23 Juni 2011

Und am Abend Morning Glory



Weil St. Pauli ein Ort und vor allem ein Hort der Gegensätze ist, hat hier auch ein Luxushotel wie das in heimelig schummriger Backsteingrobheit gestaltete East seinen Platz – übrigens schräg gegenüber einer Absackerkneipe von geradezu stereotypischer Kiezhaftigkeit.

Ich bin immer wieder gern im East und hatte mich für die sogenannte Küchenparty angemeldet. Hierbei ist den Kunden nicht nur der Gastraum des Restaurants zugänglich, sondern auch das Allerheiligste, die Küche. Man steht also dort herum zwischen Woks und Welsfilets, zwischen Spülmaschinen und Gasflammen, und stört die gleichwohl gutmütig lächelnden Köche bei der Arbeit, was sie nicht davon abhält, uns unablässig Köstlichkeiten zuzuschanzen.

Der Küchenälteste ist Julius, ein jungenhaft wirkender Thailänder von Mitte 50 und handelsüblicher Schmächtig- und Drahtigkeit, dem man irgendwann vor Urzeiten wegen akuter Unaussprechlichkeit seines Originalnamens diesen klangvollen, wellenförmig verlaufenden Dreisilber verpasst hatte. Jetzt ist er sogar auf seiner Küchenschürze eingestickt.

Während Julius Entenstreifen mit einem Gemüse namens Morning Glory kombinierte („Wächst nur in Thailand zwischen 5 und 6 Uhr abends“, erklärte Julius, was immer das bedeuten mag), erzählte er Ms. Columbo und mir von seinen 30 Jahren Küchenhopping quer durch die Republik.

Die in diesem nomadenhaft angelegten Beruf erforderliche Mobilität hielt Julius von jeder festen Bindung fern. „Ich bin Single!“, strahlte er mit der Grundzufriedenheit dessen, der nichts vermisst, so lange er tagein, tagaus Woks mit Morning Glory füllen kann.

Meine Anmeldung bei der Küchenparty bedeutete übrigens Pi mal Daumen 4000 Kalorien Unterschied. Denn eigentlich hatte mich Chris, der Schlächter, im Fitnessstudio erwartet (- 2000); stattdessen empfingen mich freudig Julius & Co. (+ 2000). Das Sushi, welches sie dort kreieren, ist, nebenbei bemerkt, nicht irgendeins, sondern circa das beste der Welt, wenn nicht von ganz St. Pauli – so weit einer wie ich das beurteilen kann, der in Japan noch keins gegessen hat.

Dazu servierten deutsche Winzer Kreszenzen von famoser Passgenauigkeit. Einer hielt gar edelsüße Köstlichkeiten bereit, deren Dessertkompatibilität natürlich unverzüglich getestet werden musste. „Für jede verpasste Trockenbeerenauslese“, ermunterte ich Ms. Columbo in Anlehnung an Harry Rowohlt, der das Ganze allerdings auf Kalauer gemünzt hatte, „wirst du dich nämlich dereinst vor deinem Schöpfer verantworten müssen.“ Immerhin brachte ich sie so zum Nippen.

Übrigens bin ich noch immer nicht in der Lage, mithilfe handelsüblicher Essstäbchen eine befriedigende Relation aus Essmengenzufuhr und Zeitaufwand zu erzielen. Das Sushi führe ich mir daher gerne manuell oder per Besteck zu – bei Gelegenheit auch unter Zuhilfenahme der hier abgebildeten Konstruktion, welche das East dankenswerterweise alternativ parat hielt.


Sie besteht aus zwei erfreulich breiten und verehrungswürdig flachen Stöckchen, die zudem auch noch am Schaft unter Spannung zusammengesteckt sind, so dass man sie bedienen kann wie eine strunzdumme Zange.

Und ehe jetzt irgendjemand glaubt, auf eine bestimmte Idee kommen zu müssen – lassen Sie sie stecken: Ich nenne diese Dinger nämlich selbst so. Deppenstäbchen.

22 Juni 2011

Die turnusmäßige Pannenbeichte



Neulich erzählte mir eine Bekannte, sie müsse dringend ein neues Fahrrad anschaffen, da ihr altes nach jahrelanger Nichtnutzung quasi im Herumstehen verrottet sei und nichts daran mehr funktioniere, weder Gangschaltung noch Bremsen.

Interessant, antwortete ich. Die entscheidende Frage sei aber doch, fuhr ich süffisant fort, warum sie ihr Fahrrad überhaupt dank jahrelanger Nichtnutzung der Verrottung anheimgegeben habe.

Weil ihr Vater, antwortete sie mit leiser Stimme und musste schwer schlucken, jahrelang im Koma gelegen und sie in jeder freien Minute mit dem Auto zum Krankenhaus am Rande der Stadt habe fahren müssen.

Nun gut: Eine solche Falltür kann man praktisch nicht erkennen, bevor man mit Karacho hineintappt, daher mache ich mir letztlich keinen Vorwurf. Und doch war mir das Ganze recht peinlich.

Immerhin bin ich in Übung, denn solche Sachen passieren mir öfter. Die Geschichte mit der schwangeren Bekannten im Winterparka etwa, die ich fragte, wann es denn so weit sei, woraufhin mir der bisher irgendwie unsichtbar danebenstehende Kindsvater vorwurfsvoll das Baby vors Gesicht hielt, ist altgedienten Mitlesern (also seit 2006) längst bekannt, die wärme ich hier also nicht mehr auf.

Eine weitere blieb allerdings bislang noch unerzählt. Sie spielt in einem Restaurant, ich wollte Smalltalk machen und fragte eine mit am Tisch sitzende Frau, die Krücken dabei hatte: „Oh, haben Sie sich verletzt?“ „Nein“, sagte sie, „ich habe nur ein Bein.“

Wenn ich mich recht entsinne, versuchte ich erst gar nicht, die Situation zu retten, sondern guckte hoffentlich einfach nur mitfühlend melancholisch. Vielleicht aber auch wie ein Stück Weißbrot.

Das alles erzähle ich eigentlich gar nicht, um mich mal wieder per Blogbeichte von den wichtigsten Pannen der vergangenen Monate reinzuwaschen, sondern vor allem, um dieses ziemlich neue Foto einer formidablen Fahrradleiche loszuwerden, womit auch der Bogen zum Anfang dieses Eintrages mit beiläufiger Eleganz geschlagen wäre.

Der Kadaver hängt übrigens unterm U-Bahnhof Rödingsmarkt rum, falls ihn jemand weiter fleddern möchte.

21 Juni 2011

Bilder aus dem Schwarzlichtviertel



Dieses Video zeigt Szenen aus St. Pauli, wohl von Mitte der 60er Jahre, wenn man Mode und Frisuren trauen darf; Cinema Noir hat mich dankenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht.

Ich war allerdings nicht vorbereitet auf die emotionale Wucht, mit der mich diese acht Minuten packen würden. Man sieht betrunkene Kiezbesucher und -bewohner, und es sind schreckliche, melancholische Bilder voller Lebensgier und Verzweiflung, unsagbar rührend in ihrem todtraurigen Witz. Das Rotlicht- als Schwarzlichtviertel, deprimierend schön gefilmt.

Wir sehen lauter Menschen, die sich nach Glück verzehren und nur eins finden: das Delirium. Die Musik von Andrew Bird passt perfekt dazu, doch sie legt auch einen dünnen distanzierenden Schleier über die Bilder. Erst die letzten stummen Minuten kaschieren nichts mehr, sie geben den Blick in den Abgrund frei.

Und er ist tief und bodenlos – und blickt in uns zurück.


20 Juni 2011

Die Neigung zur Axt



Immer, wenn ich in St. Pauli auf die Folgen einer der zahlreichen Straftaten stoße und in gedankenlosem, beiläufigen Automatismus einen Geschlechtsgenossen der Täterschaft verdächtige, ernte ich Kritik. Es könnte doch auch eine Frau gewesen sein, wird mir dann vorgehalten. Ja, ja. Ist es aber meistens nicht.


