20 Dezember 2005

Der Dienstags-Deal

Das von Nietzsche stammende Motto des literarisch ambitionierten Blogs „Der Club der halbtoten Dichter" lautet: „Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.“

Das stimmt natürlich sehr, und auch das Gegenteil: Alle schlechten Dinge haben etwas Verkrampftes und stehen wie Rocker hinterm Tresen. Nicht weit von der abgebildeten Postfiliale in der Seilerstraße hat ein Schuster seinen Laden. Er ist tätowiert bis über beide Ohren, trägt Jeansjacke und Bandana, verströmt den Odeur der Harley-Davidson-Generation und hat sicher alle LPs von Steppenwolf im Schrank, aber noch nichts von sinnvollen Öffnungszeiten gehört.

Den Schuh, den ich ihm am Freitagnachmittag zum Reparieren vorbeibrachte, kann ich nämlich quasi gar nicht mehr zeitnah in meinen Besitz bringen. Ich arbeite (in Ottensen) von 9.30 bis 18.30, er hat geöffnet (in St. Pauli) von 10 bis 18 Uhr. Unsere Tagesabläufe sind völlig inkompatibel.

Weil mir das unbewusst war, hatte ich mich dummerweise auf sein Drängen hin verpflichtet, den Schuh heute abzuholen. Der Schuster war schon am Freitag recht muffig, weil ich nur einen Fünfziger dabei hatte und seinem Begehr nach Vorkasse (sechs Euro) nicht entsprechen konnte. Er grummelte, brummelte, sein Bart wackelte unwirsch, doch händigte er mir schließlich nach meiner Zusicherung, den Schuh ganz bestimmt am Dienstag abzuholen, einen blauen Abholzettel aus. Keine Ahnung, warum die Festlegung auf Dienstag für ihn eine Bedeutung hat wie die Roadmap für Palästina. Ich meine: Was will ich mit nur einem Schuh? Natürlich hole ich ihn wieder ab. Wenn nicht Dienstag, dann halt irgendwann.

Doch jetzt das: Ich brach den Dienstags-Deal!

In einer erklärenden und, wie ich finde, bewegenden E-Mail schilderte ich ihm heute den objektiven Grund dafür: die Inkompatibilität unserer Lebensabläufe. Doch ich erntete nur schmollendes Nichts. Was wird jetzt aus meinem Schuh? Wenigstens habe ich ab Donnerstag Urlaub, und wenn der Schuster ihn bis dahin nicht mit unwirsch wackelndem Bart und unter wütendem Abspielen von „Born to be wild“ rituell verbrannt hat, anstatt ihn zu kleben, dann gibt es eine Chance auf Rückgabe. Für sechs Euro.

Nein, besser: Ich schicke morgen Ms. Columbo vorbei; sie hat frei. Bin auf ihren Bericht gespannt.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Keep a light in the window“ von J W Alexander, „If I were a carpenter“ von The Four Tops und „Elle et moi“ von Max Berlin.


19 Dezember 2005

Die Fundstücke des Tages

1. Die Aboverwalterin der Zeitschrift Konkret hat im Impressum keinen Vornamen, sondern heißt „Frau Gullasch“.

2. Truman Capote wurde geboren als „Truman Streckfus Persons“.


3. Unter der Webadresse www.kingkong.de verbirgt sich eine Personalberatung. Sie vermittelt aber keine Affen. Zumindest keine echten.


4. Der Hamburger Bauer-Verlag will zehn Schlussredakteure entlassen, „um die Qualität der Hefte zu steigern“ (sic!). Das ist ungefähr so, als würde Horst Seehofer seine Gammelfleischkontrolleure feuern, um die Qualität von Schweinehack zu steigern. Dazu würde mich mal die Meinung von Frau Gullasch interessieren.


Da diese vier Fundstücke nicht legal illustrierbar sind, kann ich genausogut die Spielhalle in Ottensen abbilden, an der ich heute nach der Arbeit vorbeilief.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „True love“ von Ed Townsend, „I put a spell on you“ von Nina Simone und „Moonshiner (live at Gaslight 1962)“ von Bob Dylan.


18 Dezember 2005

Die Affen

Naomi Watts läuft die ganze Zeit durch „King Kong", als sei sie grenzdebil: mit halboffenem Mund. Klar, sie hat zwei schlagende physische Argumente, nämlich außerordentlich aparte Schneidezähne.

Aber warum zeigt sie uns sogar in jener Szene die Beißerchen, als Rieseninsekten ihr Tentakel in den Mund stecken? Vielleicht hat Regisseur Peter Jackson ihr gesagt: „Naomi, wenn du auch nur einmal in diesen drei Stunden den Mund zumachst, dann musst du mich heiraten.“


Am Ende des Films fällt der Riesengorilla, wie es seit 72 Jahren sein Schicksal ist, vom Empire State Building. Nach hunderten von Metern klatscht er auf den Asphalt – und ist doch kein Matsch. Der Film ist ab 12.


Im Ufakino am Gänsemarkt haben sie an den Seiten diese riesigen Leuchtröhren. Auf dem Foto schwebt eine davon in der Schwärze wie ein Raumschiff aus Kubricks „2001“. Auch das ein Film über Affen. So schließen sich Kreise, immer und überall.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Good times are back“ von TV Smith, „Washboard Lisa“ von Grayson Crapps und „Lover“ von Lilium.


17 Dezember 2005

Der Busfahrer (2)

Der Zwischenfall von vorgestern (ein Münchner Pendant dazu wird hier erzählt) hat eine Vorgeschichte, die ich erst jetzt, im Licht der aktuellen Ereignisse, richtig einstufen kann.

Vergangene Woche nämlich musste ich rennen, um an der Davidstraße den Bus noch zu erwischen. Er stand an der Haltestelle, als ich ihn erreichte. Doch die hintere Tür war zu. Ich betätigte den „Öffnen“-Knopf und nichts passierte. Noch mal drücken, nichts. Und plötzlich gibt der Fahrer Gas. Ich brülle irgendwas, das phonetisch an „Hey!“ erinnert und semantisch einen giftigen Mix aus Überraschung und Empörung ausdrücken soll.


Doch vergebens, weg ist er. Ärgerlich, aber solche Fahrer gibt es halt. Sie müssen offenbar mit einem nagenden Frust fertig werden, der ihr Leben vergiftet und sie von Zeit zu Zeit zu kleinen schäbigen Bösartigkeiten drängt.


Dachte ich zumindest. Doch dass auch diese Aktion mit der neuen Hamburger Regelung der Ticketpräsentation zusammenhing, ist mir erst jetzt aufgegangen. Wäre ich etwas sensibler gewesen, ich hätte schon vergangene Woche erahnt, was die Hochbahn mir durch die Schikane sagen wollte. Aber ich bin eben ein Holzklotz.


Die abgebildete Lampe hätte ich auch gern zu Hause stehen. Doch sie gehört der Geschäftsstelle der Aids-Hilfe in der Seilerstraße. Und sie steht dort gar nicht, sondern hängt von der Decke. Kleiner Drehtrick.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Bandy Bandy (feat. Erykah Badu)“ von Zap Mama, „Nighthawking“ von Tim Buckley und „Song #3“ von Marvin Gaye.


16 Dezember 2005

Der Schäuble

Heute hat sich die neue Bundesregierung in Gestalt von Innenminister Wolfgang Schäuble ausdrücklich vom Völkerrecht verabschiedet.

Zwar möchte er ungern, dass deutsche Beamte foltern, soviel muss klar sein. Aber wenn ausländische Beamte das sowieso bereits getan haben, dann kann man die Geständnisse doch auch verwerten. Wo sie ja schon mal da sind.

Ja, ja, der gute Christ aus Baden. Mal davon abgesehen, wie perfide sein Vorschlag ist und wie leichthändig sich der Mann damit von den Menschenrechten und den Grundprinzipien der Humanität verabschiedet: Weiß er denn
wirklich nicht, was von Geständnissen zu halten ist, die erfoltert wurden?

Mann, wenn man mit mir Ertrinken spielte, was nach Ansicht des guten texanischen Christen George W. Bush ja zu einem netten, legitimen Verhör dazugehört, dann würde ich
alles gestehen, auch die Ermordung Kennedys. Oder den kompletten 11. September.

Sogar das Attentat auf Schäuble.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The Postcard“ von Robbie Williams, „The world is a ghetto“ von War und „Druck“ von Richard Wahnfried.

15 Dezember 2005

Der Busfahrer

Nachdem ich die Zeisehallen (Foto) durchquert hatte, stellte ich mich an die Haltestelle Friedensallee. Bis zur Ankunft des Busses gab es noch keine Blog-Geschichte für heute. Wenig später schon.

Es begann damit, dass der Fahrer die hintere Tür nicht öffnete. Ich telefonierte gerade mit einem Freund und drückte gedankenverloren den Knopf, doch nichts geschah. Also hieß es nach vorne tapern, wo mich der Fahrer – ohne den Blick von der Straße zu wenden – mit den Worten begrüßte: „Statt telefonieren lieber Fahrkarte zeigen.“

Huch. Das war mir neu – und sein Tonfall vielleicht nicht hundertprozentig der Situation angemessen, denn immerhin sprach er mit einem Kunden, der mit einem nicht unerklecklichen Monatsbeitrag sein Gehalt finanzierte. Vielleicht hatte der gute Mann aber einfach diese Reflektionsebene noch nicht erreicht. Das sollte ihm allerdings auch im Lauf unserer Begegnung nicht mehr gelingen.

Bisher, wandte ich jedenfalls irritiert ein, habe man doch erst ab 21 Uhr die Karte zeigen müssen. Seit letzter Woche sei das eben anders, schnappte der Fahrer. Er schaute mich noch immer nicht an, sondern höchstens mal betont gelangweilt hoch zum Rückspiegel. Dabei gab es darin gar nichts zu sehen; immerhin konnte ja hinten keiner einsteigen, weil er die Tür nicht geöffnet hatte.

„Wo wurde diese Neuerung denn kommuniziert?“, fragte ich, nachdem ich meinem Freund gesagt hatte, ich riefe gleich zurück, derweil ich einhändig die Abokarte aus der Brieftasche fingerte. „In der BILD-Zeitung“, sagt er, „und im Hamburger Abendblatt.“

„Ich lese keine Springer-Zeitungen“, entgegnete ich dem Ignoranten recht giftig, obwohl ich manchmal doch in die eine oder andere reinluge, aber höchstens online. Zum Beispiel lese ich die Zitate im BILDblog (siehe links in der Blogroll), und die sind original Springer, nämlich allzu oft falsch, verdreht, verwechselt, dumm oder alles zusammen. Der Fahrer ratterte weitere Zeitungsnamen herunter.

„Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit“, demütigte ich ihn und zog mich in den hinteren Busteil zurück.
Als wir uns zehn Minuten später der Davidstraße näherten, stellte ich mich zum Aussteigen vor die hintere Tür. Und zu meinem nicht geringen Erstaunen prangte dort der übliche riesigrunde Aufkleber: „Ab 21 Uhr bitte Karte vorne beim Fahrer vorzeigen.“ Es war 18:20 Uhr.

Also ging ich nach vorn und fragte den Fahrer, warum denn dieser Aufkleber da hinten noch klebe und ob er ihn nicht vielleicht mal entfernen wolle angesichts der doch per Springer kommunizierten veränderten Zusteigepraxis. „Wenden Sie sich an die Hochbahn“, sagte er und schaute schon wieder sinnlos in den Rückspiegel, „ich mache gar nichts weg.“

Um es noch mal zusammenzufassen: In ihren eigenen Bussen fordert mich die Hochbahn zu etwas auf, das sie per BILD-Zeitung untersagt hat. Doch der Fahrer hört auf BILD.

Das ist Medienmacht.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „A few minutes after trancefer“ von Klaus Schulze, „Scarborough fair“ von Walter Parks & Alan Dynin und „A stream with bright fish“ von Brian Eno & Harold Budd.


14 Dezember 2005

Das Bürschchen

„Ich habe das Buch nicht gelesen, aber ich habe den Film gesehen.“ Dieser Satz ist geradezu Folklore: unter Kinokritikern. Erst heute habe ich ihn wieder gehört, am Rande der Pressevorstellung des Biopics „Capote". Reingehen bitte, ab 16. Februar.

Auf dem Weg ins Fitnessstudio passiere ich die abgebildeten Arkaden an der Ludwig-Erhard-Straße. Beim Bauchtraining liegt neben mir auf der Matte ein Bursche, der schwer von seiner Coolness überzeugt ist.

Alles an ihm ist geschniegelt und neu. Gel im frischfrisierten, von einem Band zurückgehaltenen Blondhaar, ein Bartstrich, der über Kiefernknochen und Kinn von einer Kotelette zur anderen huscht, als wollte er sich bei Bro'Sis bewerben. Futschneue Fila-Sneakers, blitzsaubere Adidas-Shorts, ein farblich darauf abgestimmter Knieschoner, den er wahrscheinlich bei einem Background-Tänzer in einem Madonna-Video entdeckt hat.

Alles perfekt also, wahrscheinlich war er vorm Training anderthalb Stunden bei Sport-Scheck. Aber beim Bauchtraining macht das Bürschchen nach zweieinhalb Minuten schlapp. Uff.

Es müsste ein Gesetz geben, das Anfänger darauf verpflichtete, in den ersten Trainingsstunden schäbige Lappen zu tragen. Im Lauf der Monate könnten sie sich dann hochcrunchen zu Markenklamotten. Eine große Koalition müsste das doch hinkriegen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Shadow blues“, „A shining lamp“ und „Snow camping“, alle von der unvergleichlichen
Laura Veirs. Wie sagt der Amerikaner? Dig it!

13 Dezember 2005

Der Media Markt

Wenn du dich mal allein und verlassen fühlen willst, geh in den Media Markt. Auf der Suche nach einem bestimmten, mir allerdings in seiner genauen Ausformung unbekannten Kabel irre ich durch die Gänge der Filiale am Bahnhof Altona (davor kann ich unbemerkt das abgebildete Beinfoto schießen).

Doch kein Verkäufer in Sicht. Ich bin desorientiert und hilflos. Allen anderen Kunden scheint es genauso zu gehen. Ratlosigkeit schwebt über uns wie eine große schwarze Wolke.
Ich finde schließlich die richtige Abteilung, sie liegt eine Etage höher.

Da, ein Verkäufer. Allerdings radebrecht er gerade ein Beratungsgespräch mit einem älteren Herrn auf Englisch. Ich warte. Und warte. Und warte. Es will kein Ende nehmen.


Ich entferne mich, um einen anderen Verkäufer zu finden. Das gelingt auch. Ich schildere das Problem, er sagt zu meiner spontan aufflammenden Freude: „Kommen Sie bitte mit“, was ich auch tue – und stehe plötzlich wieder vor dem Radebrecher. Ich fühle mich wie Sysyphos.

„Hier habe ich schon 20 Minuten aufs Ende seines Verkaufsgesprächs gewartet“, erkläre ich dem Hinbringer mit einem ersten Hauch von Frustration in der Stimme, „und ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.“
Nun, das war eine Fehlannahme. Er sei vollkommen unzuständig und habe nicht den Schimmer einer Ahnung von jener merkwürdigen Welt der Kabel, erklärt er sinngemäß und schulterzuckend im eiligen Weggehen.

Während ich also schon wieder aufs Ende dieses zähen Kauderwelschs warte, sehe ich, wie eine Dame, die bereits vorhin mit mir gemeinsam um den kabelkundigen Verkäufer buhlte, einen weiteren Media-Markt-Mann anspricht. Sein Schulterzucken kommt mir inzwischen bekannt vor, doch seine Antwort ist mir neu: „Nein, ich kann Ihnen nicht helfen, ich bin nur ein Praktikant.“ Sein Lächeln wirkt triumphierend, aber ich kann mich täuschen. Die Dame dampft ab. Durch ihre schwarze Wolke zucken Blitze.

Irgendwann ist es soweit. Ich kann den richtigen Mann ansprechen. Und er identifiziert sogar mein Kabel. Trotzdem gehe ich da nicht mehr hin. Ich bin doch nicht blöd.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Untitled 3“ von Calexico/TLS, „Appalachian spring “ von Yo-Yo Ma und „Promenade sentimentale“ von Vladimir Costa.


12 Dezember 2005

Das WM-Spiel

Wir wurden schon gestern Abend per SMS vorgewarnt: Im Büro sei die Heizung ausgefallen. Wir sollten uns besser warm anziehen. Um halb zehn heute morgen gingen sie also los, die allgemeinen Schal- und Wollsockenfestspiele.

Wie sich allerdings herausstellte, war die Heizung bereits über Nacht repariert worden. Ich versuchte dennoch spaßeshalber, mit Strickhandschuhen meinen Namen in die Tastatur zu hacken. Ergebnis: „Ma tg g hiysxc Wabvnef“.

Seit Freitag muss ich mich mit Spötteleien über mein WM-Spiel herumschlagen. Costa Rica gegen Ecuador, hmpff. Aber man muss das mal so sehen: Ecuadorianerinnen und Costaricanerinnen, mit denen ich unzweifelhaft die Tribüne teilen werde, wollen sicherlich nächsten Juni die abgetakelten Sambaschabracken aus Brasilien vergessen machen. Immerhin ist das ihre einzige Chance. Und wo geht das am allerallerbesten? Bei genau dieser Partie. Costa Rica gegen Ecuador. Und ich mittendrin.


So.


Abends bin ich zum Weihnachtsessen einer großen Plattenfirma eingeladen. Im Restaurant Abendmahl am Hein-Köllisch-Platz (wo ich die abgebildete Telefonzelle mit Baumkorona entdeckte) ist es höllisch laut, obwohl keine Musik spielt, nicht mal die der großen Plattenfirma. Dennoch weht ein denkwürdiger Dialogfetzen zu uns herüber, und er klingt, findet Herr Rammoser, wie in Stein gemeißelt:


„Das kannst du vergessen!”

„Ich denk gar nicht dran!“

Darauf muss man erst mal kommen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Knife in the table“ von Beef Terminal, „Deep lake“ von Film School und „FM delight“ von Klaus Schulze.


11 Dezember 2005

Das Knoblauchdesaster

Bin gerade während der Premiere-Bundesligakonferenz beim Kochen, als aus dem Wohnzimmer ein Moderatorenlärm ertönt, der mit der 1:0-Führung meines 1. FC Köln zusammenhängen könnte.

Ich stürme wie ein fideler Geißbock durch den Flur und finde zu meinem Entzücken den Höreindruck bestätigt. Euphorisiert betrachte ich das Tor aus allen Perspektiven und kehre beschwingt zurück in die Küche.


Hat schon mal jemand eine Pfanne mit verbranntem Knoblauch vorgefunden? Es sind sehr hässliche pechschwarze Flocken, die am Pfannenboden festkleben, weil das, was einst Olivenöl war, in einer thermodynamischen Reaktion zu einem nicht nur olfaktorisch eklen gelben Schmier verschmolzen ist.

Bremen gewinnt dann doch noch.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „World spins“ von Julee Cruise, „Acts of heroes“ von Washington und „Lobster“ von Red Snapper.

10 Dezember 2005

Der Besuch

In einem anderen Blog las ich unlängst, wie mulmig einem wird, wenn man direkt am Transenstrich in der Schmuckstraße wohnt und ein Elternbesuch ansteht. So ähnlich geht es mir dieses Wochenende.

Die beiden älteren Herrschaften kommen aus einem frommen hessischen Dörfchen und müssen jetzt zwischen Peepshows, Sexkinos und Betteljunkies hindurch slalomieren, um Sohn und Schwiegertochter in der Seilerstraße aufzusuchen.
Wir lotsen sie möglichst um die neuralgischen Punkte herum, führen sie sogar in die beruhigend weit vom Sündenpfuhl entfernte AOL-Arena (Westtribüne, Block 16c), um den HSV gegen Hertha siegen zu sehen.

Statt heißer Ohren auf dem Kiez holen sie sich also nur kalte Füße im Stadion an der Müllverbrennungsanlage. Und müssen hinterher feststellen, dass dort nach dem Spiel genauso viele Taxis herumstehen wie in ihrem kleinen frommen hessischen Dörfchen an der Hauptstraße: nämlich null. Weltstadt Hamburg.


Also muss ich mich mit Frau und Eltern bang in die rücksichtslose Menschenmasse stürzen, die in einen der Shuttle-Busse eindringen will – und zwar alle Mann gleichzeitig, sofort und ohne Rücksicht auf Verluste oder ältere Herrschaften. Meine Mutter entpuppt sich indes als robuste Ellbogenscharfschützin, ich remple, schiebe und stoße staunend hinter ihr her.


Abends gibt es Hirschgulasch.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Cosmic trigger“ von Axiom Ambient, „Flammende Herzen“ von Michael Rother und „Clue“ von Roedelius.


