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19 Juni 2010
Fundstücke (84)
Diese haushohe Werbefläche, die uns seit einigen Wochen anschreit, wenn wir den Balkon betreten, passt heute plötzlich noch besser als gestern.
Hinter Michael: der Michel, schemenhaft, stoisch und ganz und gar kickabhold.
18 Juni 2010
Schland ist gar nicht schlimm
Kaum geht die WM los, schwenken die Fans Flaggen in den deutschen Landesfarben und fahren sie an Autofenstern spazieren. Und kaum passiert das, kriegen manche Linke einen automatischen Beißreflex, der Plakate wie das abgebildete hervorbringt (Dank an Miele, der mir das Foto mailte).
Sie zeigen damit allerdings nur, wie verknöchert sie inzwischen sind. Sie sind selbst längst – auch wenn sie jung sind – zu Ewiggestrigen geworden, die gar nicht mehr merken, wie gegenstandslos ihr Eifer längst ist, wie grandios er ins Leere läuft.
Das war natürlich mal anders. Wer in den 50er und 60er Jahren die Fahne schwenkte, tat das meist zur Bemäntelung seiner braunen Vergangenheit – weil er die schwarz-weiß-rote Nazifahne nun mal nicht mehr schwenken durfte. Zurecht wandte sich die APO damals gegen das neue Staatssymbol, weil das, was ihm voranging und sich nun schwarz-rot-gold bemäntelte, noch lange nicht verarbeitet und überwunden war.
Doch was damals der Verschleierung der eigenen Vergangenheit diente, ist im Lauf der vergangenen drei, vier Jahrzehnte – oh Wunder – zum Symbol der längsten Phase parlamentarischer Demokratie in der deutschen Geschichte geworden. Wer heutzutage Schwarz-Rot-Gold schwenkt, huldigt damit – sofern er es überhaupt politisch meint – höchstens den Adenauers, Erhards, Schmidts und Merkels, ob er sie nun gewählt hat oder nicht.
Er zeigt damit demokratische Gesinnung – also das, was den Neonazis so immens zuwider ist. Deshalb sieht man auf Demos der Rechten auch niemals Schwarz-Rot-Gold, sondern immer nur Schwarz-Weiß-Rot, natürlich ohne Hakenkreuz, man will ja nicht in den demokratischen Knast …
Wenn die verknöcherte Linke sich nun aufregt über das Herzeigen eines demokratischen Symbols, zeigt sie damit nur, wie wenig sie die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland begriffen hat und wie sehr sie noch in den Denkmustern der APO steckengeblieben ist.
Natürlich nichts gegen die APO: Sie war unabdingbar für die Austragung des Generationskonfliktes, der durch die personale Kontinuität nach Ende des Hitlerregimes unausweichlich wurde. Ihre Relevanz in den 60ern und 70ern ist unbestritten. Doch die Zeiten haben sich geändert.
Und gerade deshalb ist es geradezu tragisch, wie jene, die sich einst zurecht als fortschrittlich betrachteten, plötzlich zu Ewiggestrigen werden; zu Linken, deren politisches Lebenselixier offensichtlich die Schimäre eines Nationalismus ist, die sie weiter aufrechterhalten müssen, um selbst nicht unterzugehen.
Diese Ewiggestrigen brauchen die Nazis – oder zumindest etwas, das sie für naziähnlich halten; und sie brauchen bedingungslos die Illusion, Schwarz-Rot-Gold sei automatisch naziähnlich. Sie brauchen diese Lebenslüge, um ihre eigene Existenz weiter rechtfertigen zu können.
Deshalb ist die Realität ihr größter Feind. Die Realität, die da lautet:
a) Die schwarz-rot-goldene Fahne steht für Demokratie, nicht für Nationalismus.
b) Jene, die momentan die Fahne schwenken, meinen nicht mal einen demokratischen Nationalstaat, sie meinen eine Fußballmannschaft.
Diese Mannschaft ist übrigens längst geprägt von einer bunten Palette von Einwandererkindern, für deren Integration und Deutungshoheit die APO in den 60ern leidenschaftlich auf die Barrikaden gegangen wäre. Fast die Hälfte des aktuellen Kaders besteht nämlich aus Spielern, von denen mindestens ein Elternteil nicht aus Deutschland stammt, sondern aus:
Polen (Klose, Podolski, Trochowski), Türkei (Özil, Taşçı), Spanien (Gomez), Brasilien (Cacau), Tunesien (Khedira), Ghana (Boateng), Bosnien und Herzegowina (Marin) oder Nigeria (Aogo).