Bei dem hier dokumentierten Straftatenindiz
habe ich erneut den starken Verdacht, jemand habe der Menschheit als solcher, aber vor allem speziell meinem Geschlecht wenig Ehre gemacht. Denn das Tatwerkzeug wurde augenscheinlich mit großer Wucht geführt, was Frauen traditionell schwerer fällt, aus objektiven Gründen.

Wenn man das Loch in unserer Haustür, welches seit gestern Nacht klafft, genauer betrachtet, könnte der Täter mit einer Axt hantiert haben; eine Kugel war es jedenfalls nicht, denn das Loch hat die Form eines schmalen Schlitzes. Ausgehend von dieser erstaunlich zentral platzierten Lücke im Glas strahlen Risse in alle Richtungen durch die Scheibe. Wie erstarrte Blitze.

Rund um das Zentrum des maskulinen Hiebs ist die Haustür nach innen gewölbt, man könnte sie wahrscheinlich jetzt mit der Hand eindrücken und ihr so den Rest geben. Es muss einen gewaltigen Wumms gegeben haben, als der Irre zuschlug, doch wir haben nullkommanichts gehört. Das ist beunruhigend.

Unsere Hausfront bewirbt sich immer mal wieder erfolgreich um vandalistische Attacken, doch so geht es vielen in den Straßen rund um die Reeperbahn. Und das, ihr Lieben, die ihr erwägt, hier auf dem Kiez ein 740.000-Euro-Neubauloft zu erwerben, um einem sogenannten „neuen Wohnkult“ zu huldigen, senkt den Lebenswert auf St. Pauli erheblich. In einer verqueren Reaktion auf diese Entwicklung steigen komischerweise unablässig die Mieten, auch unsere, und zwar turnusmäßig bis zum gesetzlich möglichen Anschlag.

Wer sich darüber beklagt, bekommt von Hausverwaltungen und Eigentümern auch gerne mal gesagt: Dann ziehen Sie doch weg. Sozusagen das „Geh doch rüber“ des 21. Jahrhunderts.

Eine Entwicklung, bei der man übrigens fast die Neigung verspürt, sich an der Axt ausbilden zu lassen.

(Denkfalle, schon klar.)

18 Juni 2011

Kein Grund zum Sabbern



Wer angesichts dieses in der Großen Freiheit gefundenen Motivs schon mal vorsorglich duscht, weil er denkt, auf dem Kiez brächen gerade ganz bestimmte Preise Hartz-IV-freundlich ein, den muss ich enttäuschen.

Hier wird – dies als Tipp für Hamburgnovizen und Tagestouristen – lediglich jener berüchtigte Likör offeriert, der bereits vor vier Jahren erstmals in diesem Blog Erwähnung fand. Doch der Gag kommt von Zeit zu Zeit natürlich immer mal wieder gut, gerade als Auftakt zum Wochenende.

V
orsorgliches Duschen ist übrigens nie verkehrt.



17 Juni 2011

Betr.: Wir müssen uns beide das Leben leichter machen



Von
: Matt Wagner
Betreff: Wir müssen uns beide das Leben leichter machen
Datum: 17. Juni 2011 00:59:44 MESZ
An: xxxxxx@baufix24.de


Sehr geehrter Herr Schütt,

seit einigen Monaten besitze ich ein Postfach. Darin landet immer mal wieder eine unadressierte Sendung von Ihnen. Sie ist gerichtet „An die schlaue Geschäftsleitung oder die schlaue Assistentin der Geschäftsleitung“.

Nichts gegen Sie persönlich, verstehen Sie mich nicht falsch; aber mich stört es ungemein, in einem von mir bezahlten Postfach von Werbung behelligt zu werden, die zudem den verfügbaren Raum für persönliche Sendungen schmälert.

Lassen Sie mich ganz offen sprechen: Ich empfinde Ihre Wurfpost als Müll. Deshalb habe ich Sie bisher auch noch nie geöffnet, sondern immer gleich entsorgt. Aber ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich sie vorfinde. Ich ärgere mich über die Sinnlosigkeit des Ganzen: dass ein abhängig beschäftigter Postmensch Arbeits- und Lebenszeit darauf verschwendet, Papierumschläge in mein Postfach zu legen, woraufhin ich Arbeits- und Lebenszeit darauf verschwenden muss, sie wieder zu entsorgen. Könnten wir unser eh viel zu kurzes Leben nicht sinnvolleren Dingen widmen?

Jedenfalls ist Ihre Firma Baufix24 durch die geschilderten Umstände für mich zu einem roten Tuch geworden, auf das ich allmählich reagiere wie Zidane auf Materazzi. Selbst wenn ich irgendwann einmal erwogen hätte, mit Ihnen Geschäfte zu machen, so ist dies inzwischen außerhalb jeder Denkbarkeit.

Bei der Filiale, die mein Postfach beherbergt, habe ich mich jedenfalls bereits mehrfach bitterlich darüber beklagt, unadressierte Sendungen wie Ihre vorzufinden. Ich hoffte dadurch künftig von solchen Heimsuchungen verschont zu werden, doch denkste: Der zuständige Filialleiter gab sich äußerst hartleibig. Heute, bei der bisher letzten und, wie ich gestehen muss, am Rande der Sachlichkeit angesiedelten Diskussion, beschied er mir in barschem Ton zweierlei:

1. lasse sich die Post diesen Service von Leuten wie Ihnen teuer bezahlen und MÜSSE daher die Sendungen in die Fächer stopfen, und …

2. ich solle doch solche Umschläge wie Ihren einfach „in den Mülleimer werfen wie alle anderen auch“.

Darin stecken mehrere interessante Botschaften, die uns beiden nicht gefallen dürften. Die an mich lautet: Ich kann nichts dagegen tun, mein Fach zumüllen zu lassen, weil Sie die Post für eine Tätigkeit bezahlen, die „Dienstleistung“ zu nennen sich nicht nur mein Sprachempfinden sträubt.

Die Botschaft des unverblümten Filialleiters an Sie, verehrter Herr Schütt, ist allerdings noch deprimierender: Sie bezahlen teures Geld dafür, dass Ihre Drucksachen ungelesen in den Müll wandern.

Als ich weiter Unverständnis über diese Absurdität äußerte, drohte mir der Filialleiter sogar damit, mein Postfach zu kündigen. Nur weil ich keinen Müll darin vorfinden will, das muss man sich mal vorstellen!

Worauf ich mit all dem hinaus will, ist Folgendes: Ich möchte, dass wir beide, Sie und ich, uns gegenseitig das Leben leichter machen. Sie könnten viel, viel Geld sparen, wenn Sie diesen sinnlosen und geschäftsschädigenden Vertriebsweg der blinden Bestückung von Postfächern aufgäben. Und meine Tage wären erheblich heiterer, wenn es mir beim morgendlichen Postfachleeren erspart bliebe, Ihre Post „in den Mülleimer werfen zu müssen wie alle anderen auch“.

Denken Sie wenigstens einmal darüber nach? Das wäre großartig, ganz ernsthaft.

Ihrer Antwort harre ich bang, aber nicht ohne Hoffnung.

Mit freundlichen Grüßen
Matthias Wagner


PS: Ein abgeschwächtes Szenario, wovon allerdings nur ich etwas hätte, könnte so aussehen: Sie legen Ihrer Massensendung an meine Postfiliale ein Schreiben bei, das die Bestückung speziell meines Postfaches ausschlösse. Auch damit gäbe ich mich zufrieden. Doch am liebsten wäre mir, wenn wir beide als Sieger vom Platz gingen, glauben Sie mir.

PPS: Mein Konflikt mit der Filiale schwelt übrigens schon eine ganze Weile, wie Sie
diesem Blogeintrag entnehmen können.