09 Dezember 2005

Die Weihnachtsfeier

Das Gute an Weihnachtsfeiern? Temporär freie Kost und Logis sowie viel Zeit für die üblichen dummen Witze, aber ohne dass Arbeit liegen bleibt.

Heute Abend sitzt fast die ganze Welt – na gut, rund eine Drittelmilliarde Menschen – vor den Fernsehern und verfolgt die WM-Auslosung, während das Kollegium sich an Fischsuppe, Ziegenkäse im Speckgürtel und Ente auf Rotkohl mit Polenta und Bohnengemüse laben darf.
Der präventiv eingerichtete SMS-Service von zu Hause liefert zunächst unbefriedigende Ergebnisse – „Heidi Klum hat breitere Schultern als Reinhold Beckmann“ ist zwar eine interessante Beobachtung, aber nicht gerade die Neuigkeit, nach der die Fußball-Aficionados am Tisch sehnlichst gieren. Ich muss telefonisch eine zielgenauere Informationspolitik anmahnen, was auch fruchtet.

In der ersten Auslosungsphase hatte ich ein Ticket für das WM-Spiel am 15. Juni in Hamburg ergattert, und gegen 22.30 Uhr ist dann endlich klar, welches es sein wird: Costa Rica gegen Ecuador. Dabeisein ist alles, argumentiere ich präventiv offensiv, muss aber ohnmächtig erleben, wie dieses Ergebnis die Spottlust der fröhlichen Zechrunde kräftig befeuert. Selbstbewusst verbuche ich das als blanken Neid und ordere trotzig einen Marc de Provence, eine Art französischen Grappa.

Irgendwann stehen mehrere Kollegen gestikulierend im Raum, während sie mit offenbar nur noch vegetativ gesteuerten Reflexen in beiden Händen Weingläser unterschiedlich kolorierten Inhalts ausbalancieren.

Es wird Zeit zu gehen, nicht ohne die spinnenartige Deckenlampe des Restaurants La Provence auf die SIM-Karte zu bannen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Love street“ von Nigel Kennedy, „Electric edwardians“ von In The Nursery und „Good times are back“ von TV Smith.


08 Dezember 2005

Der Umzug Israels

Der heute veröffentlichte Vorschlag des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad, Israel kurzerhand nach Deutschland zu verlegen, weil damit „das Kernproblem der Region“ gelöst sei, stieß bei mir auf spontane Gegenliebe. Zumal ich sofort eine Idee hatte, welche der „ein bis zwei Provinzen“ (Ahmadinedschad) wir dafür zur Verfügung stellen könnten. Also trabte ich vorfreudig zum Franken, doch der reagierte auf meinem Vorschlag recht muffig.

Auch mein Argument: „Dann haben wir endlich die Atombombe!“ wollte ihn in seiner Ablehnung nicht wankend machen. Selbst mein Ergänzungsangebot – Zurverfügungstellung der Provinzen Sachsen, meinetwegen auch Mecklenburg-Vorpommern – fruchtete nichts.

Dank Ahmadinedschad schlägt uns der Iran endlich auf der nach oben offenen Peinlichkeitsskala, deren Rekordmarke wir seit Bundespräsident Lübke („Meine Damen und Herren, liebe Neger“) und Kanzler Kohl („You can say you to me“) unangefochten inne hatten.

Einen solch denkwürdigen Tag sollte man kulinarisch beenden. Dabei half eine Einladung zum Showcase mit Dinner ins Café Lago, wo sie sehr schöne Bodenkacheln haben, wie man sieht. Durch die halb blickdichten Bastjalousien sahen wir die Elbe schimmern im Licht der Docks, während man u. a. Gänsekeulen auf Rotkohl servierte und ein italienischer Topten-Sänger uns mit einer Akustikversion von „Rhythm is a dancer“ überraschte.

Für einen schönen runden Abschluss dieses Tages sorgte schließlich die Enthüllung, dass der Italiener ein gebürtiger Israeli sei. Wir verbuchten ihn freudig als Vorhut im Sinne Ahmadinedschads.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Sally Ann“ von Natalie Merchant, „It takes a lot to laugh, it takes a train to cry“ von Jerry Garcia & Merle Saunders und „One“ von U2.


07 Dezember 2005

Die Frauennamen

Ach ja, Männergespräche in der Umkleidekabine … Heute im Fitnessstudio unterhielten sich zwei meiner Geschlechtsgenossen, natürlich über Frauen. Genauer gesagt: über eine bestimmte.

„Wie heißt die noch mal?“, fragt der eine.
Der andere: „Karina.“
„Wie?“
„Na, Karina. Wie die Damenbinden.“

Schon war die Sache klar, und das Gespräch konnte recht unfallfrei fortgeführt werden.


In einer „Seinfeld“-Folge hat Titelheld Jerry den Namen der Frau vergessen, mit der er ausgeht. Er weiß nur noch, dass ihr Name sich auf einen Teil der weiblichen Anatomie reimt. Am Ende ahnt sie seine Amnesie und stellt ihn ultimativ zur Rede. Seine Lage ist natürlich vollkommen verzweifelt und hoffnungslos, und er setzt kleinlaut alles auf eine Karte: „Mulva …?“

Sie hieß natürlich Uschi.

Der auf dem Foto vorbeihuschende Bus am Bahnhof Altona brachte mich übrigens nicht zum Fitnessstudio. Aber der nächste.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Mysterious ways“ von U2, „Feels like teen spirit“ von Makrosoft und „I'm never gonna sleep tonight“ von Asche & Spencer vom „Stay“-Soundtrack.


06 Dezember 2005

Die Suchabfragen

Es ist mmer wieder interessant, wie Leute über Suchmaschinen auf diesen Blog stoßen. In der Regel suchen sie bei Google nach Begriffen wie „Herbertstraße“, „Huren“, „Transen“ oder „Reeperbahn“. Doch zu ihrer Überraschung empfange ich sie hier mit launigen Bemerkungen über meinen Alltag, und sie müssen arg unbefriedigt wieder von dannen surfen.

Heute fand jemand den Weg hierher über die Suchabfrage „reeperbahn luden“. Er (ich bin sicher, dass es ein Er war) kam aus Bayern, und pikanterweise heißt sein Heimatörtchen (ich bin sicher, dass es ein Örtchen ist) ausgerechnet „Poppendorf“. Diese sinnige Kombination aus Suchbegriff und Herkunft ist bisher ungeschlagen. Ist ja noch weit besser, als würde ein Hamburger nach „McDonalds“ suchen.


Unglaublich viele Leute landen außerdem auf meiner Seite, nachdem sie nach „Zahnarztstuhl“ gegoogelt haben. „Zahnarztstuhl“? Anfangs erschien mir das seltsam, bis mir klar wurde, dass auch das wohl sexuell motiviert sein muss.


Es ist eine fremde und seltsame Welt.


Der abgebildete Table-Dance-Club auf der Reeperbahn ist hiermit jetzt auch erwähnt; mal sehen, wann der erste neugierige Moulin-Rouge-Googler aus St. Blasien hier vorbeischaut.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The passenger“ von Iggy Pop, „Sounds of silence“ von Simon & Garfunkel und „The killers“ von Motörhead.


05 Dezember 2005

Die Tanzhalle

Dass die Tanzhalle „Tanzhalle“ heißt, ist ungefähr so, als würde man die Londoner Royal Albert Hall „Engtanzschuppen“ nennen. Der Club ist echt klein, wahrscheinlich der kleinste auf dem Kiez.

Er liegt in der Silbersackstraße, und um von der Seilerstraße unbelästigt von einschlägigen Damen dorthin zu gelangen, muss ein Plan her.
Dazu gehört essentiell das Fahrrad. Aus mehreren Gründen: weil es a) nur mäßig regnet, b) schneller geht und c) die unterwegs trotz der Umgehungsroute eventuell lauernden Abfangjägerinnen es schwerer haben mit Opfern, die unterwegs sind wie der Blitz.

Ich radle also die Seilerstraße hinab, biege am Hamburger Berg links ein und dann rechts in die Reeperbahn, folge ihr bis zur S-Bahn-Station und überquere sie an der Fußgängerampel. Somit habe ich die hochneuralgischen Punkte Davidstraße und Hans-Albers-Platz, wo die Gefahr sich vielbeinig ballt, links liegen gelassen.

Jetzt kann ich ungestört die Silbersackstraße hochfahren, wo die Tanzhalle liegt.
Dort spielen heute Abend zwei Gitarren-Bands, Film School und The National, und wären sie schon größer und berühmter, würden sie höhnisch lachen über die Tanzhalle und sich lieber ums Ausschlürfen bretonischer Austern kümmern. So aber ist man als Zuschauer nirgends weiter als sechs, sieben Meter von den Musikern weg.

Das geht natürlich auf die Ohren; ich verkrümele mich daher ans hintere Ende des Raumes, wo zugleich der Tresen aufhört. Und dort auf der Anrichte entdecke ich dieses Arrangement aus Flasche, Spieß und grobem Zucker im Glas. Auch im größten Lärm ist eben Platz für ein Stilleben.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Neon lights“ von Kraftwerk, „This wheel's on fire“ von The Byrds und „In love with a view“ von Mojave 3.


04 Dezember 2005

Die Telefonbuchfrage

Gestern auf der Post unten an der Ecke, direkt gegenüber der legendären Kneipe Tippel II: Zwei Männer wollen ein Telefonbuch kaufen. Postangestellter: „Von A–K oder von L–Z?" 1. Mann zum 2. Mann: „Der schreibt sich doch mit I, oder?" Und zum Postmann: „Also das Buch mit I.“

Postmann läuft los (Er läuft immer. Er kann alles, nur nicht langsam.). Der zweite Mann hat inzwischen einen Zettel rausgekramt, stiert konzentriert darauf und sagt mit jener gewissen Langsamkeit, die auf ein Bildungsniveau deutlich unter Doktorgrad schließen lässt: „Nee, mit Ypsilon.“ Er hält dem Kumpel den Zettel hin: „Das ist doch ein Ypsilon?"


Der Postangestellte hat gute Ohren und eine sehr niedrige Genervtseintoleranz. Er stoppt und fragt mit jener zuschnappenden Geschwindigkeit, die auf ein Bildungsniveau von mindestens Abitur schließen lässt: „Also, was denn nun: von A–K oder von L–Z?" 1. Mann: „Ach, geben Se beide.“


Ich liebe St. Pauli.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Chosen one“ von Smog, „Steady as a rock“ von Deadbeat und „Are you goin with me“ von Pat Metheny.