Den organischen Zusammenhang von schwarz-rot-goldener Fahne, parlamentarischer Demokratie und multikultureller Integration wollen die Ewiggestrigen allerdings nicht begreifen. Auch nicht, dass jene, die momentan Flaggen schwenken, längst eine angenehm ironische Distanz zu diesem Symbol haben.
Sogar die despektierliche Kurzform „Schland“ für Deutschland ist längst okkupiert, ironisiert und so mit einem nachsichtigen Lächeln eingemeindet worden. Und würde ein echter Nationalist seinem Dackel (oder was immer das ist) dieses lächerliche schwarz-rot-goldene Halsband umschnallen?
Deshalb eine Bitte an die Pawlow’schen Hunde: Kämpft gern gegen die Nazis – aber bitte nicht gegen jene, die das Symbol parlamentarischer Demokratie zur Unterstützung eines Fußballteams „missbrauchen“, welches auch noch auf bestmögliche Weise Aggressionen sublimiert, die früher nur auf dem Schlachtfeld abzubauen waren.
Ich habe heute beim Fanfest übrigens eingedenk des oben abgebildeten Plakats („unverkrampfte Deutsche stinken“) mal an ein paar einschlägig vorbelasteten Fahnenträgern geschnuppert, also vor allem an Spaniern, Argentiniern, Griechen, Japanern, Italienern und natürlich Deutschen.
Und siehe da: Sie müffelten alle ähnlich. Nämlich nach Bier, Schweiß oder Tränen – doch nie nach brauner Soße.
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17 Juni 2010
Fundstücke (83)
1. In der 1976er Erstauflage des rororo-Taschenbuchs „Hasenherz“ von John Updike (das man übrigens hier skandalöserweise für nur einen Cent kaufen kann, um mal unauffällig an den Beitrag von gestern anzuknüpfen) findet sich auf Seite 260 (und ausschließlich auf Seite 260!) eine derartige Häufung absurdester Tippfehler, dass als Erklärung nur ein Sabotageakt des Setzers in Frage kommt. Wenn Sie das hier lesen, Mister X: Bitte sagen Sie uns, warum Sie das getan haben. Es interessiert mich wirklich! Zumal wir dann gemeinsam klären könnten, was ein „Scamag“ ist; die Sächsische Cartonnagen-Maschinenfabrik in Dresden können Sie ja kaum gemeint haben. Entdeckt hat den vogelwilden Buchstabensalat Ms. Columbo.
2. Nirgendwo wäre diese Zierpalme deplatzierter gewesen als vor dem durch sie hervorragend verdeckten Wegweiser im Gesundheitsamt Altona. Glückwunsch an den unbekannten Strategen, der diese nicht einfach zu findende Stelle mit traumhafter Sicherheit ausfindig machte.
3. Nicht vergessen: Wir leben heute im gloriosen Morgen von vorvorgestern – und in der guten, alten Zeit von übermorgen. (Jaja, das habe ich bestimmt schon mal getwittert.)
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16 Juni 2010
Der Verfall des Euro ist unaufhaltsam
Okay, was macht man mit einer alten, aber tadellos erhaltenen Musik-DVD, die man nicht mehr haben will? Richtig: auf Amazon verkaufen.
Ich schaue mir also an, für wieviel Euro sie gebraucht dort angeboten wird, und stelle sie ein – für einen Cent weniger als das bisher niedrigste Angebot, nämlich 9,37 Euro. Schlau.
Wenige Stunden später bietet sie jemand für 9,36 an. Ich unterbiete. Er auch. Irgendwann wird’s mir zu umständlich, und ich senke den Preis um einen vollen Euro ab. Er um einen Euro und einen Cent.
Das Spielchen geht eine ganze Weile so weiter. Irgendwann liegen wir zwei Turteltäubchen bei 2,33 Euro, was ein verdammt niedriger Preis ist für diese tolle DVD – zumal der Rest der Amazon-Gemeinde das Ding nur für mindestens 5,80 Euro herausrücken würde.