Nachtrag 17.6.2011, 12:40 Uhr: Soeben bat mich der Filialleiter zu einem Gespräch ins Separée. Er beklagte Kommunikationsmängel meinerseits, gab sich aber sachlicher und kompromissbereiter als gestern – und stellte nun eine Lösung in Aussicht, die ich bereits mehrfach selbst vorgeschlagen hatte. Ich bezeichne sie einfach mal als Modell Klebezettel.

16 Juni 2011

Fundstücke (139)



Groupon ist auch nicht mehr das, was es mal war.


Fundstücke (138)



Diesen von Bitterkeit kontaminierten Vorwurf multipliziere ich hier gern, trotz bedenklicher Rechtschreibung. Am interessantesten ist ein Nebenaspekt: die fehlende Forderung nach Rückgabe.

Das zeugt – bei aller Empörung – von einem ungebrochenem Realitätssinn, der in dieser ausgeprägten Form wohl nur auf dem Kiez zu erwerben ist. Und zwar kostenlos.

Entdeckt an einem Bauzaun am Grünen Jäger, St. Pauli.

15 Juni 2011

Es schneit Styropor



Obwohl ich mich seit vielen Jahren redlich mühe, meine Nemesis, den
Franken, durch den Kakao (oder besser: die Bratensoße) zu ziehen, hat dieses Blog erstaunlicherweise auch geneigte Freunde in seiner Herkunftsregion gefunden. Zum Beispiel den schon oft durch so intelligente wie eloquente Kommentare aufgefallenen Herrn blogspargel.

Wahrscheinlich hat der Mann – obzwar aus Nürnberg – mit untypisch feinem Gespür erkannt, dass unter der scheinbar harten Realität des Frankendissens eine zarte, zerbrechliche Wahrheit glimmt: nämlich die der liebevollen Hommage an diesen eigensinnigen Volksstamm.

Jedenfalls ließ Herr blogspargel mir heute bereits zum wiederholten Mal ein Paket mit ausgewählten Frankenweinen zukommen, abgefüllt natürlich durchweg im Bocksbeutel, von dem die Sage geht, sein Aussehen und Name leite sich ab vom Hodensack des Ziegenbocks, doch dazu später mehr oder vielleicht auch nicht.

Nämlich nur auf den Inhalt (des Bocksbeutels!) kommt es an, und der ist oftmals vorzüglich, denn wenn der Franke eins beherrscht, so ist es das adäquate Abstellen körperlicher Mangelerscheinungen mittels Speis und Trank in Hülle und Fülle und gar nicht so selten auch mit erstaunlichem Niveau.

Als ich in der Küche blogspargels Weinkarton öffnete, sah ich zunächst nur haufenweise Styroporteilchen. Irgendeins davon löste allerdings plötzlich einen Niesreiz bei mir aus, und ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie ich auch schon in die Kiste nieste – mit erstaunlichem Effekt.


Eine ganze Legion kecker Styroporflocken nämlich stieg in Zeitlupe auf, als illustrierten die Macher von „Sex & the City“ eine winterlich-weihnachtliche Zweisamkeitsszene in den Straßen von New York, und dann sanken sie butterweich und unter Verspottung der Schwerkraft wieder nieder – auf die Anrichte, den Toaster, das Brotschneidebrett, den Boden, eigentlich überall hin.

Eine nur im ersten Moment verwunschene Szene, denn schon bald rutschte ich fluchend auf den Knien durch die Küche, um diese erstaunlich effiziente Styroporisierung unseres Wohnraums wieder rückgängig zu machen.


Vorm Niesen zur Unzeit kann ich also nur warnen. Die Gewogenheit der Franken indes ist bedingungslos zu empfehlen.


14 Juni 2011

Das wird ihm wohl (k)eine Lehre sein



„Aus dem Weg, bitte!“ Wir spazieren gerade gemütlich durchs Karoviertel Richtung Fernsehturm (Foto), als dieser nur mäßig abgemilderte Imperativ von hinten an uns herangetragen wird, und zwar von einer Kinderstimme.

Da wir uns auf dem Gehweg verlustigen, ignorieren wir unabgesprochen beide dieses nassforsch vorgebrachte Anliegen und drehen uns lediglich um. Wir erblicken einen Jungen von etwa 14 Jahren, dessen Größe und Körpermasse allerdings den Altersdurchschnitt deutlich übersteigt. Nein, mit einem designierten Marathonolympiasieger haben wir es hier nicht zu tun, das wird augenblicklich klar.

Der Junge sitzt auf einem Fahrrad, bremst aber nun, da seine freie Fahrt von zwei unwilligen Hindernissen versperrt ist, schlingernd ab, stellt die Füße auf den Boden – und ist baff, dass Ms. Columbo ohne Umschweife damit beginnt, ihm die Leviten zu lesen.

Er gehöre auf die Straße mit seinem Rad, sagt sie, das hier sei nämlich exklusiv ein Gehweg; zwar könne er grundsätzlich natürlich dennoch an uns vorbeifahren, doch da der Ton die Musik mache, habe er sich unsere diesbezügliche Kooperation erst einmal gründlich verbaut.

Ich steuere Argumente von ähnlicher Provenienz bei, was den Jungen vollends verdattert. „Aber ich habe doch bitte gesagt“, sagt er halb jammernd, halb vorwurfsvoll. Ich wende sinngemäß ein, dieser alibihafte Abschluss heile keineswegs den substanzlos herrischen Ton des vorgeschalteten Satzes, und in einem solchen Fall müsse er nun einmal gewärtig sein, dass weder dem Imperativ noch der Bitte spontan entsprochen werden könne.

Der Junge ist augenscheinlich ratlos, wie er an einem sonnigen Pfingstmontag im Karoviertel a) überhaupt in diese Situation hineingeraten konnte und b) wieder herausfinden soll. „Entschuldigung!“, sagt er daher sicherheitshalber, schaut aber immer noch, als sei er von zwei Aliens umzingelt, die ihn mit definitiv außerirdischen Vorwürfen bedrängen.

Und wahrscheinlich hat er sogar Recht.



12 Juni 2011

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli Hamburg (47)



Bei dieser heimeligen Ecke in den Altonaer Zeisehallen handelt es sich übrigens um genau jene, wo die angestammten Wohnungslosen am liebsten ihr Geschäft verrichten. Zum Glück bisher nur ihr kleines; unten rechts ist noch der Rest einer Fließspur zu sehen.

Würde sich das entscheidend ändern, wäre es zumindest einem inzwischen piepegal: Rocko.

Wer immer das war.

11 Juni 2011

Wie die Zeit vergeht



Habe morgens um viertel nach zehn einen Termin auf der Führerscheinstelle in Hammberbrook, weil ich endlich den grauen Lappen loswerden will, von dem mich seit Äonen ein fremder verpickelter Teenager anblickt.

Ich trudle 25 Minuten zu früh ein, weil ich ein Zwangscharakter bin wie das nun mal meine Art ist. Der lange Gang ist menschenleer. Er wird flankiert von ungefähr einem Dutzend Büros mit offenen Türen, hinter denen Beamte offenkundig nicht in Arbeit ersticken. Sie träumen von Pfingsten.

Ich bin der einzige Kunde und nehme auf einem der bereitgestellten Drahtstühle Platz. Ab und zu gongt es leise, wenn wieder mal eine Nummer dran wäre, die niemand je gezogen hat. Die Displayarmada über den Flurtüren sagt in Neonrot Sachen wie „305 Raum 107“ oder „308 Raum 103“ ins menschenleere Nichts des Flurs. Ich lese derweil Spiegel.

Bald tritt eine Beamtin aus ihrem Büro und fragt: „Haben Sie einen Termin?“ „Ja, um viertel nach zehn.“ Sie blickt hoch zur Fluruhr. „Na, das ist ja noch ein bisschen zu früh“, bedauert sie aufrichtig und geht zurück an ihren Schreibtisch, ohne Beschäftigung auch nur zu simulieren.

