13 März 2006

Der dunkle Trieb

Für Fahrradkuriere sind die Seitenstraßen rund um die Reeperbahn zurzeit eine echte Herausforderung. In die Schneeschicht auf dem Asphalt haben sich tiefe Reifenspuren eingegraben. Nach kurzem Antauen in der Mittagssonne froren die Furchen und Muster wieder zu – zum bizarren, passagenweise beinharten Parcours, der nur noch von Snowboardern zu bewältigen wäre.

Heute morgen sah man also vom Balkon aus einen schnittigen Kurier sein Rad wackligen Schrittes über den vereisten Seilerstraßengehweg schieben. Er schafft sein Pensum zurzeit ebensowenig wie die Postboten. Und drüben auf dem Heiliggeistfeld bauen fluchende Vermummte bei Frost und Schnee den sogenannten Dom auf, einen bundesweit bekannten Rummel, der dreimal im Jahr stattfindet und buchstäblich Millionen von Alk- und Achterbahnfans in unser Viertel lockt. Der am Freitag startende heißt Frühlingsdom, wird aber wohl winterlicher aussehen als der im November/Dezember; und der nannte sich Weihnachtsdom. Werden also kurzerhand die Mandelbrennereien aus dem Urlaub zurückbeordert? Der Frühlingsdom ist ja normalerweise eine Matjesdomäne.

Und werden sich die Besucher wirklich in jene eiswindumtoste Höhe begeben, in die das wirklich riesige Riesenrad vorstößt? Komischerweise traue ich mich alljährlich in dieses archaische Gefährt hinein, obwohl ich unter Höhenangst leide und auch sonst jedem zentrifugenähnlichen Herumwirbler auf dem Dom so fern bleibe wie die Gans dem Fuchs. Im Riesenrad sacke ich zwar tief in mich zusammen, rutsche halb vom Brett, umklammere krampfig mit weißlich schimmernden Fingerknöcheln die Sitzbankkanten und denke unablässig „Ogottogott!“, doch aus irgendeinem Grund habe ich mich ja dort hineinbegeben, also muss eine gewisse rationale Entscheidungsfindung vorausgegangen sein.

Früher war Ms. Columbo die Taffe von uns beiden, die das schief grinsende Häufchen Elend gegenüber mit besänftigendem Lächeln auf die grunsätzliche Harmlosigkeit der Gesamtsituation hinwies. Doch sie spürte ja auch nicht die Sogkraft des Abgrunds. Der Akrophobiker fürchtet sich nicht vor der Tiefe an sich, sondern vor einem dunklen Trieb in ihm selber, der beschwörend flüstert: Steh auf, erklimme das Geländer – und spring! Gruselig.

Vielleicht waren viele Selbstmörder gar keine, sondern einfach willensschwache Menschen mit Höhenangst, die der hypnotischen Stimme des dunklen Triebes keinen Wunsch abschlagen konnten. Heutzutage klammert sich Ms. Columbo übrigens mit genauso weißlich schimmernden Fingerknöcheln ans lächerlich schmale Sitzbrett, und ihr Lächeln ist nicht mehr besänftigend, sondern verbissen und schief. Das hilft mir allerdings noch weniger.

So fahren wir alljährlich mit dem Riesenrad hinauf in den Himmel über St. Pauli (Foto), zwei schockstarre Gestalten im Sandwich der Gefühle – zwischen Panik und schöner Aussicht.

Nächste Woche soll es Frühling werden. Und wir werden aus irgendeinem Grund wieder für sechs Euro zwei Riesenradkarten lösen. Hoffentlich hat der dunkle Trieb dieses Jahr nicht plötzlich neue Tricks auf Lager.

Ex cathedra: Die Top 3 der Hymnen an den Frühling, verkündet von BJ Andreas
1. „ Springtime“ von Jonathan Richman
2. „I live in the springtime“ von The Lemon Drops
3. „Spring rain“ von Go-Betweens


3 Kommentare:

  1. Sag hallo!

    http://www.flickr.com/photos/webseeings/112033053/

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  2. Bliebe noch die Parallele zwischen "vom Riesenrad springen" und "springtime zu klären. Soll man eventuell im Frühling springen? Oder wieso erwähnt der Autor beides in einem Eintrag?

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  3. herr herrner, diese Fotostrecke ist beängstigend.

    trillian, ich bin ja normalerweise für jeden Kalauer zu haben, aber der ist wirklich grenzwertig … ;-)

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