03 Dezember 2005

Der Hackenporsche

Mensch, was hat sich für eine Menge Altglas in der Abstellkammer angesammelt! Also werden flaschenvolle Plastiktüten in den Hackenporsche verfrachtet, und los geht es zu den Containern an der Budapester Straße.

Es ist ein Weg mit Hindernissen, vor allem, weil gestern St. Pauli ein Heimspiel hatte. Überall auf den Gehwegen gilt es kleine Rotz- und Spuckpfützen zu umfahren. Zum Glück sind sie gefroren. Aber trotzdem.


Sie konkurrieren hart mit zahllosen Hundehaufen um die Hoheit über die Bürgersteige. Es ist ziemlich schwer, keine dieser Tretminen zu durchrollen. Doch ich will den Hackenporsche wieder mit in die Wohnung nehmen, also ist höchste Vorsicht und Fahrkunst vonnöten.


Es handelt sich übrigens schon um unser zweites Gefährt dieser Art. Das erste besaßen wir im Originalzustand nur rund 30 Minuten. Ich hatte es bei Wal-Mart gekauft und kurzerhand als Transportmittel für die restlichen Einkäufe eingesetzt. Ich zog das Ding also auf Jungfernfahrt Richtung Seilerstraße, doch kurz vorm Ziel touchierte es meinen rechten Fuß.

Kleine Ursache, große Wirkung. Es geriet nämlich daraufhin in eine sich unaufhaltsam aufschaukelnde Schlingerbewegung. Flieh- und Hebelkräfte wuchsen rapide an, wodurch sich der Trolley trotz aller Stabilisierungsversuche meiner Hand entwand und volle Lotte aufs Pflaster knallte.
Drin war unter anderem Buttermilch. Jetzt allerdings nicht mehr im Becher, sondern fein verteilt auf allen Einkäufen, mit denen das Gefährt beladen war.

Die meisten konnte ich zu Hause säubern, wenngleich es eine langwierige und von vielen gemurmelten Verwünschungen begleitete Fronarbeit war. Doch das Trolleyinnere selbst ganz und gar von Buttermilchresten zu befreien, erwies sich als unmöglich. Also stopfte ich ihn am gleichen Tag, an dem ich ihn gekauft hatte, in den Mülleimer.
Seitdem werden sämtliche Milchprodukte, Eier und andere verpackte Flüssigkeiten zuerst in eine Plastiktüte gesteckt und dann in den Trolley. Das hat sich schon mehrfach als sehr weise erwiesen. Denn Unfälle passieren mir immer noch, auch nach drei Jahren Fahrpraxis.

Abends Martha Wainwright im Grünspan, wo die Treppe nach oben trotz des Clubnamens in heimeliges Rot getunkt ist. Maue 50 Leute sind dabei, als
Wainwright ihren berühmten Songwriter-Vater Loudon in einer Zugabe liebevoll „Mother fucking asshole“ nennt. Jede Familie hat eben so ihre Probleme.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Time passes“ von Paul Weller, „Clifton in the rain“ von Al Stewart und „California rain“ von Ryan Adams.

02 Dezember 2005

Der Stadionbesuch

Nach längerer Zeit mal wieder im Millerntorstadion, wo der FC St. Pauli gegen Werder Bremen II antritt – leiderleider in der Regionalliga, man muss es eingestehen. Ich profitiere davon, dass einer aus Andreas' Dauerkartenclique verhindert ist, also springe ich kostenfrei ein.

Die Clique steht traditionell in der Gegengerade unten am Zaun, seit vielen Jahren. Von dort aus sieht man vor allem meterhoch aufragende Drahtgitter und Nachwuchsfans, die am Zaun hochklettern. Aber auf St. Pauli ist Fußballgucken selbst auch gar nicht so wichtig. Sondern das Gefühl, bei minus fünf Grad eine bescheuerte Leidenschaft mit 17 824 anderen zu teilen.

„Der größte Augenblick“, sagt Andreas, „ist der, wenn die Glocken läuten.“ Das passiert immer vorm Spiel, nämlich beim Auflaufen der Teams, und es sind die mächtigen Donnerglocken aus AC/DCs Song „Hell's bells“.


Doch heute gibt es weitere Höhepunkte: Zur Halbzeit führen wir 2:0. Plötzlich holen die Bremer blitzartig auf – 2:2. Das weckt St. Pauli aus der vorauseilenden Lethargie des sicheren Sieges. Das Team dreht auf, und beim bald folgenden 3:2 erweist es sich als besonderer Nachteil, unten am Zaun zu stehen, denn der Inhalt der aus den hinteren Reihen euphorisch weggeschleuderten Bierbecher landet vor allem hier, auf meiner neuen Land's-End-Squall-Jacke. Beim 4:2 sind dann zum Glück alle Becher schon leer.


Nach dem Sieg ziehen wir traditionell in die Domschänke. Die gesamte Gegengerade kommt offenbar auf die gleiche Idee. Es sieht bald so aus wie in der Kabine der Marx Brothers im Film „Die Marx Brothers auf hoher See“, aber alle sind beseelt vom Sieg und somit erfüllt von Toleranz und geradezu postkoitalem Gleichmut.

Die Domschänke könnte sich an Heimspieltagen goldene Zapfhähne verdienen, doch aus irgendeinem Grund hält sie das Bier lachhaft billig: 1,40 Euro die Flasche! Vielleicht würde ja ein Preis von 2,80 die Zahl der Gäste halbieren – vielleicht aber auch nur das Mobiliar gefährden.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Time passes“ von Paul Weller, „Clifton in the rain“ von Al Stewart und „Outta my head“ von M. Ward.

01 Dezember 2005

Der schwarze Riese

Auf der Reeperbahn gibt es einen neuen Discounter, einen Penny-Markt. Natürlich hat er sieben Tage die Woche geöffnet, sonst würde er hier ausgelacht.

Früher war in diesem Gebäude das Bayrisch-Zell untergebracht, eine auf hemdsärmelig und bierselig getrimmte Amüsierbrachialität mit weißblau gestrichener Fassade und ständig hervorbrechender „Oans, zwoa, gsuffa!“-Beschallung.


Als Koberer für diesen pseudo-urbayerischen Laden war ein schwarzer Riese tätig. Physiognomisch eine verblüffend treffsichere Mischung aus Gerald Asamoah und Roberto Blanco versah der Mann seinen Dienst mit verständlichem Missmut.

Sein von jeglichen Spuren der Hoffnung befreitetes „Wolle Se ma reinschaue?“ klingt mir noch recht gut im Ohr. Dazu schlenkerte der stets tadellos gekleidete Mann auf ungelenk herrische Weise den rechten Arm, was ich stets als einladende Geste deutete. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.


Was er wohl jetzt macht, wo das Bayrisch-Zell einem Penny-Markt weichen musste? Wie beurteilt die Agentur für Arbeit sein Qualifikationsprofil?


Abends beim Konzert von Elbow in der Fabrik entstand das Foto. Oben in der Bar entdeckte ich diese ruhige Ecke, während drumherum die Schallwellen Purzelbäume schlugen. Leider hatte ich meine Ohrstöpsel vergessen und musste ein Papiertaschentuch zerknüllen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Meeting across the river“ von Bruce Springsteen, „Heart of glass“ von Blondie im Justus-Köhncke-Remix und „Scene of the crime“ von Les Sybarites.


30 November 2005

Der Verdächtige

Am Bahnhof Altona sitze ich im 37er gegenüber der mittleren Tür, lese Spiegel und warte, dass der Bus abfährt. Mein Blick fällt auf einen Mann mit Bartschatten, der vor der Tür steht, obgleich noch Plätze frei sind. Er wirkt arabisch, trägt einen dicken Parka, Handschuhe und einen Rucksack auf dem Rücken. Er blickt unstet umher, und mir wird plötzlich unwohl. Was, wenn er … Ich höre auf zu lesen und überlege, ob ich aussteigen soll. Der nächste Bus fährt in zehn Minuten, und ich bin in Eile.

Soll ich? Quatsch! Oder doch?


Wir haben eine neue Kanzlerin, die noch einen braunen Hals hat von ihrem damaligen Besuch bei Irak-Krieger Bush, mit dem sie der deutschen Regierung in den Rücken fiel. Und im Irak wurde gestern eine deutsche Staatsbürgerin entführt. Kann es nicht sein, dass wir jetzt ebenso auf der Liste stehen wie England und Spanien?


Der Mann an der Tür schaut umher. Warum setzt er sich nicht? Sein Parka beult sich, der Rucksack ist prall. Ich bin wie versteinert. Die Türen flappen zu mit einem dumpfen Zischen, und der Bus fährt los. Die wahrscheinlich lächerliche Entscheidung, auszusteigen und auf den nächsten zu warten, ist mir abgenommen worden.

Der Spiegel liegt auf meinem Schoß. Ich beobachte den Mann, der sich jetzt umdreht und durch die Türscheiben in die Dunkelheit starrt. Sein Rucksack wölbt sich mir schwarz entgegen. Der Mann hält sich mit einer Hand an der Stange fest. Sein Körper schwankt im Zusammenspiel von Gravitation und Fliehkraft.


Wann würde es passieren? An einer Ampel? Wenn der Bus die Reeperbahn hochfährt? Vielleicht an der Haltestelle Davidstraße, wo die Sünde und Verderbtheit der westlichen Welt sich verdichtet zur grandiosen Verhöhnung seines Glaubens? Oder will er zur U-Bahn, in einen Tunnel, zum Hauptbahnhof?


Die nächste Haltestelle, Altonaer Poststraße. Der Bus stoppt, die Türen zischen auf. Der Mann steigt aus. Ich sehe, dass er ein steifes Bein hat. Er hätte sich gar nicht hinsetzen können, so eng, wie die Sitzreihen aneinander gebaut sind.


Ich bin beschämt und erleichtert. Abends im bretonischen Restaurant Ti Breizh in der historischen Deichstraße esse ich einen Schoko-Marzipan-Crêpe, für den Adam jederzeit den Garten Eden verlassen hätte. Über die Ost-West-Straße huschen die Lichter der Autos; und das würden sie auch, wenn abends irgendwo in der Stadt ein Bus explodiert wäre.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Two wrongs won't make things right“ von Tarnation, „Summer dress“ von Red House Painters und „Sight of you“ von Pale Saints.