Nirgends klingeln Telefone. Ab und zu huscht jemand in gespielter Eile durch den Flur, doch es ist nie ein Kunde.

Einige Minuten später, es ist jetzt bereits zehn Uhr, betritt eine andere Beamtin den Gang und fragt die gleiche Frage wie ihre Kollegin von vorhin: „Haben Sie einen Termin?“ „Ja, um viertel nach zehn.“ Sie schaut auf die Uhr und sagt: „Das ist aber noch ein bisschen früh.“

Dann geht sie zurück ins Büro, wo sie sich vor ihren Monitor setzt. Die Finger legt sie auf der Tastatur ab, als wären es Gänsefedern. In leichtem Schlummer lassen sie tatenlos weiter die Zeit runterticken, Pfingsten entgegen.

Um sechs nach zehn, also neun Minuten vorm vereinbarten Termin, kommt die erste Beamtin erneut aus ihrem Büro. „Sie können reinkommen“, lächelt sie mir zu. „Ich glaube, das ist jetzt in Ordnung so.“

Um halb elf fahre ich zurück nach St. Pauli.
Zurück ins Leben.


PS: Das Foto zeigt ebenfalls einen menschenleeren Gang, aber nicht den der Führerscheinstelle, sondern den erheblich prunkvolleren der Galleria Große Bleichen. Das muss man mir bitte nachsehen.


10 Juni 2011

Im Visier der CIA oder dergleichen



Nein, nicht alles, was nach den festen Hinterlassenschaften des gemeinen Canis lupus familiaris aussieht, schmeckt so gut wie die Morcilla.

Dabei handelt es sich um eine spanische Blutwurst, welche uns heute Abend in der Weinbar St. Pauli warm kredenzt wurde. Dazu servierte Geschäftsführer Raphael einen vorzüglichen Rioja, denn die Veranstaltung firmierte völlig wahrheitsgemäß unter dem Namen „Wurst & Wein“.

Wir waren irgendwo in der Mitte der viergliedrigen Gangfolge, die später in der warmen Morcilla ihren Höhepunkt finden sollte, als plötzlich schon wieder Ina Finn vor mir stand. Erstmals sei sie heute in der Weinbar St. Pauli, erklärte sie, sie habe schon immer mal hier vorbeischauen wollen.

Und noch während sie sprach, wurde mir auf einmal alles klar.

Diese Frau nämlich ist zweifellos nichts anderes als eine zugegebenermaßen geschickt als Sommelière getarnte Geheimagentin, die aus bislang noch okkulten Gründen auf mich angesetzt ist – wahrscheinlich, weil ich immer mal wieder gegen die Gentrifizierung St. Paulis blogge oder die Gentrifizierung nicht ausreichend laut genug verdamme.

Ja, genau so ist es.

Vielleicht bin ich aber auch nur ein wenig übersensibilisiert, weil wir uns gerade eine Staffel nach der anderen von „Alias – Die Agentin“ reinziehen. Mit der üblichen Verspätung des nearly adopters natürlich.

09 Juni 2011

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort



Es gibt schon kuriose Zufälle. Da stöbere ich in der flohmarktweit wahrscheinlich einzigen Kiste mit sehr alten Weinflaschen, als ich ein „Hallo, Matthias!“ höre, aufblicke und wen vor mir stehen sehe?

Die ebenfalls über den Flohmarkt flanierende und hier schon mehrfach wohlwollend erwähnte Spitzensommelière Ina Finn.

Das ist so ähnlich, als brüte man gerade über der Abiarbeit im Hauptfach Physik, und plötzlich setzt sich Einstein neben dich und lässt dich abschreiben.

Na gut, ganz so bedeutsam ist das Durchwühlen einer Flohmarktkiste mit verstaubtem Wein aus den 70er Jahren natürlich nicht, aber trotzdem wiederhole ich mich gerne: Es gibt schon kuriose Zufälle.

Jedenfalls unterbricht Frau Finn ihre eigene Flohmarktflanage gern und beugt sich interessiert über die Kiste. Ich halte ihr eine um die andere Flasche hin und ernte von der Fachfrau durchweg bedauerndes Kopfschütteln. Petit Chablis von 1972? Vergiss es, bedeutet mir La Finn, hat höchstens fünf Jahre gehalten, ging also spätestens 1978 übern Jordan.

Zum Verdruss des muffeligen Händlers rät mir die gute Weinfee schließlich von sämtlichen Fundstücken ab – mit wundersamem Effekt: Ich verlasse den Flohmarkt reicher, als ich ihn betreten habe.

Zumindest gefühlt.

08 Juni 2011

Fundstücke (137)



Hans Albers in schlechter Gesellschaft.
Entdeckt vor Susis Showbar, Beatlesplatz/Ecke Große Freiheit.


07 Juni 2011

Sex unter Freunden

Es hat seine Vorteile, wenn man in der Recherchephase zu einem Reportagebuch über das erste Mal von der Autorin gefragt wird, ob man nicht jemand kennt, der sich befragen ließe.

Als Jutta vor vielen Monden damit um die Ecke kam, fielen mir sofort zwei geeignete Freunde ein – und nun kann endlich die ganze Welt nachlesen, wie es u. a. bei ihnen so war, dieses ominöse erste Mal. Natürlich hat Jutta sie anonymisiert, doch wer sie kennt, der … nun ja, kennt sie halt …

Mit dem Franken, der beide Jungs ebenfalls zum Freundeskreis zählt, stand ich heute im Büro vorm Kopierer und staunte über ihre Geschichten. Gut, wir beömmelten uns auch, wir kicherten und prusteten. Aber vor allem haben wir gestaunt.

Ab 15. Juni gibt es Juttas Buch – übrigens schon das dritte in dieser Reihe – überall zu kaufen, und hätte sie mir nicht schon ein Freundevermittlungsprovisionsexemplar zukommen lassen, ich würde es glatt vorbestellen.

Und zwar nicht nur wegen der beiden erstaunlichen Jungs (von denen ich mir das Buch signieren lassen sollte. Au ja!).


06 Juni 2011

Von klitzekleinen und etwas größeren Tierchen



Als treue Kunden des Gärtnerhofs Bienenbüttel finden wir es nur in engen Grenzen großartig, dass wohl ausgerechnet von dort die EHEC-Tierchen ihren Siegeszug durch Norddeutschland antraten.

Die Bienenbüttler Biosprossen gehören seit Jahren zur Stammzutat von Ms. Columbos formidablen Salatkreationen. Daher lausche ich seit den heutigen Neuigkeiten durchaus etwas aufmerksamer in mich hinein als gemeinhin üblich. Doch da tut sich wenig, Außergewöhnliches schon mal gar nicht.

Zurzeit fragen sich natürlich mal wieder alle reflexartig, was man denn noch essen könne, aber wir tun das nicht, sondern: Gibt es eigentlich in Hamburg ein Insektenrestaurant?

Gegrillte Maden, gesottene Heuschrecken, Ameisen mit Röstaromen – klingt doch interessant. Und so was wie EHEC käme zum Beispiel einer Vogelspinne mit Selbstachtung gar nicht erst nicht ins Nest.

Meine Recherchen nach einem entsprechenden kulinarischen Angebot hier in der Stadt blieben jedoch erfolglos. Ich stieß dabei allerdings auf einen ähnlich Interessierten, der so clever war, im vergangenen Dezember mal beim australischen Restaurant Down Under im Grindelviertel nach eventuellen Insektendelikatessen zu fragen.

Die Mailantwort war bemerkenswert pragmatisch und locker, in semantischer wie grammatischer Hinsicht:

„Hallo F.,

erstens: haben wir nicht, zweitens: ist auch grade Winter hier, also keine Insektensaison, drittens: keine Ahnung wer son Scheiss machen würde außer wir.

Also, du bringst die Insekten und wir frittieren dir die.“

Würden alle deutschen Unternehmen ihre Kunden so zuvorkommend behandeln, wären wir Weltmarktführer, und zwar in allem, Punkt.

