichert verschickt werden wird, warten, bis es eintrifft, dann behaupten, es sei nie angekommen, sich das Geld zurückerstatten lassen, das Produkt selbst auf Amazon verkaufen – und hoffen, dass man nicht auf seinesgleichen stößt.Mit dem Kiez hat diese Geschichte natürlich nullkommanichts zu tun, im Gegensatz zum heutigen Foto, welches das mit LED-Lampen aufgehübschte Riesenrad zeigt.
Das größte mobile der Welt übrigens, angeblich.
02 August 2010
Fundstücke (94): Rotlichtllogik
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
01 August 2010
Alles schläft, eine wacht oder Die Cinemaxx-Blitzreaktion
Von: Matt
Betreff: Aufpreis für Sichtbehinderung – wtf?
Datum: 31. Juli 2010 01:47:42 MESZ
An: cinemaxx.com
Liebes Cinemaxx Dammtor in Hamburg,
wir haben uns am Wochenende für 20 Euro den Leo-DiCaprio-Film „Inception“ angesehen (hervorragend, Hut ab), und zwar in Saal 1, Reihe M.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen bereits aufgefallen ist, doch vor Reihe M befindet sich ein Metallgeländer mit einem geknicktem Handlauf, der zuverlässig einen Teil der Leinwand verdeckt – sogar wenn man sich aufrecht und möglichst gereckt hinsetzt, was einer bequemen Sitzhaltung aber eh nicht förderlich wäre. Im Theater kosten Plätze mit Sichtbehinderung weniger, bei Ihnen mehr – versteh einer die Welt!
Da die Vorstellung ausverkauft war und wir leider auch zufällig keine Metallsäge mitführten (ein Versäumnis, welches nicht wieder vorkommen wird), war das Problem nicht zu beheben. In der Pause des Films versuchte ich daher die verantwortliche Kassendame standrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, doch sie hatte vorsorglich bereits das Weite gesucht.
Ich griff mir ersatzweise einen Sicherheitsmann im Saal und schilderte ihm den Mangel, ja, ich nötigte ihn sogar erfolgreich dazu, kurzzeitig meinen Platz einzunehmen und die versperrende Wirkung des Geländers mit eigenen Augen zu verifizieren, was er auch tat. Er wusste auch nicht so recht, welcher Teufel den Architekten geritten hatte, konnte aber zumindest die Information beisteuern, dass dieses Geländer bereits von Anfang an in diesem Saal sein Unwesen trieb.
Immerhin besteht der Handlauf – das muss ich fairerweise betonen – aus zwei parallelen Stangen, die etwa alle 50 Zentimeter vertikal verbunden und segmentiert sind. So konnten wir durch einen geschickten Mix aus Ducken, Recken und horizontales Verschieben des Oberkörpers auch Blicke auf jene Bildinhalte links unten erhaschen, die uns das sardonische Geländer eigentlich vorenthalten wollte. Gerade bei den anfänglichen Untertiteln erwies sich unsere körperliche Fitness als segensreich.
Gleichwohl kann es nicht im Sinne der Brüder Lumière sein, sich im Kino den Hals zu verrenken – vor allem nicht auf den teuren Plätzen. Denn zumindest das Parkett erfreute sich durchweg bester Sicht.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weg mit dem Geländer, freie Sicht auf Leo! Was uns natürlich nur künftig wieder etwas nutzen würde, nicht aber die Vorstellung vom Samstag posthum zu retten imstande wäre. 20 Euro für einen Blick durch ein Geländer? Das finden wir – und ich spreche da auch im Namen von Ms. Columbo – deutlich übertrieben.
Sie hoffentlich auch.
Mit Nackenschmerzen:
Matt
Von: CinemaxX - Der Filmpalast
Betreff: AW: Kritik: Aufschlag für Sichtbehinderung – wft?
Datum: 31. Juli 2010 02:05:28 MESZ
Guten Tag Herr Wagner,
wir bedauern ihr getrübtes Kinoerlebniss und möchten ihnen als Entschuldigung gerne Freikarten zukommen lassen. Senden sie uns dazu bitte ihre Adresse auf diesem Weg.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Mail und Ihr Interesse an unserem Hause!
Mit freundlichen Grüßen
Verena E. K.
CinemaxX Cinema GmbH & Co. KG
PS: Dass eine Mitarbeiterin mitten in der Nacht noch auf Kritik wartet und sie prompt kalmiert, finde ich im Nachhinein doch weniger erstaunlich als die kleine Veränderung im zitierten Betreff: Aus meinem „wtf“ wurde wundersam ein „wft“. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …
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