29 November 2005

Das grelle Licht

Was vom Rade übrig blieb … Diese auf den Rahmen reduzierte Ruine fristet an der Kreuzung Rendsburger und Simon-von-Utrecht-Straße ihre Tage. Bianchi: gute Marke. Das Schloss scheint allerdings noch hochwertiger zu sein, sonst hätte der Fahrradteiledieb doch wohl das komplette Objekt seiner Begierde konfisziert.

Übrigens liegt dieses traurige Überbleibsel eines Fortbewegungsmittels in unmittelbarer Nähe eines Eckhauses, in dessen Souterrain eine Großfamilie gleichsam öffentlich lebt. Das weiß ich deshalb so genau, weil die Bewohner in der Regel auf jede Verschleierung ihres tagtäglichen Treibens verzichten.

Vorne, direkt an der zweispurigen Simon-von-Utrecht-Straße (Spitzname: „Stadtautobahn“), steht der Esstisch. Er ist meist reich gedeckt mit kleinen Schweinereien, und oftmals – eigentlich häufiger, als es die üblichen Essenszeiten nahelegen würden – sind an seinen Gestaden diverse Familienmitglieder traulich versammelt. Sie neigen übrigens alle nicht wenig zur Körperfülle.


Die Küche geht ohne Trennwand ins rückwärtig gelegene Wohnzimmer über, weshalb in der Regel mindestens ein dickes Kind auf die Couch gefläzt zu erleben ist, wo es mit Fernbedienungen herumhantiert. Dies alles sieht man unweigerlich im Vorübergehen.

Vor allem abends ist der Blick nahezu ungetrübt. Dann ist die ganze Pracht dieses geradezu holländischen Wohnkonzeptes in grellweißes Licht getaucht, von dessen Liebreiz auch türkische Kneipen und Bistros auf dem Kiez durchweg in den Bann geschlagen sind.

In diesen öffentlichen Treffs sitzen Männer – es sind immer Männer – beim Kartenspielen und Fußballgucken beisammen, und das schrille Licht der zahlreich anwesenden OP-Lampen bringt jedes einzelne ihrer üppigen Ohrhaare liebevoll zum Glänzen und Erglühen.

Ich wette, all diese Männer würden recht verunsichert herumdrucksen, wenn sie Gemütlichkeit definieren sollten.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Rialto“ von Laura Veirs, „Summer wine“ von Lee Hazlewood & Nancy Sinatra und „Deus ibi est“ von Isobel Campbell & Mark Lanegan.


28 November 2005

Der Blick ins Leere

Wir sahen den Hollywood-Thriller „Flightplan“ im Cinemaxx-Kino am Dammtor. Jodie Foster spielt eine traumatisierte Witwe, die den Sarg ihres Mannes von Berlin in die USA überführen will; und im Flugzeug geht ihr auch noch das einzige verloren, was ihr geblieben war: die kleine Tochter.

Kollege F., Hauptstadtfan und -kenner, monierte heute, es gebe gar keinen Direktflug von Berlin nach Amerika. Außerdem sei sogar mal kurz das Schild „Flughafen Leipzig“ zu sehen gewesen.


Was uns hingegen am meisten störte: Der komplette Plot steht und fällt damit, dass niemand an Bord das Mädchen bis zu seinem Verschwinden zu Gesicht bekommt – und der grotesk komplizierte Plan des perfiden Verbrecherduos
basiert genau auf dieser Unwahrscheinlichkeit.

Vielleicht ist es im Licht einer solchen Drehbuchschwäche auch gar nicht mehr so schlimm, auf Neufundland plötzlich FBI-Agenten herumturnen zu sehen. Na, denen würden die Kanadier im richtigen Leben aber was husten.


Auf der Berlinale 1989 habe ich Jodie Foster mal fotografiert. Damals wusste ich noch nichts von meiner beginnenden Kurzsichtigkeit. So etwas entwickelt sich ja schleichend, und als erstes bemerken es gewöhnlich die Freunde und Bekannten – und zwar daran, dass man sie im Kino von Monat zu Monat in weiter vorne liegende Reihen zerren möchte. Am Ende dieses schleichenden Prozesses stehen dann Selbsterkenntnis, verletzte Eitelkeit, Kassenbrille und schließlich der Triumph, im Kino wieder Logenkarten kaufen zu können.

Wie auch immer: Damals auf der Berlinale war ich noch längst nicht so weit, was man dem Bild leider deutlich ansieht. Doch Jodies versonnener Blick ins Leere, ihr Lauschen nach innen auf den kleinen Knopf im Ohr: Das ist noch da, das ist zeitlos schön.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Life and death in the afternoon“ von Jack, „Success“ von Iggy Pop und „Nearly motionless“ von Jeff Klein.


27 November 2005

Das ewige Teenie

Nena ist genau 48 Stunden jünger als ich. Als ich sie heute Abend auf der Bühne der Color Line Arena sah, schienen es mir drei Jahrzehnte.

Sie spielte das ewige Teenie. Graue Glitzerleggings, darüber ein fein funkelndes helles Minikleidchen, das zur Gänze sichtbar wurde, als sie ihr schwarzes Discolacklederjäckchen auszog. Das war beim dritten Stück, der unschuldig süßen Teenie-Anmache „Willst du mit mir gehn?“.

Ich bin zu alt für Nena, die nur 48 Stunden jünger ist als ich. Aber auch sie ist zu alt für diese Nena dort oben auf der Bühne der Color Line Arena.

Wir verlassen die Halle als erste. Draußen Ödnis. Eine Schlange gelangweilter Taxis steht herum. Einige Meter entfernt die pausierenden Shuttle-Busse, die stets die Arenamassen aus der Abgelegenheit Stellingens zurückkarren zur nächsten S-Bahn-Station, wo die Zivilisation andockt.

Ein Bus kommt, als wir uns an der sonst menschenleeren Haltestelle zeigen. Er fährt uns zur S-Bahn, uns ganz alleine. Ein elitäres Gefühl. Ich nehme mir vor, Jess Jochimsens Buch „ Flaschendrehen oder: Der Tag an dem ich Nena zersägte" zu lesen. Kriegt gute Kritiken, das Buch.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Vote Beeblebrox“ von Andy Dunlop & Neil Hannon, „Faded glamour“ von Animals That Swim und „Finding you“ von den Go-Betweens.


26 November 2005

Der Eigentumsschein

Ich marschiere bei Saturn in der Mönckebergstraße durch den Haupteingang, weil ich eine gestern gekaufte externe Festplatte umtauschen will. Eine Rolltreppe abwärts erreiche ich munter die zuständige Abteilung, wo ich meinen Wunsch vorbringe.

„Haben Sie einen Eigentumsschein?“, fragt mich der Saturnmensch. Keineswegs – was ist denn das? Nun, ein Nachweis, den man sich vor Betreten des Ladens holen muss und der einen als rechtmäßigen Eigentümer des eingeführten Gerätes ausweist.


Ich kann allerdings nur den Kassenzettel vorweisen. „Au, das ist schlecht“, ächzt der Mann. Er mustert mich mit einer Mischung aus Skepsis, Misstrauen und Mitgefühl. Dann führt er mich angespannt zur Information. Der Sicherheitsdienst wird gerufen. Wann ich denn das Haus betreten hätte und durch welchen Eingang. Vor fünf Minuten, Haupttor.

Es wird telefoniert. Der Überwachungszentrale werden meine Angaben geschildert. Das Security-Model bezeichnet mich als „Herr, der neben mir steht“, und erst in diesem Moment begreife ich, dass ich gefilmt werde. Immer noch. Denn natürlich auch schon beim Betreten des Geschäftes.


Jetzt muss Big Brother also die Aufzeichnung meines Entrees finden, man wird die Ausbeulung meiner Tragetasche vergleichen mit den Ausmaßen des Festplattenkartons. Und am Ende wird man beurteilen, ob meine Angaben korrekt sind oder ich einfach ein dilettantischer Tölpel bin, der mit Chuzpe und Kassenzettel versucht hat, den Megamarkt Saturn zu linken.

Ich könnte nach Abschluss der Untersuchung mit leeren Händen dastehen. Mir fällt der Matrose in B. Travens „Das Totenschiff“ ein, der seinen Pass verliert und damit gleichsam seine Existenz.


20 Minuten später kann ich die Festplatte umtauschen. Beim Hinausgehen sehe ich mich selbst auf einem Monitor, und ich versuche, unschuldig auszusehen. Auf der Stirn spüre ich einen hauchdünnen Schweißfilm.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Levitation Groove“ von Magic Sound Fabric, „River man“ von Brad Mehldau und „Groove“ von Sonica 2005 CELL.



25 November 2005

Die Herbertstraße

Der stürmische Wind treibt horizontale Schneeflockenschauer quer über die Reeperbahn, als ich mit einem Freund aus Hessen Richtung Fischmarkt rutsche.

Dort, im Metal-Schuppen Headbanger's Ballroom, spielt heute Abend TempEau, die Band von Jan Plewka und Marek Harloff. Direkt vor der Bühne: ein riesiger verspiegelter Pfeiler, der es einem unmöglich macht, die komplette Band zu sehen. Nur, wenn man sich vor den Trumm stellt, ist die Sicht ungetrübt – aber dann kann man dem Gitarristen fast schon das Plektrum klauen. Ein architektonisches Glanzstück.


Für Jan muss es ein bizarrer Trip gewesen sein von den einstigen Stadionkonzerten mit Selig vor 50.000 Zuschauern bis zum heutigen Abend, an dem sich vielleicht 50 kuttentragende Gestalten ins Headbanger's verirrt haben.

Und Marek (hier ein Foto aus einem Konzert in der Tanzhalle, weil ich blöderweise die Kamera vergessen hatte), der sonst Kinofilme dreht und umhegt wird von Set-Assistenten, trägt eine Plastitktüte mit Utensilien durch die Gegend, und am Ende darf er die Bühne selbst abräumen. Shit happens, aber die Jungs geben alles.
Hinterher erzählen sie davon, dass Stefan Raab sie für den Grand-Prix-Vorentscheid im Februar gebucht hat. Wir müssen alle grinsen. Das wird eine Schau!

Auf dem Rückweg gegen eins ist das Rotlichtviertel komplett weiß überzuckert. Die freilaufenden Huren verbergen widerwillig ihre Reize unter Skianzügen und dicken Fellstiefeln. Nur in der Herbertstraße nicht, weil sie dort in ihren kuscheligen Mottokabäuzchen sitzen. Sie klopfen von innen an die geschlossenen Scheiben, und man hört ihre Lockrufe gedämpft, wie durch Watte. Wenn ein Kunde stehenbleibt, öffnen sie ihre Fenster nur spaltweit – vor Hoffnungslosigkeit und Kälte.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Cowboys and angels“ von George Michael, „Autopsy“ von Fairport Convention und „Wiper“ von Amusement Parks On Fire.