PS: Das Foto zeigt Travemünde, einen Stadtteil der EHEC-Stadt Lübeck, wo wir heute einen tollen Tag am Strand verbrachten, wenngleich er mir einen gleich zweifachen Spann- und Schienbeinsonnenbrand mit auf den Weg zurück nach Hamburg gab.

05 Juni 2011

Fundstücke (136): Bitte nicht nachmachen!



Um 16 Uhr, nach dem einstündigen Kurs bei Chris, dem Schlächter, hörte ich buchstäblich die Englein singen. Das war zumindest meine Vermutung, als ich mich mit Ach und Krach in die Umkleidekabine geschleppt hatte, doch es war nur Jeff Buckleys „Hallelujah“, welches das Fitnessstudio gerade ins hauseigene Audiosystem einspielte.

Warum ich in meinem jämmerlichen Zustand danach überhaupt noch erwog, auf dem Heiligengeistfeld bei einer bizarren Veranstaltung namens „Rewe-Familientag“ vorbeizuschauen und diesen unsinnigen Gedanken sogar in die Tat umsetzte, wird wohl kein Mensch je herausfinden, doch einer könnte wenigstens davon profitieren: der, dessen vollbestückten Schlüsselbund ich an der Budapester Straße im Gras vorfand.

Der Audi-Anhänger ist natürlich nicht unpeinlich (ich meine: wenn schon, dann doch wohl Lamborghini), befördert allerdings zuverlässig die Wiedererkennbarkeit.

Also, lieber Familientagbesucher: Rewe hat dank meiner Ihre Schlüssel. Bitte nicht nachmachen!


03 Juni 2011

Pareidolie (6): Die Postfachwand

Das Witzige an diesem Bild, welches ich in ganz anderem Zusammenhang schon einmal verwendet habe, ist ja die Tatsache, dass mir erst jetzt die darin verborgene Pareidolie auffällt.

Die somit gut begründete effiziente Zweitverwertung ist dabei ein angenehmer Nebeneffekt, den man sich als grundsätzlich dem Faulenzen zugeneigter Blogger am Vatertag schon mal leisten kann, finde ich.

02 Juni 2011

Unclever und Smart



Mit den Worten „Weißt du, wo wir heute Mittag essen gehen?“ stürmt der Franke freudestrahlend mein Büro. „Bei den Due Baristi!“

Ich starre ihn mit einem Blick an, der von außen sicherlich dumpfe Verständnislosigkeit ausdrückt, doch noch ehe ich sagen kann: „Franke, bist du zu allem Überfluss jetzt auch noch geografisch völlig desorientiert? Die Due Baristi sitzen in Eimsbüttel!“, platzt er auch schon mit einer aus Frankensicht genialen Auflösung des Rätsels heraus.

„Wir fahren mit nem Smart von car2go!“, strahlt er so stolz, als hätte er gerade die Mettwurst erfunden, und schon stehen wir in der Bahrenfelder Straße und versuchen dieses idiotische Vorhaben in die Tat umzusetzen. Der Franke nämlich hat sich neulich bei diesem Projekt angemeldet, aber bisher noch keine Gelegenheit gehabt, es auszuprobieren.
car2go heißt: Überall in der Stadt stehen herrenlose Smarts herum, die man mit einer entsprechenden Chipkarte einfach entern, bewegen und irgendwo wieder herrenlos herumstehen lassen kann; bezahlen muss man lediglich die reine Fahrzeit, und zwar mit 29 Cent pro Minute.

Also auf zu den Due Baristi. Der Franke hält seinen Chip an die Scheibe. Allerdings muckt der Smart. Er behauptet via Display, er sei nicht frei. „Gibt’s doch nicht“, flucht der Franke, „wenn er hier herumsteht, muss er auch frei sein!“ Sagt zumindest die Theorie von
car2go. Die Alternative wäre ein Brecheisen, doch zum Glück steht nur zwölf Meter weiter schon der nächste.

Ich halte auf Anweisung des Franken mein iPhone bereit, um vorm Losfahren eventuelle Schäden an diesem Ei auf vier Rädern zu dokumentieren. Ist aber nichts, nur Vogeldreck. Diesmal ziert sich der Smart nicht, die Türen lassen sich öffnen, wir steigen ein. Anschnallen und los geht’s. Sollte es wenigstens.

„Nun gib schon deine PIN ein“, verlange ich mit Blick auf das entsprechende Display vom Franken, denn der Mittagspausencountdown tickt unerbittlich herunter, und die Due Baristi werden schließlich auch nicht gleich springen, nur weil zwei Irre aus Altona mit einem Smart vorfahren und ein schmackhaftes Mittagessen verlangen, aber pronto.

„Äh, welche PIN?“, staunt der Franke, „ach ja, die PIN … Wie war die noch mal?“

Ich starre ihn mit einem Blick an, der von außen sicherlich vorwurfsvollen Spott ausdrückt, doch noch ehe ich sagen kann: „Franke, bist du zu allem Überfluss jetzt auch noch kognitiv völlig desorientiert? Gib endlich hier auf diesem Monitorchen deine car2go-PIN ein!“, patscht er auch schon mit seinen Frankenpranken darauf herum.

Es kommt eine Fehlermeldung.

„Hm, wie war die PIN noch mal?“, sinniert er vor sich hin und startet schon den zweiten Versuch. Fehlermeldung. Auf dem Display steht: „Sie haben nur noch einen Versuch!“ Ich schnalle mich seufzend schon mal ab.

„Ich dachte, ich hätte …“, murmelt der Franke, „… oder habe ich das Geburtsdatum meiner Mutter … Wo könnte ich mir die PIN denn notiert haben … Online müsste ich die doch abrufen können … Oder stehen da nur Sternchen?“

So brabbelt er vor sich und mich hin, während ich mir mit leerem Blick das Treiben auf der Bahrenfelder Straße anschaue. Einen dritten Versuch traut der Franke sich nicht zu. Es ist ein wenig wie in diesen Actionfilmen, in denen sich Bruce Willis immer zwischen dem roten und dem blauen Draht entscheiden muss.

Man
kann in einem solchen Fall natürlich auch einfach weggehen. Wie wir. Und zwar zum asiatischen Bistro gegenüber.

Ich glaube, ich melde mich auch bei Car2go an. Scheint ja ein ganz sinniges Prinzip zu sein – sofern man seine Tassen noch alle im Schrank hat bzw. die PIN im Kopf.

Was ich mir zutraue.


Foto: car2go


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01 Juni 2011

Sehr anregend



Das Safari in der Großen Freiheit, nach Auskunft gewöhnlich gut informierter Kreise der letzte übriggebliebene Sexclub auf dem Kiez mit echtem GV auf der Bühne, wirbt in seinem Schaufenster mit einer Kunden-E-Mail.

„Sehr geehrte Damen und Herren“, hebt sie höflich an, „ich war gestern Abend mit meiner Frau im Safari. Es hat uns viel Spaß gemacht: wirklich eine tolle show, die uns Beiden später im Hotelzimmer viele Anregungen gegeben hat!“

Das Safari hat den Absender zwar versucht zu schwärzen, doch mit der richtigen frei im Web verfügbaren Fotobearbeitungs- und Spionagesoftware …

Aber lassen wir das. Interessiert doch keinen.



30 Mai 2011

Kauen, immer weiterkauen



Wer bisher – wie eingestandenermaßen ich – inniglich darauf setzte, der unerträgliche Anblick des schottischen Wrigleymonsters Sir Alex Ferguson (Manchester United, 69) erledige sich irgendwann auf biologische Weise gleichsam von selbst (nur wann bloß? WANN?), hat eins gewiss nicht bedacht:


Sein Nachfolger steht schon vorm Kaugummiautomaten, und verdammt: Er hat Kleingeld dabei.