Mein Konkurrent – ein Händler, der schon fast 40 000 Bewertungen hat – holt irgendwann zum großen Schlag aus und drückt das Ding in einem Anfall kapitalismusfeindlichen Wahnsinns auf 75 Cent. Jetzt reicht’s mir: Ich gehe antizyklisch hoch auf 5,79 Euro. Soll er sein Exemplar doch unbehelligt verramschen, mir doch egal.
Einen Tag später taxiert er es auf 5,78.
Das Spiel geht von vorne los, der spiralige Countdown nimmt erneut Geschwindigkeit auf. Bei 2,27 lasse ich ihn wieder hängen und springe erneut auf 5,79. Ich muss nicht erwähnen, wie er reagiert.
Inzwischen macht mir das Spiel Spaß. Fast würde ich es bedauern, wenn irgendjemand meine DVD kaufen würde; dabei habe ich nun wirklich keine Verwendung mehr dafür.
Eine neue Runde wird eingeläutet. Zug um Zug geht es auf altbewährte Weise wieder nach unten, die Sprünge abwärts werden immer größer, und irgendwann werfe ich ihm einen Brocken vor die Füße, den er nicht mehr schlucken wird: 14 Cent.
14 Cent also, für eine neuwertige DVD ohne Makel, von einem der größten Rockstars aller Zeiten. Das ist schon kein Schnäppchen mehr, das ist obszön, das ist nicht mehr zu verantworten, vor allem nicht gegenüber der Dritten Welt.
Abends schaue ich rein und sehe sein Gegenangebot: 13 Cent.
Meine Selbstsicherheit ist schlagartig wie pulverisiert. Guckte ich in den Spiegel, ich wäre sicherlich leichenblass. Mir bleibt jetzt nur noch eins: Mit zitternden Fingern klicke ich auf – „kaufen“.
Jetzt habe ich zwei Exemplare einer DVD, die ich schon als Einzelstück unbedingt loswerden wollte. Irgendwas ist hier schrecklich schiefgelaufen, und ich werde wohl ewig darauf sitzenbleiben. Denn eins ist sicher: Niemand auf der ganzen weiten Welt wollte dieses Teil erwerben, selbst für lausig-lachhafte 13 Cent nicht.
Nur ich. Und selbst das nur aus den falschen Gründen.
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15 Juni 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (29): Fanfest, Heiligengeistfeld
Man könnte meinen, es ginge um ein Autofestival, übertragen vom NDR.
Doch wenn man genau hinschaut, wenn man die Automodelle links und rechts der Bühne wegblendet und die Markenlogos erst recht, dann dämmert einem irgendwann, dass all das übertüncht werden soll, doch auf durchschaubarste Weise.
Sponsoring funktioniert im besten Fall wie jener Parasit, der sich im Hirn der Schnecke einnistet und irgendwann so groß wird, dass er ihren Willen umprogrammieren kann. Dann tut die Schnecke nur noch das, was das Überleben des Parasiten sichert – und stirbt dabei.
Das Spiel endete übrigens 1:1, aber ich habe nicht mal mitgekriegt, dass Italien den Torwart ausgewechselt hat.
14 Juni 2010
Endlich kein Auto mehr!
Vier Wochen lang haben wir das Auto von A. gehütet, der in den USA weilte. Eine gute Gelegenheit, das schöne Wetter auszunutzen und mal schnell an die Ostsee zu sprinten, nach Travemünde.
Während dieser Fahrt wurde mal wieder auf sehr nachhaltige Weise deutlich, warum es ein Segen ist, sich schon vor vielen Jahren vom Konzept des Individualverkehrs komplett verabschiedet zu haben.
Zuerst nämlich standen wir im Stau wegen einer Baustelle. Als ich ordnungsgemäß auf der linken Spur bis nach vorne fuhr, um mich am Ende einzufädeln, wurde ich nicht reingelassen, sondern ersatzweise von Fahrern auf der Mittelspur mit unflätigsten Gesten beleidigt.
Endlich in Travemünde angekommen, fand ich zunächst keinen Parkplatz. Nach diversen Ehrenrunden wurde ich fündig, hatte aber nicht an Kleingeld für den Parkautomaten gedacht.
Die folgende Stunde des Herumbummelns am Strand wurde ergo unablässig von der gedanklichen Möglichkeit eines Knöllchens beeinträchtigt. Allerdings grundlos, wie sich herausstellte – was mich a posteriori umso mehr ärgerte, denn dann hätte ich mich auch nicht eine Stunde lang prophylaktisch sorgen und grämen müssen.
