Im Restaurant sitzen wir großartigerweise an Tisch 42 (remember Douglas Adams), doch der brasilianische Kellner scheint uns (und alle unsere Nachbarn) vom ersten Augenblick an zu verachten. Nicht uns als Menschen, sondern in unserer Inkarnation als Kreuzfahrtpassagiere.
Er verachtet uns, weil er scheißfreundlich sein muss und weil es unter seiner Würde ist, Teller abzuräumen, auf denen noch Garnelenreste liegen. Beim Bücken legt er den Kopf schief, eine verkrampfte Geste erpressten Devotseins, für die er seiner Meinung nach bei weitem zu lausig bezahlt wird.
Er ist ein stämmiger Einsneunzigmann mit licht werdendem Haar, das er streng zurückgegelt hat, und er verachtet uns auch deshalb, weil er seine Verachtung nicht zeigen darf.
Stattdessen knipst er sein Lächeln an wie eine 7-Volt Energiesparlampe und sagt mit italienischem Akzent laut „Entschuldigen, Madame!“, ehe er den Teller ruckartig hochnimmt und mit der Kante nur um Zentimeter die Schläfe einer Frau an unserem Tisch verfehlt.
„Entschuldigen, Madame!“, ruft er mit erpresstem, viel zu lausig bezahltem Energiesparlampenlächeln, doch in seinen Träumen zertrümmert er brüllend und mit geblecktem Gebiss sämtliches Porzellan auf unseren Köpfen und tranchiert uns mit allen acht Besteckteilen, die links und rechts neben dem Teller in genau jener Reihenfolge von außen nach innen aufgereiht sind, wie er es in der Kellnerschule gelernt hat.
Ich mag ihn nicht, aber ich kann ihn verstehen. Ich wäre genauso.
„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
16 August 2010
15 August 2010
Fundstücke (97)
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
14 August 2010
Natürlich neunundsechzig
Das still vor sich hin bröckelnde Haus in der Bernhard-Nocht-Straße, in dem uns früher das Erotic Art Museum hochinteressante Schweinereien als Kunst verkaufte, trägt ausgerechnet die Hausnummer 69.
Vielleicht war diese Hausnummer damals fürs Erotic Art Museum sogar ein Killerargument für den Einzug. Denn selbst die 66 wäre, wie mir scheint, weniger anzüglich rübergekommen.
Die breitestbeinig auftrumpfende 666 hingegen hätte trotz aller Bemühungen völlig andere Assoziationen geweckt – ganz davon abgesehen, dass die Bernhard-Nocht-Straße gottfroh wäre und sich vor Freude auf die bröckelnden Fassaden klopfte, wenn sie auch nur annähernd so viele Hausnummern aufzuweisen hätte.
Seit zwei Jahren jedenfalls ist der Sex weg, doch die 69 immer noch da. So funktionslos und inhaltsleer, wie es hier zwischen den Zeilen nahegelegt wird, muss sich die vom Erotic Art Museum verlassene Nummer aber trotzdem nicht unbedingt fühlen.
Schließlich wohnen dort Leute. Alles ist denkbar.
13 August 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (32)
Die Grenze zwischen St. Pauli und Altona bewacht so trutzig wie trist der Frischemarkt Gökpinar.
Irgendetwas an der Gesamtoptik seiner Fassade scheint zu signalisieren, dass es mit der Frische bei dem ein oder anderen Gemüse nicht gar so weit her sein kann, wie es der Ladenname behauptet, doch dafür gibt es keinerlei Beweise.
Schließlich sehen Biopaprika, nicht wahr, auch immer fahler und fleckiger aus als die gespritzten spanischen Glanzbomben. Vielleicht sollte ich mich also doch mal reintrauen in den Frischemarkt Gökpinar.
Und sei es nur, um mir einen Schwinger einzufangen für die despektierliche Vermutung von oben.
12 August 2010
Das ikonografische Frühstück
Auf den Landungsbrücken unten am Hafen gibt es wiederum Brücken, von denen aus man das Elbpanorama umso besser genießen kann.