Es ist der Rocksänger Liam Gallagher (Beady Eye, 38), der heute Abend in der hitzedampfenden Großen Freiheit zu meinem ästhetischen Missvergnügen nicht nur einen hochgeschlossenen Kapuzenanorak zur Schau stellte, sondern auch ein Alex-Ferguson-Gedächtnis-Kauen von selten blasierter Breitlippig- und Offenmäuligkeit.

Dass Herr Gallagher uns außerdem schon vorm ersten Stück wortlos kiefermahlend seinen Stinkefinger entgegenreckte, komplettierte die eindrucksvolle Visualisierung seines traditionellen Markenkerns, den er während seiner Zeit bei Oasis entwickelt hat und seither unverdrossen beibehält: der schnöselige Rüpel vom Dienst zu sein.

Klar: Wahrscheinlich ist Liam privat ein Charmeur mit schüchternstem Augenaufschlag, der verschämt herumdruckst, wenn er bei Frau Nachbarin nach einer Zwiebelknolle zu fragen hat; auf der Bühne aber setzt der böse Mann aus Manchester alles daran, bei unsereins blinde Aggression hervorzurufen.

Kurz bevor ich aufgrund dessen erwog, die Bühne zu stürmen, um Gallagher mit seinem eigenen Kaugummi gewaltsam sämtliche Karieskrater zu versiegeln, und zwar ein für alle mal, besann ich mich – und fotografierte zur Beruhigung draußen vor der Tür einige Stilleben, die jeweils ein so direktes wie schlichtes Ursache-Wirkung-Prinzip zum Thema haben.

Kurz: ein rundum gelungener Abend, für Liam wie für mich.

29 Mai 2011

Flyer müssen draußen bleiben



„Ja, bitte?“, sagte ich in die Gegensprechanlage, denn es hatte geklingelt. „Schönen Tag“, kam es juvenil beschwingt herauf, „würden Sie bitte aufmachen? Ich möchte bei Ihnen ein bisschen flyern!“

Ein bisschen flyern also. Ungeachtet meiner spontan aufflammenden Bewunderung für diesen sehr sinnig dem Englischen entwundenen Neologismus vermochte ich seinem Ansinnen keinesfalls zu entsprechen. Mit so etwas war der junge Mann bei mir nämlich genau an der richtigen Adresse.

Auf unserem zum Glück im Treppenhaus aufgehängten Briefkasten prangt ganz in Rot „KEINE Werbung und Prospekte – danke!“, wobei das „danke“ als zähneknirschende Konzession an zivile Umgangsformen erst auf den allerletzten Drücker mitaufgenommen worden war. Auf der Robinsonliste stehen Ms. Columbo und ich selbstverständlich auch, und als sich neulich in unser parallel betriebenes Postfach ein Pizzeriaflyer verirrt hatte, warf ich ihn dem Postfilialenangestellten auf den Tresen, begleitet von der rhetorischen Frage, was das solle.

Der Mann war erstaunt über meine Erbostheit und riet, den Wisch doch einfach wegzuwerfen, doch genau so etwas beschleunigt die Entropie und muss aufhören. Ich meine: Er macht sich die Arbeit, den Flyer hineinzulegen, und ich, ihn wegzuwerfen – darin liegt doch kein Sinn, höchstens für Postbedienstete (was ein betrübliches Licht auf das Anspruchsniveau ihrer restlichen Tätigkeiten würfe).

Jedenfalls weigerte er sich, mir zuzusichern, künftig keine unadressierte Werbung mehr in mein Postfach zu legen. Dazu, erklärte der ganz offensichtlich intellektuell fehlgeprägte Heini, müsse ich die zuständige Posthotline anrufen und dort eine entsprechende Weisung hinterlassen.

Diesen Weg, antwortete ich schneidend, könne man ja wohl sehr deutlich abkürzen, indem er einfach hier und jetzt diese Weisung von mir entgegennehme, statt auf eine Order der Zentrale zu warten, die ja auch nur den Kundenwillen – also meinen – an ihn weiterleiten würde. Eine Logik von geradezu kristalliner Unanfechtbarkeit, die zu diesem fleischgewordenen Denkbunker aber leider nicht vordrang; er beharrte auf den Weg der entropischen Beschleunigung, obwohl er mit Sicherheit noch nie von diesem Phänomen gehört hatte.

Schnaubend verließ ich die Filiale, wandte mich an die Hotline, die schnelle Abhilfe zusicherte und dies gar in einem devoten Schreiben noch einmal bestätigte – doch gestern lag wieder ein Pizzeriaflyer im Postfach. Ich betrat dampfend die Filiale auf der Suche nach meinem weisungsresistenten Flyerverteilungsautomaten, prallte jedoch an einer meterlangen Schlange ab. Die Hotline sicherte in beschwichtigenden Worten zu, „die Sache nun eine Stufe höher zu hängen“. Da bin ich aber mal gespannt.

Von all dem konnte der junge Mann, der gestern morgen bei uns flyern wollte, natürlich nichts wissen, und deshalb behandelte ich ihn auch nach den Maßgaben der Genfer Konvention. Nein, beschied ich ihm durch die Gegensprechanlage, ich würde es bevorzugen, nicht zu öffnen, da wir dem Flyern als solchem nur wenig abgewinnen könnten.

„Und Ihre Nachbarn?“, fragte er. „Die bestimmt auch nicht“, sagte ich. „Na, dann noch einen schönen Tag.“ Das wünschte ich ihm auch. Konfliktlösung auf höchstem Niveau.

Ob das am Ende auch für meinen Spezi bei der Postfiliale gelten wird, ist noch nicht raus. Oh nein.

27 Mai 2011

Weltuntergang in Hamburg! (na ja, fast)



„Um 14 Uhr gibt’s ein Gewitter!“, frohlockt der Franke, während wir mittags vorm Voltaire in der Friedensallee sitzen und uns den Lunch schmecken lassen. „Mit dreieinhalb Liter Regen auf den Quadratmeter! Sagt Kachelmann.“

Ich schaue hoch und sehe die blitzende Sonne durch die Blätter der Erle, Linde, Eibe oder was auch immer uns da ihre Blütenblätter ins Essen rieseln lässt. Ein tiefblauer Himmel komplettiert die Szenerie.

Ich rufe meine Weather-Pro.app auf, die nichts von dem verifiziert, was der Franke mir da gerade in Kachelmanns Namen vorgetragen hat. „Du immer mit deinem Kachelmann“, maule ich. Kachelmann ist des Franken Gott, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Mann zurzeit ein paar wetterferne Problemchen hat.

„Wart’s ab“, antwortet der Franke vorfreudig, während er aus EHEC-Trotz einen riesigen Salat verputzt (natürlich liegt auch ein Stück Bifteki drin, aber das muss ich Ihnen ja nicht mehr erzählen).

Um 14 Uhr sitzen wir längst wieder im Büro, und draußen knallt immer noch die Sonne. Der Franke ruft ein klitzekleines bisschen kleinlaut an und informiert mich darüber, dass Kachelmann nun seine Prognose korrigiert habe. Demzufolge schiene momentan draußen die Sonne. Eine interessante Information.

Gegen 15 Uhr klingelt wieder das Telefon. Der Franke, klar; nun aber wieder mit deutlich triumphalem Unterton. Denn er hat Neuigkeiten von Kachelmann. Das Gewitter, erklärt er aufgeregt, habe sein Guru nunmehr zeitlich nach hinten geschoben, auf 17 Uhr nämlich, und aus Verärgerung über seine (des Gewitters) Unzuverlässigkeit von heute Mittag auch gleich noch ordentlich bei der Regenmenge draufgepackt: jetzt viereinhalb Liter pro Quadratmeter.

„Ui“, sage ich gelangweilt. Meine Weather-Pro.app weiß noch immer nichts von einem Gewitter. Um 17.15 Uhr schaue ich raus. Es sind leichte Schleierwolken aufgezogen. Die Luft ist wunderbar warm und seidig, ich wickle mir die überflüssige Jacke um die Hüften und schwinge mich aufs Rad.