Auf der Rückfahrt tapste ich in einer 40-km/h-Zone in eine trickreich versteckte Radarfalle, allerdings noch vor dem einstündigen Stau, der mir immerhin den Anblick eines komplett ausgebrannten Mercedes-Cabrios ermöglichte (der Höhepunkt des Tages).
Zurück auf dem Kiez fand ich natürlich keinen Parkplatz, weshalb ich zur Davidwache musste, um mir einen Besucherparkschein zu besorgen, der den Parkradius erweiterte. Ich stellte das Auto schließlich am Hamburger Berg ab, wo es in ständiger Gefahr schwebte, von Irren, Schlägern, Betrunkenen oder Junkies zweckentfremdet zu werden.
Der folgende Tag wurde ergo unablässig von der gedanklichen Möglichkeit einer Beschädigung beeinträchtigt. Allerdings grundlos, wie sich herausstellte – was mich a posteriori umso mehr ärgerte, denn dann hätte ich mich auch nicht einen ganzen Tag lang prophylaktisch sorgen und grämen müssen.
Zum Glück kommt A. heute zurück. Dann hat er seinen Wagen wieder an der Backe, und wir dürfen uns wieder dem sorglosen automobillosen Leben widmen. Dafür nehme ich von Herzen gern ein paar Punkte aus Flensburg entgegen, die bis zur nächsten Fahrt sicherlich längst verfallen sein werden.
Allerdings gibt es zumindest einen großen Vorteil dieses Rückfalls in den Individualverkehr: Ich kann mal wieder ein Travemündefoto posten, und zwar nicht nur aus reiner bösartiger Willkür.
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12 Juni 2010
(K)Ein teurer Spaß
Ich kann es wirklich nur empfehlen: nach Hause zu kommen und zu erzählen, die Vuvuzelatröte, die man stolz in der Hand hält, sei ein unwiderstehliches Schnäppchen gewesen („Nur acht Euro!“).
Ein solches Vorgehen erzeugt erstaunliche Effekte. So konsterniert habe ich nämlich Ms. Columbo selten gucken sehen. Und auch die unweigerlich folgende, mit Empörung kontaminierte Fassungslosigkeit („ACHT Euro????“) ist es allemal wert, diesen Spaß in die Wege geleitet zu haben.
In Wahrheit verschenkt Edeka diese Dinger natürlich. Wofür man den Laden teeren und federn müsste.
PS: Das Foto zeigt das Auge im Herzen des Vuvuzelasturms.
PPS: Ähm, was mach ich eigentlich jetzt mit dem Ding? Gelber Sack?
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Die Ruhe vor dem Anpfiff
Freitagmittag auf dem Heiligengeistfeld war das größte Fanfest der Republik noch nicht viel mehr als Wille und Vorstellung. Grund genug, die Ruhe vor dem Sturm zu dokumentieren, fotografisch.
Mittags herrschte zwischen Rollstuhlfahrern und Sicherheitsleuten noch ein Verhältnis von 1:1. Dass später auch das Eröffnungsspiel so ausgehen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Der Dönerstand versucht an eine vom Besitzer wohl als typisch verstandene anatolische Machokultur anzuknüpfen. Irgendetwas sagt mir allerdings, dass er damit signifikant weniger Frauen an seine Bude locken wird.
Der Deutschlandpavillon hat sich etwas unglaublich Originelles ausgedacht: eine schwarz-rot-gelbe Sitzgruppe. Die verschüchterte weiße Tischsimulation in der Mitte muss sich fühlen wie der Gazastreifen.
Der von Vorschriften eh geknechtete Kiez begrüßt herzlich einige neue Verbote – darunter Menschen, denen die rechte Hand abbröckelt (u. l.) sowie trichterförmige Tröten. Und womit? Ganz genau.
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Mittags herrschte zwischen Rollstuhlfahrern und Sicherheitsleuten noch ein Verhältnis von 1:1. Dass später auch das Eröffnungsspiel so ausgehen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Der Dönerstand versucht an eine vom Besitzer wohl als typisch verstandene anatolische Machokultur anzuknüpfen. Irgendetwas sagt mir allerdings, dass er damit signifikant weniger Frauen an seine Bude locken wird.