Wenn man mal nicht in die Ferne schaut, sondern direkt unter sich, von der Brücke auf die Brücke sozusagen, dann kann man die rausgestellten Tische und Stühle der Touristennepper in Augenschein nehmen. Dort bot sich mir unlängst ein geradezu ikonografisches Arrangement deutscher Frühstückskultur des mittleren 20. Jahrhunderts.
Verantwortlich für diese beispielhafte, historisch verblüffend authentische Kompilation aus weißen Brötchen mit Räuchersalami, Gurkenscheibe, Scheiblettenkäse sowie Frühstücksei plus Kaffee und allzeit bereitstehenden Sahnedöschen war (natürlich) ein Rentnerpaar.
Aschenbecher und Bierdeckelständer komplettierten sorgsam dieses paradigmatische Ensemble aus einer untergegangenen Epoche, welche gleichwohl von der Generation 60plus unverdrossen glorifiziert wird, unter anderem kulinarisch, wie man sieht.
Die beiden ließen es sich munter schmecken, als gäbe es kein Morgen, sondern nur das Gestern, und zwar für immer und ewig.
Meine Lust auf Vollkornbrötchen wuchs auf dem Heimweg ins Animalische.
11 August 2010
10 August 2010
Altes Geld
Eine junge Berliner Kollegin, die ich bei einem Einladungskonzert mit vorgeschaltetem Fernsehkochdinner treffe, erzählt mir beim Essen von den ganzen Trendläden, die sie unablässig abgrast in der armen sexy Stadt.
Hier eine schicke Butike, da ein Sushiladen (der aus irgendeinem bescheuert coolen Grund „Cantina“ heißt), drüben in Neukölln-Nord der Szeneclub Kinski. Alles super jedenfalls, alles obertrendy, alles Geheimtipps.
Und während sie das erzählt, fällt mir ihr olivgrünes T-Shirt ins Auge. In großen eierschalenfarbenen Brüllbuchstaben steht da „REVOLUTION“ drauf, und rechts oben über dem Schriftzug prangt ein Kreis mit umgekehrtem Ypsilon drin, das Friedenszeichen. Wahrscheinlich hat sie das Shirt in einer schicken Butike gekauft, zwischen Sashimi in der Cantina und einer Kirschsaftschorle im Kinski.
Ich weiß nicht, ob Karl Marx einst an Leute wie die Berliner Kollegin dachte, als er die Proletarier aller Länder zur Revolution aufrief, aber ich glaube fast nicht. Hamburg, sagt sie irgendwann, sei tot, dort habe sie mal gelebt, aber das könne sie nicht mehr, sogar Daniel Richter sei ja jetzt nach Berlin gegangen, in Hamburg nämlich „sitzt das alte Geld.“
Aber einen hübschen Funkturm haben wir, vor allem vom Innenhof des Fernsehkochrestaurants aus gesehen.
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09 August 2010
Fundstücke (96): Pseudokunst
Manchmal passiert es monatelang nicht. Und dann stolpert man über gleich mehrere Pseudokunstexponate an einem Nachmitag.
Heute etwa stießen wir in St. Georg und in der Innenstadt auf diverse ästhetisch reizvolle Zufallsmotive, mit denen man jederzeit eine bestimmte Klientel zu exegetischen Überlegungen bringen könnte – ähnlich wie damals die pittoresken Fahrspuren von Palettenwagen.
Wenn die klassische Beuys-These noch immer stimmt und jedermann ein Künstler ist (weil Kunst nämlich in der Moderne erst durch die Wechselwirkung mit dem Betrachter entsteht), dann gilt das wohl auch für eine Reinigungskraft, die daran scheiterte, Plakatreste komplett zu entfernen (Foto oben) – und ebenso für die gemeine Grünalge in einem Hamburger Fleet:
07 August 2010
Begegnung mit einem Vampir (oder Zombie)
Ein Tag der Merkwürdigkeiten – wobei die unvermittelte Ergänzung zur Anweisung des Hausarztes nicht mal die größte darstellte.
Denn am merkwürdigsten wurde es abends im indischen Restaurant Zala in der Rothenbaumchaussee. Ich erhielt als Wechselgeld Münzen – und die waren erschreckenderweise eiskalt.
