12 März 2006

Die Tabascowette

Die nostalgische Story von Frau Modeste über den Grillteller Akropolis erinnert mich an die Lieblingspizzeria meiner Jugendzeit. Sie stand im hessischen Dillenburg, gegenüber vom Bahnhof. Wir fuhren mit der Clique einmal die Woche hin. Für mich bedeutete der Besuch des Rialto zugleich die Einführung in die Welt des geschmolzenen Käses.

Zu Hause nämlich war dieses so vielseitig verwendbare Lebensmittel aufs Höchste verpönt und wurde mit allen Anzeichen des Ekels sogar verbal weitgehend tabuisiert. Käse hatte kalt zu sein, basta. So die Direktive meines Vaters. Gegen diese offenbar naturgegebene Tatsache wurde auch mütterlicherseits niemals verstoßen, so dass mein erster Pizzeriabesuch mich zugleich mit der verführerisch verbotenen Welt des erhitzten Milchproduktes konfrontierte, obgleich mein anerzogener Ekel nur peu a peu weichen wollte.

Bald aber bestellte ich meine Pizza mit doppelt Käse, und heute scheint es mir, als sei diese Ungeheuerlichkeit die erste allegorische Andeutung der sich nur wenig später anbahnenden offenen Rebellion gegen meinen Vater gewesen. Was mit warmem Käse begann, erfasste bald auch die Sphäre des politischen Diskurses („Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst …!“) und endete in Kriegsdienstverweigerung, Anti-Strauß-Buttons, Kirchenaustritt und konfrontativ gemeintem Politikstudium in Marburg, wo ich Ms. Columbo kennenlernte – der Rest ist Geschichte.

Und alles nur wegen doppelt Käse auf der Pizza.

Eigentlich wollte ich aber eine ganz andere Rialto-Geschichte erzählen, nämlich die von der Tabascowette. Auf die Doppelschicht Käse kippten wir uns stets einen Hauch Tabasco, jenes teuflische Höllengebräu, das schon bei der geringsten Überdosierung mit deiner Mundschleimhaut etwas anstellt, für das „Halloween“-Killer Michael Myers noch ein Fleischermesser benötigte. Manche in der Clique gingen dennoch deutlich weiter und färbten die Pizzaoberfläche streifig rot.

Der Wagemutigste von uns war W., ein grobschlächtiger Sympath, der später ebenso vergnügt wie erfolgreich eine Metzgerlaufbahn einschlug. Irgendwer regte angesichts W.s beeindruckender Tabascodosis eine Wette an, die wir alle rasch und gerne unterstützten. Wenn er, W., in der Lage sei, so die durchaus sadistisch grundierte Offerte, ein randvolles Schnapsglas Tabasco zu trinken, dann werde ihn der Pizzaabend im Rialto keinen müden Pfennig kosten; die Zeche übernähmen wir.

W. war ein Mensch der Tat, was er noch oft in seinem Leben beweisen sollte, ob im Schlachtraum oder bei mancher Schulhofschlägerei. Allerdings geriet er nun ins Grübeln, was die Dimension der Herausforderung unterstrich. Doch dann ließ er sich entschlossen ein Schnapsglas bringen, und einer von uns übernahm das Befüllen desselben.

Angesichts der wohlweislichen Konstruktion einer Tabascoflasche – stets verlässt trotz heftigen Schüttelns nur ein kleiner definierter Strahl den Flaschenmund – geriet dies zu einer recht langwierigen Aufgabe. Doch irgendwann war es geschafft, das Glas war voll, und sein Anblick erfüllte uns mit Demut und Respekt. Ein Schauder durchfloss uns, doch wir überspielten den Ernst der Lage mit derben Scherzen auf W.s Kosten.

Der Proband indes zögerte nicht lange; er wusste instinktiv: Ein Ende mit Schrecken war weiterem Hadern und Zaudern unbedingt vorzuziehen. Er verfuhr nach einer bewährten Hamburger Methode, welche ich allerdings erst viele Jahre später so pointiert kennenlernen sollte: Nich lang schnacken, Kopp in’n Nacken.

Ich erinnere mich an unser atemloses Schweigen. Und daran, wie wir W. mit riesigen Augen anstarrten. Er sagte nichts. Er saß einfach da, vor sich das leere Glas, und keuchte unterdrückt. Wir starrten und sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Aber er sagte nichts. Dann kroch es ihm rot ins Gesicht, glitzernder Schweiß rann ihm von der Stirn und tropfte auf die Tischdecke, direkt neben das leere Glas.

Sein Kopf begann auszusehen wie eine mutierte Gentomate. W. sagte noch immer nichts. Wahrscheinlich waren seine Stimmbänder gelähmt. Doch tief unter dieser rotglühenden, immer keuchender atmenden, schweißnassen, um Struktur und Halt kämpfenden Oberfläche, die wir mit offenen Mündern anglotzten, gloste schon sein Triumph, und wir spürten ihn alle.