24 November 2005

Der Hornby

Mein Freund, der sich unlängst wegen promisker S/M-Tendenzen von seiner Freundin trennte, erlebt gerade ein Happyend mit ihr: Er hat zu Versöhnungszwecken zwei Reitgerten gekauft (30 Euro).

Heute Abend las der britische Autor Nick Hornby im Knust, dazu spielte seine Lieblingsband Marah. Hornby, Verfasser von Geniestreichen wie „High Fidelity“ und „Fever Pitch“ und ebenfalls Autor leicht abfallender Werke wie „The long Way down“, lieferte eine ziemlich überraschende Erklärung für Nostalgie, und zwar eine mathematische.

Die Tatsache, dass uns die Vergangenheit immer besser erscheint als die Gegenwart, hat für ihn einen ganz simplen Grund: Es gibt einfach mehr davon. Sie hat Vorsprung, und zwar immensen. Dagegen kann die Gegenwart einfach nicht anstinken. Erst, wenn sie selbst zur Vergangenheit geworden ist. Und dann sieht es für die zukünftige Gegenwart wieder mies aus.


Wie man sieht, hatte der Abend auch etwas Philosophisches. Und Hornby eine wirklich phänomenale Glatze.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „How long“ von Zippy Wallace, „Tausendfach“ von Klee und „My sympathy“ von Bob Marley & The Wailers.


23 November 2005

Die kleine Geste

Ein Urlaubstag, sinnvoll genutzt zum mäandernden Einkaufen quer durch die Stadt. Bei Tchibo in der Mönckebergstraße habe ich 4,99 Euro zu zahlen, und als ich an der Kasse alles zusammenklaube, was in den Taschen herumfliegt, komme ich – man glaubt es kaum – auf exakt 4,98 Euro.

Nach Präsentation des Ergebnisses pausiere ich charmant lächelnd zwei Sekunden, um der Kassiererin Gelegenheit für die naheliegendste aller Entscheidungen zu geben: mir einen Cent zu erlassen. Sie lächelt zurück – und wartet. Also krame ich doch einen Schein raus.


Auf St. Pauli läuft das in der Regel etwas anders. In den kleinen türkischen Lebensmittelläden (und selbstverständlich auch in Renates Käse- und Weinladen) werden knappe krumme Beträge meist abgerundet. 8,02 Euro? Wortlos bekommt man auf einen Zehner zwei Münzen raus. Ich erwarte so etwas nicht, finde es aber zum Wiederkommen nett.

Aber vielleicht ist Tchibo einfach längst zu groß für kleine Gesten.


Danach geht's nach Altona, in die Beerenstraße. Sie zweigt ab von der Hamburger
Vierspurhölle namens Stresemannstraße, doch schon nach wenigen Metern erstirbt dort – in der Beerenstraße – alles Leben. Lagerhallenödnis macht sich breit.

Irgendwann auf der rechten Seite kommt dann das mediterrane Paradies: Andronaco heißt der riesige italienische Lebensmittelmarkt, und wenn ich mir ein Geschäft aussuchen müsste, in das man mich versehentlich über Nacht einschlösse, dann dieses.

Ich decke mich schwer ein mit Parmesan, Taleggio, Parmaschinken, Pasta, Amarettini und Espres
so, und draußen vorm Garten Eden erwartet mich wieder die bedrückende Industrietristesse der Beerenstraße, die ich ächzend fotografiere. Auch ein farbenfroher Fitzel Andronaco muss verewigt werden.

Im Bus schauen sie mich komisch an, weil aus meiner Umhängetasche ein Fünfkilosack Tortiglioni ragt. Ich schaue überlegen zurück.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lodi“ von Creedence Clearwater Revival, „Everything must change“ von Randy Crawford und „My brain“ von Young MC.

22 November 2005

Der Unfall

Erschreckend, wie leicht man Alltagsrollen wechselt und zugleich die Fähigkeit verliert, darüber zu reflektieren. Als Autofahrer erregst du dich über Radfahrer, die dir in der Einbahnstraße entgegenkommen, als Fußgänger nerven dich um Haaresbreite vorbeizischende Drahtesel, und als Radfahrer plagen dich VERDAMMT NOCH MAL BRÄSIGE FUSSGÄNGER, DIE BLIND AUF RADWEGE ZUSTOLPERN, OHNE AUCH NUR EINE SYNAPSE IHRES SPATZENHIRNS AUF DEN GEDANKEN ZU VERWENDEN, NACH LINKS UND RECHTS ZU SCHAUEN!

Zurzeit bin ich immer noch überwiegend Radfahrer, daher das Geschrei. Kleinen Kindern bringt man bei, sich sorgfältig umzusehen, bevor sie Wege oder Straßen betreten. Spätestens mit der Pubertät scheint diese nützliche zivilisatorische Fähigkeit wieder verloren zu gehen. Dabei hilft sie doch dabei, die eigenen Gene weiterzugeben. Merkwürdige Evolution.


Dumpf einherwankende Fußgänger sind für unsereins dennoch das kleinere Übel. Schlimmer sind (natürlich) Autos. Mich hat mal in der Louise-Schroeder-Straße eine Fahrerin auf die Kühlerhaube genommen, als sie den von mir gerade benutzten Radweg zeitgleich passieren wollte. Fahrrad und ich flogen auf die zweispurige Straße, ich fand mich etwa in der Mitte wieder, und als ich mich etwas verwirrt umschaute, sah ich in wenigen Metern Entfernung eine Phalanx von Autos gleichmütig an der roten Ampel stehen, bereit zum Losfahren.


Die Autofahrerin saß schreckensstarr in ihrem Wagen, neben mir lag die zerklumpte Drahtstahlgummiskulptur, die mal mein Rad gewesen war. Ich erhob mich vorsichtig und versuchte, innerlich irgendwelche immobile oder schmerzende Körperzonen zu sondieren, konnte aber nichts feststellen. Ich war komischerweise komplett unversehrt. Der Clark Kent von Hamburg.


„Keine Polizei!“, wimmerte die unter Schock stehende Fahrerin, die sich als Türkin erwies. Ich fand unter Verweis auf meine nicht beeinträchtigte Physis trostreiche Worte und schlug vor, sie möge mir doch das Rad unter Umgehung aller Instanzen einfach informell ersetzen, und die Sache sei erledigt. Ein Betrag von 125 Euro für das einige Monate zuvor fürs Doppelte erstandene Gefährt schien mir fair. Ihr auch – wobei sie wahrscheinlich zu allem Ja und Amen gesagt hätte, in ihrem Zustand.


Abends klingelte das Telefon. Sie war dran; ob wir nachverhandeln könnten. Im Hintergrund war die Stimme ihres Mannes zu hören, der Anweisungen und Gesprächstaktik soufflierte. Ich war zu verblüfft und zugleich amüsiert, um dem aufsteigenden Ärger Raum zu geben. So ließ ich mich um 25 Euro runterhandeln.


Irgendwann später wurde mir klar, dass ich den Radweg in die falsche Richtung befahren hatte. Aber sie hätte wirklich auch mal gucken können.

Das Foto zeigt übrigens, wo man im Bedarfsfall gut ein neues gebrauchtes Rad beschaffen könnte. Ist aber leider Amsterdam.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Touch me in the Morning“ von MFSB, „Be thankful for what you've got“ von William Devaughn und „Lichterloh“ vom Kammerflimmer Kollektiv.


21 November 2005

Die Trickbetrüger

Heute in der Tagesschau interviewten sie einen Experten zum Thema Computerviren, und wie hieß der Mann? Gernot Hacker. Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten.

Zum Beispiel auch die von einem Trickbetrug, der gestern am Hauptbahnhof stattfand. Zwei Männer zeigten einem Passanten schwarz eingefärbte Euroscheine und führten aus, nur mit Hilfe einer speziellen Tinktur plus einem Bündel sauberen Geldes seien die zu reinigen und somit zu retten. Es ist bewundernswert, dass die Ganoven bei diesem bescheuerten Vortrag nicht selbst ins Prusten kamen, aber der so Angesprochene fand die Story plausibel und übergab ihnen laut Polizei 60.000 Euro. Die er seither vermisst.


Mein Freund J. kennt einen, der mal auf einen deutlich simpler gestrickten Trick reinfiel. Der Betreffende zog sich gerade Geld am Haspa-Automaten in der Wohlwillstraße, als ein irgendwie ostasiatisch anmutender Mensch starren Blicks herantrat und ihn mit sonorer Stimme derart hypnotisch bemurmelte, dass der darob willenlos gewordene Geldabheber seine frisch gezogenen Scheine wortlos übergab - und auf Geheiß des Fremden gar für üppigen Nachschub sorgte.


Natürlich fasst man sich da an den Kopf. Wer fällt bloß auf so was rein? Andererseits gibt es ja auch Leute, die an Astrologie glauben. Oder an Homöopathie. Der Murmler jedenfalls konnte an jenem Tag gleich mehrere freiwillige Spender von seiner Bedürftigkeit überzeugen und verduftete am Ende mit einigen tausend Euro. Bleibt die Frage, ob so etwas überhaupt justiziabel ist. Bedroht hat der Mann seine Opfer ja nicht. Nur sonor bemurmelt.


Auch der Herr auf dem Foto scheint nach unserer Börse zu greifen, doch es ist nur Schiller, dem wir heute Abend neben dem Cinemaxx-Kino begegneten.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Deep blue day“ von Brian Eno, „Sunday morning“ von James und „Kansas City“ von Jimmy Sturr & His Orchestra mit Delbert McClinton.


20 November 2005

Der Friseur

Am U-Bahnhof Feldstraße gibt es den „U-Bahn-Friseur“. Er frisiert trotz seines Namens Menschen und keine Waggons. Einen Termin braucht man dort nicht, sondern stiefelt einfach rein, und wenn gerade Kunden behandelt werden, wartet man halt ein Viertelstündchen und liest den vorvorletzten Stern. Meistens aber sind Chef und Gehilfin allein im Laden, also kommt man gleich dran.

Ich bin genetisch bedingt sehr haararm und daher ein klasse Kunde, wie ich finde. Kriterium: Bitte einmal alles auf monotone zwei Millimeter, rundum und ausnahmslos. Zehn Minuten später bin ich durch, Chef sagt: „So, hätten wir’s mal wieder“, ich zahle einen Zehner, gebe einen Euro Trinkgeld, und das war's.