Der Kellner verließ freundlich lächelnd den Tisch, während ich die Münzen rasch in der Hosentasche verwschwinden ließ, wo sie mir allerdings sofort durch den Stoff Gefrierbrandflecken in den Oberschenkel stanzten. Derweil ratterten mir die wichtigsten Fragen durch den Kopf, die dieser Vorfall aufwarf:
Lagern sie hier im Zala die Münzen etwa in der Tiefkühltruhe, bevor sie sie rausgeben? Oder war es die Hand des Kellners, die den Temperatursturz des Metalls bewirkte – und was bedeutete das für die Einordnung des Mannes in die Fauna?
Vielleicht gibt es ja doch Wesen, die menschlich wirken und doch keine Warmblüter sind. Seit dem Zala-Besuch scheint mir die Existenz von Vampiren und Zombies wieder deutlich plausibler.
Die Münzen habe ich heute an zwei obdachlose Russen im Brauquartier verschenkt. Sicher ist sicher.
06 August 2010
Fundstücke (95)
05 August 2010
In der potenziellen Hubba-Bubba-Arena
Auf Fremdschämtour beim HSV.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
Das Stadion der sogenannten Rothosen, malerisch an der Müllverbrennungsanlage gelegen, hat mal wieder einen neuen Namen. Plötzlich muss man es Imtech-Arena nennen, sonst wird man standrechtlich zu einem AOL-Account verdonnert.
Imtech berappt 25 Millionen Euro dafür. Und die treuen HSV-Fanschäfchen machen das ein ums andere Jahr mit, trotten stillergeben mal in die AOL-, dann in die HSH-Nordbank-, jetzt halt in die Imtech- und irgendwann wahrscheinlich auch in die Hubba-Bubba-Arena. Eine fremde und seltsame Welt, vor allem für St.-Pauli-Fans.
In der Halbzeit des Testspiels gegen den englischen Meister Chelsea (Didier Drogba war der Hauptgrund meiner Anwesenheit) wurde der Chef des neuen Stadionsponsors interviewt. Zwar interessierte das kein Schwein, selbst die stillergebenen HSV-Fans nicht, doch wat mutt, dat mutt, schließlich berappt er 25 Millionen.
Also salbaderte der gute Imtech-Mann etwas von „Wir als Nummer eins in Deutschland und Europa …“, und ruckartig war ich hellwach, denn den HSV konnte er damit ja kaum meinen, doch dann kam der beruhigende Abschluss: „… in Gebäudetechnik“.
In Gebäudetechnik also. Die Fans begannen dann, ihren Fansong zu singen, und auch hier beschlich mich schnell das nicht mal dumpfe, sondern sehr präsente Gefühl, sie sängen von einem ganz anderen Verein.
„Hier weiß jedes Kind/Dass wir Champions sind“ – wer? Der HSV? Und in welcher Sportart? Groß allerdings die Zeile: „Wir sind Hamburg/Wir sind immer da“. Sie erinnerte Kramer zu Recht an den genialisch mit wahlentscheidender Semantik aufgeladenen Slogan der Partei Die Partei zur vorletzten Bundestagswahl.
Er lautete: „Hamburg – Stadt im Norden“.
Ja, das sind ewige Wahrheiten! Genau wie die, dass dieses Stadion immer jenes an der Müllverbrennungsanlage bleiben wird, egal mit wievielen aus Gebäudetechnik generierten Millionen jemand daherkommt.
Drogba blieb übrigens – obzwar Ivorer – blass.
04 August 2010
Man muss Prioritäten setzen, immer
Mann, war das Licht heute Abend im Hafen saftig! Man hätte es vom Himmel klauben und kneten können und dann in Marmeladengläsern verwahren, für den Winter, der viel zu bald kommen wird.
Doch leider hatten A., der Franke und ich beim Biertrinken unter den Palmen am Pinnasberg kaum ein Auge dafür, weil wir aus irgendeinem idiotischen Grund, der mir, wenn ich ihn noch wüsste, total peinlich wäre, verzweifelt nach dem Namen eines Fußballers suchten, der mal eine klägliche Saison beim FC Bayern verbracht hatte und später nach Hannover geflohen war.
„Ich denke immer an Djorkaeff“, sinnierte A., „aber der war’s nicht.“
„Er fängt mit F an“, sagte ich.
„Nein, mit D“, beharrte A.