W. hatte vorsorglich Wasser geordert, was er nun in sich hineinzuschütten begann (es hätte unbedingt etwas Milchiges sein müssen, doch das weiß ich erst heute), er bestellte flaschenweise nach und litt triumphierend eine ganze Weile, viel länger, als es nötig gewesen wäre.

So wurde W. an einem einzigen Abend zum Helden – ach was: zur Legende. Er war der Junge, der ein Glas Tabasco auf ex kippte und alles durchlitt und ertrug, was unweigerlich folgte. Er war der Junge, der ein Glas Tabasco auf ex kippte und schwieg. Einige Jahre später erwischte ihn eine Hirnhautentzündung, er schwebte tagelang zwischen Leben und Tod, doch er überstand auch das.

Keiner von uns folgte ihm je ins Tabascoland des Feuers und des Schmerzes, dessen Geheimnisse er allein geschaut hatte. Für mich war er eine Art Livingstone oder Amerigo Vespucci: einer, der tollkühn ins Unbekannte aufgebrochen war, um gereifter, weiser zurückzukehren in die Welt der Verzagten. In die Welt der Tabascotröpfler.

Und alles wegen einer Pizza mit doppelt Käse, für lau.


Ex cathedra: Die Top 3 der feurigsten Songs
1. „She's hot“ von The Rolling Stones
2. „Texas chili“ von Country Gentlemen
3. alles von den Red Hot Chili Peppers


9 Kommentare:

  1. Schöne Geschichte, kann mir das ganze auch gut bildlich vorstellen. Ich würde es aber trotzdem nicht machen wollen. Das muss doch ungemein auf die Magengegend gehen. Selbige scheint bei mir zur Zeit jedenfalls schon von ein wenig bizarren Essgewohnheiten der letzen zwei Wochen einen guten Schaden davon getragen zu haben. Jedenfalls rumohrt es gerade (eben mal einen gesunden Salat gegessen) heftig. An solchen Tagen wünscht man sich Klowände die keinen einzigen Ton an die Außenwelt lassen (das bitte jetzt nicht bildlich vorstellen).

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  2. Keine Sorge, bei Klowänden denke ich sowieso nur noch an Jean-Remy von Matt … ;-)

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  3. Eine schon magentechnisch sehr beeindruckende Leistung.

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  4. ...und wo ich mit Grausen und einem hämischen Grinsen diese Geschichte lese fällt mir doch die Anekdote eines Freundes ein, der vor einigen Jahren in New Orleans war und sich dort mit Freuden und Interesse der dortigen Musikszene widmete...

    Es war Sommer, Abend und erbärmlich heiss, so will es die Legende. Ein kaltes Bier und etwas Musik in einer der vielen Bars konnte also nicht schaden. In der Kneipe der Wahl stand ein Weisser auf der Bühne, spielte funkig-swampigen Blues und setzte hin und wieder eine kleine, undefinierbare Flasche an die Lippen.
    Nach dem Dritten (oder vierten) Bier war mein Freund mutig genug, sich unter die Vordersten am Bühnenrand zu mischen, und als die Flasche das nächste Mal zum Vorschein kam konnte er einen Blick erhaschen: Tabasco...

    Der Freund ist inzwischen (wohlbehalten) wieder zurück und hat sozialen Rang erklommen, aber auch den Musiker gibt's noch - und wenn man sich seine Stimme so anhört könnte man das mit dem Tabasco fast glauben. Soll ja auch sonst ein etwas schräger Vogel sein, der Typ:
    Coco Robicheaux
    Die Musik kann man sich allerdings durchaus mal antun, da hat dann auch eine Flasche Tabasco noch ihr Gutes :-)
    Und geschmolzener Käse ist *definitiv* lecker...

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  5. Danke für diese Geschichte. Sie erklärt möglicherweise das Geheimnis des berühmten Bayou-Stils, für den auch hochmerkwürdige Stimmen wie die von Dr. John stehen.

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  6. Es sind diese autobiographischen Geschichten, die ich am meisten liebe und jeder noch so spannend erzählten Fiktion vorziehe. Daß Tabasco eine derart nervenzerfetzende Spannung zu erzeugen in der Lage ist, war mir in der Tat neu.

    Vielen Dank auch für den Link zu Modeste mit dem interessanten Diskurs in den Kommentaren!

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  7. Opa, vielen Dank für die warmen Worte. An Fiktionalem bin ich bisher eh immer gescheitert. Deshalb gibt es hier auch nur Autobiografisches, versprochen.

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  8. Tabasco und Pfeffer wurden definitiv von Herstellern sanitärer Anlagen erfunden. Sie sahen darin eine darwinistische Auslese. Es gibt allerdings eine gut-verdauliche Gegenfront: Die Knoblauchesser.

    Ich darf dann noch verspätet und in müdiger Eile auf Dr.John eingehen. Imho - he sounds like he tasted it all and anywhere.

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  9. joshua, ich möchte auf die geradezu völlige Unverdaulichkeit von ROHEM Knoblauch aufmerksam machen. Vor allem hat man (und die Umwelt) tagelang etwas davon, während die Tabasco-induzierte Unpässlichkeit vergleichsweise rasch überstanden ist.

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