Der Deutschlandpavillon hat sich etwas unglaublich Originelles ausgedacht: eine schwarz-rot-gelbe Sitzgruppe. Die verschüchterte weiße Tischsimulation in der Mitte muss sich fühlen wie der Gazastreifen.
Der von Vorschriften eh geknechtete Kiez begrüßt herzlich einige neue Verbote – darunter Menschen, denen die rechte Hand abbröckelt (u. l.) sowie trichterförmige Tröten. Und womit? Ganz genau.
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11 Juni 2010
Healthy dying
Vor gut drei Jahren signalisierte der von mir exklusiv entdeckte und statistisch frappierend signifikante Fitnessclubindikator das baldige Ende der Zeitschrift „Healthy living“.
Doch erst heute gab der Verlag das Dahinscheiden des Magazins bekannt – „healthy dying“ sozusagen. Mit seiner Mischung aus Gesundheitstipps (= clever) und Geistheilerinnenporträts (= bescheuert) konnte es am Ende selbst Eppendorfer Esotanten nicht mehr aus ihrem zweiten Wohnzimmer locken, dem Demeterladen.
Bin gespannt, welches Medium als nächstes im Fitnessclub ausliegt und so unweigerlich die Ankündigung seines baldigen Endes in die Welt hinausschreit. Ich werde sie, die Welt, jedenfalls auf dem Laufenden halten.
Genauso wie über die Situation auf dem Kiez natürlich, wo neuerdings auf empörende Weise behördlich aufgestellte Einbahnstraßenschilder verunziert werden.
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10 Juni 2010
09 Juni 2010
Matjes satt, mit allen Konsequenzen
Erstmals seit unserem Umzug nach Hamburg besuchen wir das Matjesfestival in der Fischauktionshalle am Hafen. Das ist so was wie das Okoberfest, nur auf nordisch. Auf extrem nordisch.
An unzähligen Bierbänken sitzen Tausende feierwilder Dickbäuche und der Ondulation verfallener Damen mittleren Alters, die durch eine obere Körperöffnung Bier und Kümmelschnaps in sich hineinschütten, um den unablässig verspeisten Matjesmassen, die das Büffet ohne jede Mengenbegrenzung bereithält, den Aufenthalt im Innern ihrer wogenden Leiber heimeliger zu gestalten – Fisch muss schließlich schwimmen, nöch.
Während sich die Menge dergestalt verlustigt, treten Klaus & Klaus auf und singen Sufflieder, die über strategisch ebenso klug wie fatal verteilte Lautsprecherboxen mit Brachialgewalt auf die Bierbänke geblasen werden. Auch auf unsere. Wir können uns quasi nur noch mit Gesten verständigen.
Klaus & Klaus singen Sachen wie „Da wird die Sau geschlacht’! Die Sau! Da wird die Wurst gemacht! Die Wurst!“, und als ich nach nur zwei Strophen matjesmampfend mitzugrölen beginne, schaut mich Ms. Columbo an, als sähe sie mich zum ersten Mal in ihrem Leben. „Kennst du das etwa?“, fragt sie irritiert; zumindest glaube ich das von ihren Lippen ablesen zu können. „Jetzt ja!“, brülle ich zurück und suche ein weiteres Mal das Büffet auf.
Inzwischen hat Karl Dall die Bühne betreten. „Diese Scheibe ist ein Hit!“, ächzt Glubschauge seinen Uraltsong, der ein gutes Beispiel für eine selbsterfüllende Prophezeihung war, jedoch hier in der Fischauktionshalle eher reserviert aufgenommen wird. Nicht nordisch genug. Viel geiler kommt da doch der „Hamburger Veermaster“, den Ina Müllers Shantychor, der physiognomisch erstaunlich genau das Bierbänkepublikum imitiert, uns mit soviel Inbrunst um die Ohren haut, dass die Zwiebelringe auf meinem Teller das große Zittern kriegen.
Erstmals gestehe ich mir beim Hören des Songs ein, dass ich mich unbewusst schon immer an der Länderbezeichnung „Californio“ gestört habe. Eine Wortverbiegung um des Reimes willen; das tut man nicht, es sei denn, man heißt Erika Fuchs („Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“), dann darf man alles.