Derweil navigierte sich der Franke, der als Bayernfan diesen blöden Namen eigentlich am ehesten hätte wissen müssen, mit seinem Webhandy durch die kicker.de-Seite, blieb aber ständig an nebensächlichen Meldungen wie „Robben fällt für zwei Monate aus“ hängen.
„Forsthoff?“, warf ich hoffnungslos ein. Natürlich nicht. Inzwischen hatte auch A. sein archaisches Webhandy gestartet. „Es lädt“, murmelte er, „bin schon bei 6 Prozent.“ Allmählich leckte das letzte Glitzern des saftigen knetbaren Hafenlichts über die Spitzen der höchsten Kräne, aber ich hatte eh kein Marmeladenglas dabei.
„Elf Prozent“, sagte A.
Am Geländer hatte ein Mann Aufstellung genommen, der eine Gruppe Jugendlicher anschrie. „Eure Statistiken sind das Letzte!“, brüllte er. „Ihr werdet untergehen, alle!“ Uns kümmerte das alles nicht, es gab Wichtigeres auf der Welt, nämlich einen Namen, der uns auf der Zunge lag, aber nicht rauswollte, verdammt.
„Ich hab’s“, sagte A. in einem Tonfall, der nicht triumphal klingen sollte, obwohl er’s war. „Schlaudraff. Es war Schlaudraff.“
Schlagartig entwich dem Abend die Spannung, es wurde dunkel, und bald trieb uns die Augustkälte nach Hause. Schlaudraff. Ich hatte es gewusst: Irgendwas mit F.
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03 August 2010
Eine Betrugsanleitung – nicht zu Hause nachmachen!
So, hier kommt ein Geschäftsmodell für Skrupellose, dem ich neulich zum Opfer gefallen zu sein glaube, ohne die Kraft und die Unmoral zu haben, es meinerseits anwenden zu können:
Bei Amazon irgendwas bestellen, das unversichert verschickt werden wird, warten, bis es eintrifft, dann behaupten, es sei nie angekommen, sich das Geld zurückerstatten lassen, das Produkt selbst auf Amazon verkaufen – und hoffen, dass man nicht auf seinesgleichen stößt.Mit dem Kiez hat diese Geschichte natürlich nullkommanichts zu tun, im Gegensatz zum heutigen Foto, welches das mit LED-Lampen aufgehübschte Riesenrad zeigt.
Das größte mobile der Welt übrigens, angeblich.
02 August 2010
Fundstücke (94): Rotlichtllogik
Aus dem Fundus des legendären Kiezfotografen Günter Zint.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
01 August 2010
Alles schläft, eine wacht oder Die Cinemaxx-Blitzreaktion
Von: Matt
Betreff: Aufpreis für Sichtbehinderung – wtf?
Datum: 31. Juli 2010 01:47:42 MESZ
An: cinemaxx.com
Liebes Cinemaxx Dammtor in Hamburg,
wir haben uns am Wochenende für 20 Euro den Leo-DiCaprio-Film „Inception“ angesehen (hervorragend, Hut ab), und zwar in Saal 1, Reihe M.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen bereits aufgefallen ist, doch vor Reihe M befindet sich ein Metallgeländer mit einem geknicktem Handlauf, der zuverlässig einen Teil der Leinwand verdeckt – sogar wenn man sich aufrecht und möglichst gereckt hinsetzt, was einer bequemen Sitzhaltung aber eh nicht förderlich wäre. Im Theater kosten Plätze mit Sichtbehinderung weniger, bei Ihnen mehr – versteh einer die Welt!
Da die Vorstellung ausverkauft war und wir leider auch zufällig keine Metallsäge mitführten (ein Versäumnis, welches nicht wieder vorkommen wird), war das Problem nicht zu beheben. In der Pause des Films versuchte ich daher die verantwortliche Kassendame standrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, doch sie hatte vorsorglich bereits das Weite gesucht.
Ich griff mir ersatzweise einen Sicherheitsmann im Saal und schilderte ihm den Mangel, ja, ich nötigte ihn sogar erfolgreich dazu, kurzzeitig meinen Platz einzunehmen und die versperrende Wirkung des Geländers mit eigenen Augen zu verifizieren, was er auch tat. Er wusste auch nicht so recht, welcher Teufel den Architekten geritten hatte, konnte aber zumindest die Information beisteuern, dass dieses Geländer bereits von Anfang an in diesem Saal sein Unwesen trieb.