Der Franke meldete sich nicht mehr. Ebensowenig wie das Gewitter. Kachelmann ist wahrscheinlich momentan einfach nur unkonzentriert.


PS: Das Foto hat lediglich beispielhaften Charakter und zeigt ähnliche Wetterverhältnisse wie heute, nur an einem anderen Tag und ganz woanders.

26 Mai 2011

Pareidolie (5)



Die von Volkswagen konzipierte Mittelkonsole seiner Pkws glotzt uns an wie Darth Vader ohne Mundschutz, und ich würde mich auf George Lucas’ Lichtschwert stellen und diesen Satz wiederholen.

25 Mai 2011

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (46)



Die Zwillingstürme eingangs der Reeperbahn sollen irgendwann einmal tanzen, doch zurzeit wachsen sie nur.

Übrigens haben sie aus mehreren Perspektiven jeweils einen deutlichen Knick in der Optik, und das musste der Vollständigkeit halber hier auch mal dokumentiert werden.

Wir wohnen um die Ecke, und sollte hier ein Technikfex mitlesen, der vor Ort unsere neue Fritz!Box reibungslos in die DSL-Umgebung einklinken kann, dem ist nicht nur unsere ewige Dankbarkeit sicher, sondern auch ein angemessenes Honorar.

Zumal dann auch die ganzen abgedroschenen Wortspiele („Weh-LAN“, „WLAHM“) endlich aufhören würden in der Seilerstraße.

24 Mai 2011

Bob Dylan zum Klimaschutz auf Kiezianisch



Wie vergangene Woche bereits vorsorglich angedroht, behellige ich Sie nun erneut mit einem Hinweis auf die von mir konzipierte Sendung mit Bob-Dylan-Coverversionen auf Byte.fm.

Heute Mittag um 12 Uhr kann sie, wer will, im Internet hören – am einfachsten mithilfe eines Klicks auf den Player links in der Leiste.

Byte.fm hat anlässlich dieses Jubiläums natürlich noch viel mehr Sendungen im Programm; einen Überblick mit allen Terminen gibt es hier.

Das alles hat natürlich nur sehr partiell mit dem heutigen Foto zu tun. Es zeigt einen jungen St. Paulianer, welcher der gemeinhin sinnlosen Nachtbeleuchtung unserer Postfiliale gestern Abend einmal einen Sinn verlieh – indem er in ihrem heimelig gelben Schein sein Fahrrad reparierte.

„It ain’t no use in turnin’ on your light, babe“, hat Dylan dazu angemerkt, erstaunlicherweise schon 1963.

23 Mai 2011

Von der Artenvielfalt kiezianischer Schallquellen



Hubschrauberflüge sind doch, so weit ich weiß, sauteuer, oder etwa nicht?

Warum dann am Sonnabendnachmittag, also am Tag vor Hamburg-Marathon und Weltuntergang, ein Helikopter ungefähr zwei (!) Stunden lang den immergleichen infernalischen Kreis über dem Kiez zog, das wüssten wohl nur die Götter, sofern sie existierten. Vielleicht auch ein hohes Tier bei der Polizei, aber wir nicht. Irgendetwas sagt mir übrigens, dass diese zwei sauteuren Hubschrauberstunden aus Steuergeldern bezahlt wurden, aber natürlich habe ich dafür nicht den geringsten Beweis.

Am Sonntag dann, dem Tag nach Marathon und Apokalypse, besserte sich die Schalllage nur unwesentlich. Denn bereits frühmorgens riss uns laute Musik aus dem Schlaf der Gerechten. Die Nachbarn von gegenüber pumpten wattstark „Human“ von den Killers in den Hinterhof – eine geschmackvolle, wenngleich wenig gottgefällige Wahl für den ersten postapokalyptischen Sonntag aller Zeiten.

Sonisch abgerundet wurde das Wochenende
schließlich abends von den obligatorischen Sirenen mehrerer Peterwagen, die bei uns in die Straße einfielen. Ein vergleichsweise großes Polizeiaufgebot holte mit einfacher körperlicher Gewalt einen verwahrlosten Mann, dessen genaues Vergehen uns bis zum Schluss der Aktion nicht klar wurde, von der Baustelle nebenan.

Vielleicht hatte er ja das Schild „Betreten verboten“ ignoriert. Jedenfalls war der laut und lallend zeternde Mann verdreckt, volltrunken – und dennoch selbstbewusst genug, sich seiner Ingewahrsamnahme entschieden zu widersetzen.

Das bekam ihm nicht gut. Er geriet sekundenschnell in die Horizontale sowie einen gesetzlich legitimierten Schwitzkasten. Sein Allgemeinzustand besserte sich so natürlich nicht.

Nach diesem würdigen Wochenendabschluss wurde endlich alles ruhig in der Seilerstraße, und dieser Zustand pflegt zum Glück ja montags generell anzuhalten – es sei denn, die zuständige Instanz holt den Weltuntergang doch noch nach.

Dann würde ich mich aber noch mal melden.


22 Mai 2011

Pareidolie (4): Zugvogel



Das Pareidolievirus verbreitet sich unaufhaltsam. Jetzt hat es auch den armen T(o)mmy erwischt – und dieses Blog ist Schuld.

Ohne die kürzlich hier gestartete Pareidolieserie nämlich wäre ihm im ICE bestimmt nicht dieser großschnabelige Grinsevogel auf der Rückseite des Vordersitzes aufgefallen. Die fahren zu Tausenden durch Deutschland, tagein, tagaus, unablässig, und starren uns mit kleinen bösen Knopfaugen an, vor allem, wenn die ICEs mal wieder liegenbleiben.

Diesen Blick stundenlang ertragen zu müssen, ist allein eine Teilrückerstattung des Fahrpreises wert; ich halte moderate zehn Prozent für angemessen.

Antragsformulare gibt es beim Zugbegleiter.
Fragen Sie ruhig danach.

21 Mai 2011

Doch kein Kollateralschaden



Vielleicht war es ja die Strafe dafür, dass German Psycho in der Weinbar St. Pauli irgendwann versucht hatte, in Ermangelung eines selbstmitgebrachten Einstecktuchs Coooper Visuals iPhone (!) als solches zu missbrauchen.

Jedenfalls lief er auf dem Weg zur Reeperbahn frontal in einen heimtückisch ihm in den Weg springenden Metallpfosten, dessen oberes Ende etwa dort angesiedelt war, wo bei einem Mann von der Größe German Psychos gemeinhin ein durchaus wichtiges anatomisches Utensil beheimatet ist.

Sein Schrei jedenfalls gellte derart entsetzlich durch die linde Nacht, dass nicht nur wir uns höchst besorgt nach möglichen Kollateralschäden erkundigten, sondern auch völlig unbeteiligte Passanten. Und vor allem natürlich Cooper Visual.

Dass er in den Minuten danach mit Eunuchenstimme sprach, war indes nur geschauspielert, und genau diese Tatsache vermochte auch unsere ernste Sorge um die Reprodukionsfähigkeit des Geschädigten zu zerstreuen. Und vor allem natürlich die von Cooper Visual.

Wir landeten schließlich alle gesund und munter im Lehmitz, wo die Knackigkeit der Liveband aufs Entschiedenste korrespondierte mit der Merkwürdigkeit der Gäste, uns eingeschlossen.

Und damit meine ich unbedingt auch den abgebildeten Herrn.


19 Mai 2011

Pareidolie (3): Nein, nicht Bernd, das Brot



Diesen kapitalen Brocken Brot von rund 30 Zentimetern Höhe entdeckten wir heute in der Langnese Bar am Strandkai.

Er schaute uns derart grundzufrieden an, als hätte er gerade mit großem Behagen eine Melone verspeist, und zwar mit einem einzigen Happs.

Die Bedienung der Langnese Bar, die natürlich nicht wusste, dass ich nur aus pareidolischen Gründen ein Brotfoto machte, war sichtlich stolz auf diesen Trumm. „Und das ist nur die Hälfte!“, informierte sie uns begeistert. Von der anderen Hälfte aßen wir dann mehrere Scheiben, belegt mit Kichererbsencreme, Pistazienkernen und Kresse.