Neulich schor mich ausnahmsweise seine Gehilfin. Als sie fertig war, kam Chef extra aus dem Nebenraum, wo er pausierte, um es zu sagen: „So, hätten wir’s mal wieder“. Kleine Rituale des Alltags.


Doch die sind jetzt passé. Denn Kollege Kramer hat mich überredet, einen Clipper zu kaufen. Bei meiner Frisur, meint er, der selbst diese Frisur hat, könnte ich das schließlich auch selber. Und er hat Recht. Das Gerät wird sich nach sechsmal Scheren amortisiert haben. Ich muss mir nur noch angewöhnen, danach „So, hätten wir’s mal wieder“ zu murmeln.

Nicht weit entfernt vom „U-Bahn-Friseur“ liegt übrigens die Loungebar Mandalay, wo ich interessante Farb- und Formenspiele an Decken und Ecken ausgemacht habe. Voilà.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „I wish I would I would know how it feels to be free“ von John Fahey, „Somewhere in England in 1915“ von Al Stewart und „The ocean“ von Richard Hawley.


19 November 2005

Die Razzia

Vorgestern Abend gab es auf St. Pauli die angeblich größte Polizeiaktion aller Zeiten. Mit fast 700 Mann nahmen die Einsatzkräfte eine Zuhälterbande hoch. Der Boss wurde nur wenige Meter von uns entfernt verhaftet, im East-Hotel.

Aber das Dickste: Wir haben nichts davon mitgekriegt. Keine Sirene, keine Kommandos brüllenden Testosteronbomben, nicht mal quietschende Reifen. Irgendwie enttäuschend, diese Lautlosigkeit bei allem Organisationsaufwand. Im Tatort läuft das immer anders. Wir wissen jedenfalls alles nur aus der Zeitung.


Es ging übrigens nicht um Prostitution an sich. Die ist schließlich erlaubt hier im Viertel; unsere Polizeistation ist geografisch gesehen sogar eine Art Glucke für die Bordsteinschwalben. Groß und klinkerstolz steht sie da an der Davidstraße und schaut nachsichtig lächelnd dem brünstigen Treiben zu.

Doch wenn die eine Ludenbande der anderen aus Konkurrenzneid den Laden zerhackt und dabei gegnerische Ganoven absticht, dann versteht die Bullerei keinen Spaß mehr, oh nein. Dann setzen sich 700 Mann in Bewegung.
Zum Glück vorm Wochenende, so wurde der Betrieb nicht gestört.

Die gerade sich entwickelnde Hafencity ist von derlei Unbill übrigens noch gänzlich unbetroffen – was zugegebenermaßen ein recht holpriger Übergang ist, aber ich wollte halt gern dieses Foto unterbringen.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „So long“ von Sophie Zelmani, „Femme fatale“ von Gabor Szabo und „Frozen“ von Nils Petter Molvaer.


18 November 2005

Die vom Stern

Ich bin eine Orientierungskatastrophe, doch nehme ich dies möglichst stoisch hin. Regelmäßig verlaufe ich mich. Allerdings bleibt mein Selbstbewusstsein davon ungetrübt. Will sagen: Ich glaube meist, den Weg zu kennen, und vertrete diese Auffassung in Gesellschaft auch recht starrsinnig. Also sorge ich hie und da sogar für kollektives Verirren.  

Manchmal hat das aber durchaus positive Folgen – heute Abend etwa. Ich war mit dem Franken unterwegs zu einer Lesung, die im Magazin-Kino in Alsterdorf stattfinden sollte. Vom U-Bahnhof Lattenkamp aus sind es noch mal zehn Fußminuten – zumindest, wenn man die richtige Richtung einschlägt. Taten wir aber nicht, weil ich uns entschlossenen Schritts ins Nirgendwo führte. 

Wir mussten also irgendwann fragen und gerieten an einer unbelebten Schnellstraßenkreuzung an eine fidele Dame jenseits der 70, die uns wortreich den Weg zum Kino nach Fiefstücken schilderte. Binnen kurzem erfuhren wir zudem ihr halbes Leben, zum Beispiel, dass sie einst „die linke und die rechte Hand“ Henri Nannens gewesen sei, des legendären Stern-Chefs; ihr Name: Christiane Hundt. „Ich habe die Hitler-Tagebücher verbrochen!“, verriet sie augenzwinkernd Sensationelles, relativierte dies aber schließlich ein wenig zuungunsten des Reporters Gerd Heidemann, was sich ja auch mit der gerichtlich festgestellten historischen Wahrheit deckt.  

Die Dame war derart kregel und offenbar für heute Abend auch ungebunden, dass sie Hänsel und Gretel kurzerhand unter ihre Fittiche nahm und zielgenau zum Magazin-Kino leitete, wo sie – wie sie sagte – seit rund 65 Jahren nicht mehr eingekehrt sei. Erfreut von dieser interessanten Gesellschaft luden wir sie kurzerhand ein, uns zur Lesung zu begleiten. Ich schmuggelte sie auf Gästeliste rein, der Franke spendierte ihr einen Orangensaft. Und es wurde ein köstlicher Abend! 

Zwar kam die Gute unablässig vom Hölzchen aufs Stöckchen, doch wir schafften es zumindest temporär, sie mit geschickter Rhetorik zu den interessanten Geschichten zurückbugsieren. Heidemann zum Beispiel, der den Hitler-Coup damals gemeinsam mit dem Fälscher Konrad Kujau ausgeheckt hatte (vgl. auch „Schtonk!“), war damals, wie sie mit damenhafter hanseatischer Dezenz andeutete, ziemlich scharf auf sie, und sie ließ sich von ihm nach Hause einladen – allerdings nur aus kalter Berechnung: Sie spekulierte auf eine hochkarätige Mahlzeit. Indes gingen weder sein noch ihr Wunsch in Erfüllung. 

Dafür lernte sie Heidemanns Archivzimmer kennen: ein, wie sie erzählte, penibel sauberer Raum, der bis unter die Decke voll war mit Leitz-Ordnern übers Dritte Reich. Und stolz soll er sie über die Herkunft des Ringes an seiner linken Hand aufgeklärt haben – es war der von Heinrich Himmler. (Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum er sie nicht rumgekriegt hat.)  

Die Veranstaltung selbst – Gerhard Henschel las gemeinsam mit Fanny Müller, Günter Amendt und Frank Schulz aus dem Roman „Der dreizehnte Beatle“ – war übrigens auch ganz okay. Und sogar heimgefunden haben wir wieder, sogar relativ direkt.  

Update v. Dez. 2005: Über ihren Dankesbrief, der einige Zeit danach eintraf, habe ich mich sehr gefreut.




Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Sympathetic noose“ von Black Rebel Motorcycle Club, „Sorrel“ von Wishbone Ash und „Sparrow falls“ von Woven Hand.

17 November 2005

Die Elenden

Das abgebildete Pornokino schräg gegenüber von unserem Haus gibt es noch nicht lange. Dafür aber das direkt angrenzende Hotel Hanseat, ein Etablissement, das sich keine Mühe gibt, seine Heruntergekommenheit zu verhehlen.

Dort hausen – zunächst im fensterlosen Keller, nach einer Polizeiaktion aber jetzt im ersten Stock – eigens importierte Missgestalten aus Osteuropa, die täglich von Aufpassern zum Betteln auf Jungfernstieg und Mönckebergstraße geschickt werden.


Wir begegnen den Elenden häufig. Vor allem einem winzigen Bündel Mann ohne Beine. Laut Spiegel heißt er Dancio. Im 19. Jahrhundert hätte er im Horrorkabinett eines Jahrmarktes Besuchern den Atem geraubt, heute – tempora passata – wird er auf einer Art Skateboard von der Seilerstraße aus durch die Stadt geschleift, vor C&A oder Armani abgestellt und nach einem langen Betteltag wieder heimgeholt in die Seilerstraße.
Und wenn Dancio dann von seinem Wachhund ins Hanseat getragen wird – in den ersten Stock, nicht in den Keller –, dann schimmert seine Haut bläulich im kalten Licht des Pornokinos.

Ich frage mich, warum die Leuchtreklame nicht im kieztypischen Rot erstrahlt. Geht man wirklich, wenn man scharf ist, in einen blauen Laden? Die Betreiber sollten die Werbeagentur wechseln.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Albion“ von Babyshambles, „Hard to come back“ von Madrugada und „Rollercoaster“ von Red House Painters.


16 November 2005

Das grüne Leuchten

Okay, okay, meine Freunde kennen die Geschichte schon, aber die Welt noch nicht. Deshalb gibt es sie jetzt hier:

Eines Freitagsnachmittags kaufte ich im größten Supermarkt St. Paulis drei Doppelmatjes für ein Wochenendmahl und legte sie verpackt in den Kühlschrank. Am Sonntag holte ich sie heraus und drapierte sie auf einem Teller im Wohnzimmer, wo wir gemeinhin das Abendmahl zu uns nehmen. Nur weil es bereits dämmerte und ich auf Beleuchtung verzichtet hatte, fiel mir allerdings etwas sehr Merkwürdiges auf am Matjes: Er leuchtete.


Etwas irritiert verdunkelte ich das Zimmer ganz. Unglaublich: Der Matjes leuchtete. Und zwar in einem fahlen Grünton. Im Zimmer herrschte sogar matjesbedingt ein gespenstisches Schummerlicht; der Fisch spiegelte sich auf der Mattscheibe und in den Wohnzimmerfenstern.

Was in Neptuns Namen war das? Allmählich verblassendes Phosphor schied als Ursache aus, denn das Strahlen blieb unverändert. Was also konnte der Grund sein – Radioaktivität, Tschernobyl-Spätfolgen … ?
Wir waren beunruhigt. Und aßen natürlich den Fisch nicht, sondern verpackten ihn luftdicht, deponierten ihn im Kühlschrank und riefen am Montag das Gesundheitsamt an, um dem Geheimnis des grünen Leuchtens auf den Grund zu gehen.

Der Beamte wusste zunächst nicht weiter („Das habe ich ja noch nie gehört!"), versprach aber, sich bei einem Lebensmittelchemiker zu erkundigen. Der hatte dann die Erklärung: Für das Leuchten, sagte er, seien ganz klar Bakterien verantwortlich, die sich – statt unserer – am Matjes gütlich getan und vor lauter Essgenuss zu leuchten begonnen
hätten; das sei so ihre Art. Der Fisch, fuhr der Experte fort, sei wohl nicht mehr ganz frisch gewesen, als das Supercenter ihn mir verkauft hatte. Wäre er an unserer Stelle, würde er künftig auf Meergetier aus dieser Quelle dankend verzichten. Und zwar auf immer und ewig.