Immerhin besteht der Handlauf – das muss ich fairerweise betonen – aus zwei parallelen Stangen, die etwa alle 50 Zentimeter vertikal verbunden und segmentiert sind. So konnten wir durch einen geschickten Mix aus Ducken, Recken und horizontales Verschieben des Oberkörpers auch Blicke auf jene Bildinhalte links unten erhaschen, die uns das sardonische Geländer eigentlich vorenthalten wollte. Gerade bei den anfänglichen Untertiteln erwies sich unsere körperliche Fitness als segensreich.
Gleichwohl kann es nicht im Sinne der Brüder Lumière sein, sich im Kino den Hals zu verrenken – vor allem nicht auf den teuren Plätzen. Denn zumindest das Parkett erfreute sich durchweg bester Sicht.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weg mit dem Geländer, freie Sicht auf Leo! Was uns natürlich nur künftig wieder etwas nutzen würde, nicht aber die Vorstellung vom Samstag posthum zu retten imstande wäre. 20 Euro für einen Blick durch ein Geländer? Das finden wir – und ich spreche da auch im Namen von Ms. Columbo – deutlich übertrieben.
Sie hoffentlich auch.
Mit Nackenschmerzen:
Matt
Von: CinemaxX - Der Filmpalast
Betreff: AW: Kritik: Aufschlag für Sichtbehinderung – wft?
Datum: 31. Juli 2010 02:05:28 MESZ
Guten Tag Herr Wagner,
wir bedauern ihr getrübtes Kinoerlebniss und möchten ihnen als Entschuldigung gerne Freikarten zukommen lassen. Senden sie uns dazu bitte ihre Adresse auf diesem Weg.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Mail und Ihr Interesse an unserem Hause!
Mit freundlichen Grüßen
Verena E. K.
CinemaxX Cinema GmbH & Co. KG
PS: Dass eine Mitarbeiterin mitten in der Nacht noch auf Kritik wartet und sie prompt kalmiert, finde ich im Nachhinein doch weniger erstaunlich als die kleine Veränderung im zitierten Betreff: Aus meinem „wtf“ wurde wundersam ein „wft“. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …
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31 Juli 2010
Fundstücke (93): Das unendliche Leid der Fay Wray
30 Juli 2010
Zirkelschluss
Theo Albrecht hat es gottlob oder leider nicht mehr erlebt, jenes „Präzisions-Schulreisszeug mit Mitteltrieb-Feineinstellung“, das zurzeit im Sortiment seiner Erbmasse Aldi-Nord zu finden ist.
„Bei uns damals“, wundert sich Ms. Columbo, „hieß das noch Zirkel.“ Bei uns auch, damals.
Nach dem Aldibesuch gingen wir über den Dom spazieren, der zurzeit aufgebaut wird und dank seiner Menschenleere und ratlos herumliegenden Geisterbahnfiguren eine gewisse Morbidität ausstrahlt.
Womit wir auf total unelegante Weise wieder bei Theo Albrecht angelangt sind.
29 Juli 2010
Bye, bye, kleine Tagespizza
Ach herrje, nach zwölf Jahren und unzähligen Lunches im Restaurant Eisenstein, wo sie im Winter die Tanne kapriziöserweise immer kopfüber aufhängen (Foto von 2008), neigen sich meine mittäglichen Besuche dort völlig überraschend dem Ende entgegen.
Und das liegt nicht daran, dass die Küche gestern volle 35 Minuten benötigte, um meine bestellte Gemüsepizza zu servieren („Der Bon war in einen Spalt gerutscht“). Und nicht mal daran, dass besagte Gemüsepizza, als sie dann endlich kam, mit ungenießbaren strohigen Fasern undefinierbarer Provenienz belegt war.
Nein, meine zwölf Jahre Eisenstein werden aus einem anderen, erheblich substanzielleren Grund auslaufen: weil nämlich das offenbar von einem bösartigen Stammkundenvergrämungsbazillus befallene Restaurant die kleine Tagespizza von der Mittagskarte gestrichen hat.