Ein also in jeder Hinsicht empfehlenswerter Laden, diese Langnese Bar (wo es natürlich auch Eis gibt, aber wem sag ich das).

18 Mai 2011

It ain’t him, babe



Ich weiß nicht mehr genau, wann ich damit begann, systematisch Coverversionen von Bob-Dylan-Songs zu sammeln. Ich weiß nur, dass es keineswegs an Vorbehalten gegen Dylans Stimme oder Gesangsstil lag, was viele Leute ja ins Feld führen, wenn sie begründen wollen, weshalb dieses oder jenes Cover angeblich „besser“ sei als das Original.

Nein, Dylan ist ein einmaliger Interpret seiner selbst und seine Stimme ein Wunder der Natur, von Anfang an. Mittlerweile erinnert sie zwar eher an die verkohlten Ruinen einer metallverarbeitenden Fabrik, aber auch das hat seine Reize. Jedenfalls lag es nicht im mindesten an einer Aversion gegen Dylan selbst, dass ich Covers zu sammeln begann, sondern an der puren Brillanz seiner Songs.

Stücke wie „Desolation Row“, „Wedding song“ oder „Don’t think twice“ sind so wunderbar komponiert, ihre Melodieführung so hinreißend, dass mir das Immerwiederhören der Originale irgendwann einfach nicht mehr reichte. Nein, meine Gier nach Varianten wurde im Lauf der Jahre immer größer – zumal man als Musikfan im Lauf seiner Sozialisation sowieso immer wieder mit verblüffenden Neu-, Um- und Ausdeutungen von Dylan-Songs konfrontiert wird. Van Morrisons dramatisch zwischen Verlustangst und Angstlust schwankendes „It’s all over now, Baby Blue“ wird jeder Mensch mit Geschmack irgendwann kennen- und liebenlernen, ob er nun 1940 geboren ist oder 1990.

Ich jedenfalls begann vor einigen Jahren systematisch damit, alle – alle! – Bearbeitungen von Dylan-Kompositionen zu sammeln. Zunächst schlachtete ich die eigene LP- und CD-Sammlung aus, parallel dazu recherchierte ich weitere Veröffentlichungen und schaufelte mir unzählige Coverblogs in den RSS-Reader (ich LIEBE das Internet!), um keine Interpretation zu verpassen, sei sie alt, abgelegen, scheußlich oder brandneu. Ich kaufte, kopierte, lud runter – kurz: Ich warf ein riesiges Dylan-Coversongs-Schleppnetz aus, und zwar mit durchaus passablem Erfolg. Denn das wäre ja das Schlimmste für einen Jäger und Sammler: dereinst den letzten, allerletzten Schatz gehoben zu haben.

Mein entsprechender iTunes-Ordner verzeichnet momentan jedenfalls nur rund fünf Prozent aller bekannten Covers. Das sind 1513 Stück mit einer Laufzeit von vier Tagen, fünf Stunden, 20 Minuten und 33 Sekunden. Darunter befinden sich epische Progrockversionen („All along the Watchtower“, Affinity), ranschmeißerische Anschmachter („He was a friend of mine“, Cat Power), wildestes Cowpunkgeprügel („Blowin' in the wind“, Me First & The Gimme Gimmes), japanischer Girliekitschpop („Mr. Tambourine Man“, Kumisolo) oder unfassbar grottige Poprockfassungen einer galizischen Amateurcombo namens 7 Ivvas.

So, das war die Einleitung. Denn was ich mit all dem sagen will, ist Folgendes: Am 24. Mai mittags um 12 Uhr laufen beim Internetsender Byte.fm eine Stunde lang abgelegene, skurrile, merkwürdige und keineswegs allgemein bekannte Dylan-Covers aus meiner Sammlung.

It ain’t him, babe, sozusagen – und dennoch sehr unterhaltsam. Oder gerade deswegen – zumindest für all jene, die aus mir völlig unverständlichen Gründen Dylans Stimme oder Stil nicht mögen. Mehr zur Sendung gibt es auf der Programmseite von Byte.fm – und natürlich werde ich Sie kommende Woche noch einmal mit einer kleinen Erinnerung an diese Sendung nerven; das haben Sie sich sicher schon gedacht.

Es gibt übrigens Fanatiker, die katalogisieren jedes einzelne gecoverte Stück, was für einen wie mich eine unschätzbar wertvolle Quelle ist, aber auch ein steter Quell der Qual. Denn natürlich sind die bereits über 30.000 verzeichneten Studioeinspielungen von Dylan-Songs niemals alle zu beschaffen, und das frustriert schon ein bisschen. Andererseits gibt diese Tatsache mir auch die beruhigende Gewissheit, dass die Suche immer weitergehen kann und wird.

Es gibt buchstäblich kein Genre, das es nicht gibt im Kosmos der Dylan-Covers, und jede einzelne Adaption beweist nur eins: wie inspirativ und befeuernd die Originalkomposition ist.



17 Mai 2011

Lieblingsorte (7): Kaiserkai, Hafencity



Man kann ja gegen die Legokastenoptik der Hafencity sagen, was man will …

… aber wenn man am Kaiserkai neben der Elbphilharmonie steht und – mit der Legokastenoptik im Rücken – den Blick nach Südwesten schweifen lässt, und wenn dann ein solcher Wolkenbatzen tonnenschwer am Himmel hängt wie vorgestern …

… dann ist das einer der schönsten Orte, an denen man sich in Hamburg aufhalten kann.

16 Mai 2011

Arme Schwarze unerwünscht



Manchmal wird die Bedeutung eines Satzes in ihrer ganzen Tragweite erst dann deutlich, wenn man ihn testweise mal in sein Gegenteil verkehrt.

„Ich möchte nicht zwischen lauter armen Schwarzen wohnen.“

Das und nichts anderes – nur halt umgekehrt – sagt Fernando D’Velez, ein (wahrscheinlich reicher) Boutiquenbesitzer und Promoter aus St. Pauli. Mit diesem ungeheuerlichen und ungeheuer gedankenlosen Satz wehrt er sich gegen die Neubebauung des Bernhard-Nocht-Quartiers.

Das entsprechende Plakat hängt überall im Viertel, zusammen mit anderen, ähnlichen Plakaten – von denen allerdings keins so unverhohlen rassistisch ist wie dieses. An dieser Tatsache ändern weder das charmant verschämt tuende Lachen von Herrn D’Velez noch seine irgendwie um Verzeihung bittenden Hände etwas.

Man kann wirklich viele Argumente finden gegen die Neubebauung des Bernhard-Nocht-Quartiers, gegen die Gentrifizierung unseres Stadtteils, gegen ständig neue leerstehende Büroglaskästen anstatt erschwinglicher Wohnungen.

Aber Menschen wegen ihres sozialen Status in Verbindung mit ihrer Hautfarbe vom Hierwohnen ausschließen zu wollen, ist kein gutes Argument. Ich persönlich möchte, ehrlich gesagt, sehr ungern neben und zwischen Leuten wie Herrn D’Velez wohnen, die mich vielleicht von einem Tag auf den anderen wegen meiner vornehmen Blässe für unerwünscht halten könnten.

Das Geheimnis von St. Pauli ist sein Mix. Hier leben Weiße, Schwarze, Braune, Gelbe, Rote und Olivia Jones. Sie sind reich, arm, obdachlos, Boutiqenbesitzer oder Promoter und manchmal (wie Herr D’Velez) auch beides auf einmal.

Das war immer (gut) so und muss auch so bleiben. Doch Plakate wie dieses kündigen das im Grunde auf, und das auch noch im Namen einer guten Sache.

Denn wer so etwas sagt, will nicht zwischen armen Schwarzen wohnen.
Auch wenn er zur Sicherheit das Gegenteil behauptet.