Inzwischen singen immer mehr Matjesfestivalbesucher lauthals mit, und wir sind bei der Roten Grütze gelandet. Natürlich nicht ohne Kümmelschnaps als Bindeglied zwischen Matjes und Dessert. Als wir kurz darauf mühsam den Berg Richtung Reeperbahn erklimmen, sind wir um 12 Fische schwerer (das Verteilungsverhältnis erläutere ich hier lieber nicht).
Unterwegs begegnen wir zwei ägyptischen Geschäftsleuten beim HVV-Planstudium. Sie suchen die Mönckebergstraße. „But why? The shops are all closed“, wundere ich mich mit einer Leutseligkeit, die ohne die Tatsache, vorhin „Da wird die Sau geschlacht’! Die Sau!“ gegrölt zu haben, kaum denkbar gewesen wäre.
„We just want to look where it is“, erklären die Ägypter lächelnd, „to come back tomorrow.“ Da sie nicht wissen, wie sie zur nächsten S-Bahn-Station kommen sollen, um von dort aus in die verwaiste Mö zu fahren, nehmen wir sie unter unsere Fittiche und geleiten sie zur Reeperbahn.
Die beiden freuen sich, dass ich Mohamed Zidan kenne, den Stürmer von Borussia Dortmund. „Great player“, lobe ich höflich, obwohl mir Zidans unerklärliche Formschwäche während der HSV-Zeit noch gut in Erinnerung ist, und erwähne seine vereinsübergreifende Treue zum Trainer, dessen Namen mir allerdings matjes-, bier- kümmelschnaps- und rotegrützebedingt just nicht einfallen will.
„Jurgen Klopp!“, juchzen die Ägypter unisono. Und das krönt diesen Abend, der mindestens so schräg war wie Steve Buscemi in „Fargo“.
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08 Juni 2010
Kleines Missverstanding
06 Juni 2010
Fundstücke (82)
Nö.
Falls es nicht entzifferbar sein sollte, wie das liebreizende Maklerbüro Limberger seine kühne These „Kapitalanlage mit Zukunft!“ begründet, obwohl das Objekt zurzeit bewohnt ist: Unten rechts verweist es auf die „92-jährige Mieterin“ … Entdeckt im Aushang der ebenfalls liebreizenden Deutschen Bank in der Eppendorfer Landstraße.
Hätte der Ölteppich vor Louisiana seinen Ausgang in Hamburg genommen, sähe er jetzt so aus. Entdeckt dank The Maastrix.
05 Juni 2010
Das blinde Gesicht
Kollegenschelte ist ja immer unfein. Deshalb deklariere ich das Folgende lieber als „Tipps“.
Also, lieber Christoph Forsthoff von der Mopo, sollten Sie dereinst noch mal über Eric Clapton berichten dürfen, dann nennen Sie ihn im Text besser nicht „Erik“. Und sein Spitzname ist „Slowhand“, nicht „Flow Hand“.
Zudem sollten Sie das Wort Gefährten nicht mit d schreiben, sonst gefährden Sie Ihren Ruf. Und „arkustisch“ ist zwar eigen, gebe ich zu, doch ohne r wirkt es massenkompatibler.
Claptons Band mit Steve Winwood, lieber Herr Forsthoff, hieß übrigens Blind Faith und keineswegs und unter gar keinen Umständen „Blind Face“. Sollten Sie mit dieser Neuschöpfung allerdings einen Killerspitznamen für sich selber kreieren wollen, dann könnten Sie damit durchaus erfolgreich sein.
Wenn Sie (also Sie Blogleser, nicht Herr Forsthoff) mich jetzt fragen, warum ich die Mopo überhaupt immer mal wieder kaufe, wo ich ihre eigenwillige Verwendung der Sprache doch schon seit längerem verbesserungswürdig finde, dann sage ich Ihnen klipp und klar:
keine Ahnung.
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Also, lieber Christoph Forsthoff von der Mopo, sollten Sie dereinst noch mal über Eric Clapton berichten dürfen, dann nennen Sie ihn im Text besser nicht „Erik“. Und sein Spitzname ist „Slowhand“, nicht „Flow Hand“.
Zudem sollten Sie das Wort Gefährten nicht mit d schreiben, sonst gefährden Sie Ihren Ruf. Und „arkustisch“ ist zwar eigen, gebe ich zu, doch ohne r wirkt es massenkompatibler.