Diesem Ratschlag konnten wir uns nicht verschließen. Allerdings schien es mir sehr wichtig, dem Laden den ganzen Vorfall zu schildern. Mein entsprechendes Schreiben endete wie folgt: „Es reicht eben nicht, die ganze Belegschaft auf freundliches Lächeln zu trimmen. Die Ware sollte nebenbei auch noch ohne Gefahr für Leib und Leben genießbar sein. Wir zahlen übrigens gerne ein paar Groschen mehr, wenn das gewährleistet ist.“


Der Brief, gerichtet an die verursachende Filiale, blieb indes ohne jede Reaktion, wochenlang. Das verbitterte mich. Also machte ich die Bundeszentrale der Supermarktkette ausfindig und beklagte mich in recht deutlichen Worten über die Ignoranz der Dependance auf St. Pauli, nicht ohne meinen ursprünglichen Brief noch einmal zur Gänze einzufügen. Und siehe da: Nur zwei Tage später schellte das Telefon. Der hiesige Filialleiter war dran. Er war zuckersüß. Ich hätte da einen Brief geschrieben über einen leuchtenden Matjes, das Schreiben sei leider am Infostand steckengeblieben und verspätet weitergeleitet worden, und das sei natürlich alles ganz furchtbar, und ob ich nicht mal vorbeikommen wolle, um den Fall zu bereden und eine entsprechende Entschädigung in Empfang zu nehmen, die dazu dienen könnte, mich dem Supercenter weiterhin als Kunden zu erhalten.

Nun, warum nicht. Der Filialleiter empfing mich seufzend, beklagte sein Los. Die Kunden, hub er an, seien auch nicht immer Engel. Abend für Abend fingerten er und seine Untergebenen Wiener Schnitzel hinter Heizungen hervor und Emmentaler aus dem Chipsregal. Schön und gut, wandte ich ein, aber der Matjes …? Ja, das sei eine ganz dumme Sache, seufzte er, und sie würden natürlich den Lieferanten wechseln, auf jeden Fall.
Am Ende, nachdem er mir ausgiebig sein Herz ausgeschüttet hatte, bot er mir zwecks Reparation eine Flasche Schaumwein an, und ich entschied mich generös für einen recht passablen Rieslingsekt.

Kurz danach löste das Supercenter seine Frischfischtheke komplett auf. Seitdem gibt es dort Maritimes nur noch vakuumverpackt im Kühlregal. Dennoch beziehen wir unsere Matjes inzwischen aus anderen Quellen.

Und immer, wenn ich zu Hause
einen auspacke, lösche ich zur Sicherheit das Licht und starre angestrengt ins Dunkel. Doch nie mehr habe ich es gesehen seither, das grüne Leuchten.

Das Foto zeigt keinen Fisch, sondern unseren sardischen Glasdelfin. Ich habe ihn trotzdem in grünes Licht getunkt.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Like a hurricane“ von Neil Young, „Papilla honeymoon“ von Naked Lunch und „Sinfonie Nr. 6 (Pastorale)“ von Ludwig van Beethoven.


15 November 2005

Der Zahnarztstuhl

Heute war wirklich Post im Briefkasten. Unfassbar.

Gestern beim Zahnarzt. Die Helferin trägt Mundschutz (weshalb ich nicht beurteilen kann, ob sie eventuell aussieht wie
Scarlet Johansson), sie führt mich ins Behandlungszimmer; der Doktor komme gleich.

An der Wand hängt ein geometrisch anmutendes Motiv mit Segelschiffen in Primärfarben, die Lüftung summt sonor, ich liege im Behandlungsstuhl ohne Außenreize, schließe die Augen und merke, dass man dieser Art hermetischer Ruhe viel zu selten gütig zulächeln kann im brodelnden Hamburg.

Ich schrecke hoch, als der Zahnarzt reinkommt, gestehe ihm, beinahe weggedämmert zu sein im Kokon dieses Zimmers, er lächelt und sagt: „Schön, dass Sie so entspannt sind.“ Na, das hat sich dann geändert.

Zwischen Reeperbahn und Spielbudenplatz klafft zurzeit eine riesige Erdwunde, und als ich heute Abend aus dem Büro kam, nahm ich die Schneise fotografisch ins Visier, mit dem Vollmond als stoischem Chefbeleuchter.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „4th time around“ von Bob Dylan, „Grandiose“ von The Church und „I fought the lawn“ von The Ziggens.


14 November 2005

Die Hotline

Hatte heute ein hochmerkwürdiges Erlebnis mit einer Hotline. Seit Tagen erhalten wir keine Briefe mehr zugestellt, als wären wir aus der Welt. Die beunruhigend naheliegende Erklärung – von uns will eben keiner mehr was – wurde durch die Tatsache widerlegt, dass auch die montägliche Lieferung des SPIEGEL ausblieb.

Und jetzt zum hochmerkwürdigen Erlebnis. Ich rufe also beim Kundenservice der Deutschen Post an, nach zwei Sekunden nimmt ein sich namentlich vorstellender Herr mit leicht bayerischem Zungenschlag ab, ich schildere ihm mein Anliegen, er nimmt alles auf inklusive zweier Telefonnummern, unter denen er mich bei eventuell nötigen Rückfragen erreichen kann, und verspricht sodann der zuständigen Poststelle in Hamburg Dampf zu machen, aber richtig. Dann verabschiedet er sich herzlich.


Ich bleibe baff zurück und starre den Apparat an. War das wirklich eine Hotline? Hochmerkwürdig. Wo ist der Haken? War das ein kurzer Switch in ein Paralleluniversum, in dem Hotlines eine vollkommen andere Funktion haben als in unserer Welt, nämlich ANRUFERN WEITERZUHELFEN?


Sollte morgen wieder Post im Kasten sein, das wäre gruselig. Ich würde mich fühlen wie in der Twilight Zone.

Derweil läuft das Vergnügungsfestival namens Dom auf dem Heiliggeistfeld weiter, als sei die Welt noch die gleiche. Das Riesenrad auf dem Foto spiegelt sich im Fenster des Sushi-Restaurants am Millerntorplatz.


Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The sicilian clan“ von Friends Of Dean Martinez, „Think of all“ von Bill Janovitz und „[If there's] no hope for us“ von Arab Strap.


13 November 2005

Die skurrilen Ortsnamen

Den Hamburgern kommt das wahrscheinlich alles total normal vor, aber ein Zugereister muss hie und da immer noch schmunzeln über hiesige Ortsbezeichnungen.

Da gibt es zum Beispiel die kulinarisch konnotierten Fleischgaffel oder Büchsenschinken, wir haben das grinsende Witzhave, ein recht überheblich klingendes Königreich, das brutale Schäferdresch, ein derbes Poppenbüttel oder das an einen Putzfrauenjob gemahnende Eichwischen.


Überhaupt: Ortsbezeichnungen. Die komplette menschliche Anatomie ist mithilfe deutscher Dorf- und Städtenamen bereisbar. Hier der Beweis (alles reale Namen!), von oben nach unten, von Nord nach Süd:

- Haar - Biedenkopf - Augsburg - Nasingen - Lippstadt - Dortmund - Rochzahn - Kinnbackenhagen - Barthmühle - Kehlheim - Halstenbek - Armstedt - Katzenelnbogen - Handewitt - Wülfingerode - Rückenhain - Brustorf - Busenhausen - Holungen - Rippersroda - Großbauchlitz - Kißleberfeld - Gallenthin - Nierstein - Dormagen - Groß Schwansee - Willihof - Eichelhardt - Balleierhof - Hodenhagen - Darmstadt - Hinternah - Pforzheim - Schenkelberg - Vorbein - Kniepow - Wadendorf - Fußstall - Zehna - Sohlen.

Da ich nichts davon fotografisch dokumentiert vorrätig habe, gibt es heute ein Bild, das wenigstens auch einen gewissen Skurrilitätsgehalt hat – nämlich das Fenster unserer Nachbarn im Erdgeschoss. Erinnert mich irgendwie an Todenbüttel. Oder das nette Dörfchen Todenmann bei Rinteln.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Carry the zero“ von Built To Spill, „Catch the breeze“ von Slowdive und „Caravan“ von Thin White Rope.


12 November 2005

Die Bettlerin

An der Station Reeperbahn steigt eine recht gepflegt wirkende Bettlerin mittleren Alters zu. In der linken Hand hält sie einen Plastikbecher, die rechte führt eine Krücke, mit der sie offenbar ihrem Anliegen Nachdruck verleihen und die allgemeine Spendenbereitschaft im Waggon heben will. Von einer großen Beeinträchtigung ihrer Mobilität ist indes nichts zu bemerken.

Sie geht
zügig von Sitz zu Sitz, murmelt ihre Bitte, erntet Kopfschütteln, geht weiter. Auch ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt, ihr mit mimischen Mitteln unmissverständlich zu verdeutlichen, dass bei mir heute nichts zu holen ist.

Doch die Frau geht einfach blicklos an mir vorbei.
Ich bin verblüfft, ja geradezu düpiert. Alle im Wagen hat sie gefragt, nur mich nicht.

Mein interner Stimmungsseismograf misst sogar eine leicht aufschäumende Empörung. Bin ich etwa nicht anbettelbar? Und wenn nicht, warum nicht? Habe ich zu früh die Bettlerabwehrmiene aufgesetzt? Liegt es an meinen Kopfhörern, die der Frau von vorneherein mein momentanes hermetisches Monadentum signalisieren? (Aber auch andere im Wagen sind abgestöpselt und ihr nicht entgangen.) Oder sehe ich selber pleite aus? Hm, meine Lands-End-Jacke und die schwarzen Clarks-Lederslipper senden eigentlich eher gegenteilige Signale aus.


Warum also? Das beschäftigt mich den ganzen Nachmittag. Noch immer irritiert, befrage ich zu Hause Ms. Columbo. Sie bestätigt mir jedoch, mich in einer vergleichbaren Situation ggflls. sofort und bedingungslos angebettelt zu haben.
Irgendwie beruhigend.

Das Foto zeigt eine Wandlampe im El Dorado, wo der gestrige Tag ausklang.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „6 feet snow“ von Souled American, „Dakota“ von den Cowboy Junkies und „Anywhere I lay my head“ von Tom Waits.