Claptons Band mit Steve Winwood, lieber Herr Forsthoff, hieß übrigens Blind Faith und keineswegs und unter gar keinen Umständen „Blind Face“. Sollten Sie mit dieser Neuschöpfung allerdings einen Killerspitznamen für sich selber kreieren wollen, dann könnten Sie damit durchaus erfolgreich sein.
Wenn Sie (also Sie Blogleser, nicht Herr Forsthoff) mich jetzt fragen, warum ich die Mopo überhaupt immer mal wieder kaufe, wo ich ihre eigenwillige Verwendung der Sprache doch schon seit längerem verbesserungswürdig finde, dann sage ich Ihnen klipp und klar:
keine Ahnung.
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04 Juni 2010
Von Zehen und Fingern
Vergangenes Wochenende moderierte Peter Urban noch die sensationelle Grand-Prix-Übertragung aus Oslo, und heute stieg er mir auf den linken kleinen Zeh. Aber nicht mit Absicht, er hat es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt. (Sonst hätte er sich ja entschuldigt.)
Nein, Urban wollte beim Konzert von Eric Clapton und Steve Winwood in der O2-Arena einfach nur den Sitz neben mir aufsuchen, und dabei passierte es. Irgendwie logisch: Schließlich saßen wir in der „Penalty Box“, wo bei den Eishockeyspielen der Hamburg Freezers die Strafzeiten abgebrummt werden. „Hoffentlich werden wir nicht eingewechselt“, witzelte Ms. Columbo. Dazu kam es in der Tat nicht.
Mein kleiner Zeh ist übrigens trotzdem nicht größer als vorher, denn der Urban ist eher ein Leichtgewicht. Im Gegensatz zu Eric Clapton, dem sie vor über 40 Jahren sogar unterstellt hatten, Gott zu sein. Und weiß Gott: Der Mann spielt noch immer Gitarre, als würden um Mitternacht die Kapodaster verboten. Er muss auch groteskerweise nie hingucken, das machen diese wuseligen Clapton-Finger alles von alleine. Dass er nicht hingucken muss, demonstriert er mit einem gewissen Stolz, der leicht ins Eitle lappt, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Ich jedenfalls tat genau das Gegenteil, nämlich die ganze Zeit auf den Großmonitor starren, um hinter das Geheimnis seines geradezu obszön flüssigen Solierens zu kommen; und jedesmal, wenn der unsensible Liveregisseur Claptons Wunderfinger wegblendete, bekam ich einen Hals.
Aus Gründen einer Schlusspointe würde ich jetzt am liebsten sagen: Peter Urban ging es mit Sicherheit genauso. Doch das ist reine Spekulation.
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03 Juni 2010
Bullenwillkür!
Wir sitzen unter den Palmen überm Hafen und trinken das erste Frühlingsbier im Freien, während die Aida Luna lautlos vorüberzieht mit ihrem doofen infantilen Kussmund und die junge Punkerin vor uns einen weißen Kuli durch die Finger wandern lässt und routiniert Rosé aus der Flasche trinkt.
Eine Szenerie von bezirzender Friedlichkeit. Doch plötzlich tauchen drei Polizisten in bedrohlichem Schill-Gedächtnis-Schwarz auf und umstellen die Frau. „Personenkontrolle“, sagt einer, „bitte kommen Sie mal mit.“
Die Punkerin trägt rosagrüne Haare und mehr als ein halbes Dutzend Piercings im Gesicht, vier davon in Unter- und Oberlippe. Sie steht grinsend auf, packt ihre Sachen und geht mit.
Am Rand der Rasenfläche bleiben alle stehen. Die Polizisten wühlen in ihrer Tasche, durchsuchen die Jacke und lassen sich den Ausweis geben. Unter den Palmen regt sich ein erstes vernehmbares Murren. Was hat sie denn getan? Nüscht. Bullenwillkür!
Die Frau kommt zurück, setzt sich wieder und nippt behaglich am Rosé. Sie ist die Ruhe in Person. „Was war denn los?“, frage ich sie.
„Ach“, lächelt sie durch alle vier Piercings hindurch, „die suchten nach Drogen. Und mein Kuli sah halt aus wie ein Joint.“
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02 Juni 2010
Geschmacklos
Also ich weiß ja nicht, ob man als Mercado-Fressbude die hungrigen Massen mit dem Killerslogan „Alle Gerichte sind ohne Geschmack“ an die Töpfe lockt.
Und was bedeutet bloß das zusammenhanglos dahintergeklatschte Wort „Verstärkel“? Wenn man schon chinesisch eingefärbtes Deutsch parodieren möchte, wie es wohl beabsichtigt war, dann hätte man auch konsequenterweise „Velstälkel“ schreiben müssen.
Am Ende folgt unversehens noch ein aus der Hüfte geschossenes „Glutamat“ ohne jeden Sinn und Verstand.
Also ich geh da nicht essen.
01 Juni 2010
31 Mai 2010
Wie die Faschisten mit meiner Hilfe doch noch ihr Fett abkriegten
Micah P Hinson kommt aus Abilene, Texas, und er sieht aus wie der gemeinsame Stiefbruder von Woody Allen, Alfred E. Neumann und Elvis Costello: ein dürrer Bursche mit Segelohren und übergroßer Hornbrille.
Außerdem ist er einer meiner liebsten Singer/Songwriter überhaupt, was allerdings keine Mehrheitsmeinung ist, sonst wären heute Abend kaum nur rund 20 Leutchen ins Beatlemania-Museum an der Reeperbahn gekommen, um Hinson spielen zu sehen.
Besonders bewegend finde ich seinen Song „Dying alone“, den er für seine Frau schrieb, die während seines Vortrags still am Fenster saß und sich am Ende des Stücks gewissermaßen selbst beklatschte.
Leider war ich später die Ursache für einen kleinen Disput zwischen den Eheleuten, als ich Hinson fragte, ob der Slogan auf seiner Gitarre wirklich „This machine kills facists“ heißen solle, wobei mir die Vokabel „facist“ völlig unbekannt sei (was aber ü.b.e.r.h.a.u.p.t. nichts heißen will).
Er bekannte, natürlich „fascists“ gemeint zu haben, doch seine Gattin für die Verschriftlichung des Slogans zuständig gewesen und somit verantwortlich für das fehlende s sei. Dann wandte er sich an die Frau, für die er „Dying alone“ geschrieben hatte, und beklagte sich über den Rechtschreibfehler (den er aber ehrlich gesagt auch selbst hätte bemerken können), ehe er sich wieder mir zuwandte, um mir seinen aufrichtigen Dank auszusprechen.
Wenn also bei den nächsten Hinson-Konzerten, für die ich hiermit eine dringende Besuchsempfehlung ausspreche, der klassische Woody-Guthrie-Spruch korrekt geschrieben auf seiner Gitarre auftaucht und er damit den Faschisten europaweit die Hölle heiß macht, dann ist nur einer dafür verantwortlich: moi.
Und das macht mich „ein Stück weit“ (M. Sammer) stolz.
PS: Da es „facist“ im Englischen (noch) nicht gibt, würde ich hiermit gerne eine Neueinführung initiieren, und zwar mit der Bedeutung „Hackfresse“.
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30 Mai 2010
Lenamanie vor der Haustür
Noch immer schwappen große Wellen Kakophonie ins Wohnzimmer.
Einzelne Elemente sind herausdestillierbar: brüstungerschütternde Bässe, Choräle euphorisierter Betrunkener („Lena, we love you!“ im Wechsel mit „St. Pauli, o-ho-ho!“), indifferentes Gegröle ohne genau bestimmbare Semantik, wildes Wut- und Empörungshupen sowie die Hysterie multipler Notarztsirenen.
Mehrfach im Jahr ist es von besonderem … äh … Reiz, neben dem Spielbudenplatz zu wohnen, doch wenn „wir“ gerade den Eurovision Song Contest gewonnen haben, dann halten auch doppeltverglaste Isolierfenster nur den gröbsten Krach draußen.
Wir sind also jetzt Papst, wir sind 1. Liga, und wir sind Lena. Auf die ein oder andere Weise manifestiert sich so ein Wirgefühl immer besonders heftig auf dem Kiez (außer beim Papst, natürlich). Eigentlich sollte ich jetzt rübergehen, mitten hinein ins Herz der Kakophonie. Einfach damit ich meinen Enkeln später mal erzählen kann, ich sei dabeigewesen.
Moment mal: Ich hab ja nicht mal Kinder.
Trotzdem.
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