Es handelte sich dabei um eine täglich wechselnde Kreation mit bisweilen kühn kombinierten Belägen; da wurden Sachen wie Räucherlachs, Ananas und anderes Obst, Chorizo, Rauke, Bärlauchpesto, Sellerie, Speck, Ziegenkäse im Aschemantel und allerlei mehr munter kreuz- und querkombiniert.
Natürlich, nicht immer war die kleine Tagespizza eine sinnliche Offenbarung, manchmal dominierte der Experimentier- und Gestaltungswille des Maître die Kulinarik. Doch interessant war sie immer, und ihr Preis war mit 5,90 Euro sehr reell für einen gehobenen Laden wie das Eisenstein.
Ach ja, goldene Zeiten! Doch nun sind sie vorbei. Jetzt kann man nur noch À-la-Carte-Pizzen ordern und muss dafür (mittags!) mindestens 7,30 Euro auf den Tisch legen – selbst wenn es sich um eine handelt, die mit ungenießbaren strohigen Fasern belegt ist.
Doch halt, nein, das stimmt nicht ganz, das kann so nicht stehenbleiben: Gestern Mittag haben sie mir den Fraß fairerweise nicht berechnet.
Und zwar freiwillig. Ich musste nicht mal explodieren.
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Und das liegt nicht daran, dass die Küche gestern volle 35 Minuten benötigte, um meine bestellte Gemüsepizza zu servieren („Der Bon war in einen Spalt gerutscht“). Und nicht mal daran, dass besagte Gemüsepizza, als sie dann endlich kam, mit ungenießbaren strohigen Fasern undefinierbarer Provenienz belegt war.
Nein, meine zwölf Jahre Eisenstein werden aus einem anderen, erheblich substanzielleren Grund auslaufen: weil nämlich das offenbar von einem bösartigen Stammkundenvergrämungsbazillus befallene Restaurant die kleine Tagespizza von der Mittagskarte gestrichen hat.
Es handelte sich dabei um eine täglich wechselnde Kreation mit bisweilen kühn kombinierten Belägen; da wurden Sachen wie Räucherlachs, Ananas und anderes Obst, Chorizo, Rauke, Bärlauchpesto, Sellerie, Speck, Ziegenkäse im Aschemantel und allerlei mehr munter kreuz- und querkombiniert.
Natürlich, nicht immer war die kleine Tagespizza eine sinnliche Offenbarung, manchmal dominierte der Experimentier- und Gestaltungswille des Maître die Kulinarik. Doch interessant war sie immer, und ihr Preis war mit 5,90 Euro sehr reell für einen gehobenen Laden wie das Eisenstein.
Ach ja, goldene Zeiten! Doch nun sind sie vorbei. Jetzt kann man nur noch À-la-Carte-Pizzen ordern und muss dafür (mittags!) mindestens 7,30 Euro auf den Tisch legen – selbst wenn es sich um eine handelt, die mit ungenießbaren strohigen Fasern belegt ist.
Doch halt, nein, das stimmt nicht ganz, das kann so nicht stehenbleiben: Gestern Mittag haben sie mir den Fraß fairerweise nicht berechnet.
Und zwar freiwillig. Ich musste nicht mal explodieren.
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27 Juli 2010
Fundstücke (92): Wenn Schuhe reden könnten
Dieses durchdachte Arrangement, das sich mir am Montagmorgen mitten auf der Bergiusstraße darbot, erzählt eine Geschichte. Möglicherweise eine dramatische.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich sie wirklich erfahren möchte, lasse mich aber in den Kommentaren gern eines Besseren belehren.
Also: Wer weiß was?
26 Juli 2010
Indianerbier fürs Wegsteckhuhn
Wieder mal ein Sonnensonntag, den wir zum fröhlichen Kreuzen auf der Elbe nutzten.
Auf der Fähre von Finkenwerder zum Fischmarkt telefonierte eine Touristin im späten Teenageralter mit Mama, während der steife Westwind ihr fast die total coole Riesenretrosonnenbrille vom Näschen riss, die offenbar gerade auch auf dem Westerwald total cool ist (die Brille, nicht das Näschen).
Denn dort schien mir die junge Frau herzukommen; so klang jedenfalls ihr Dialekt (und mit dem kenne ich mich ganz gut aus).
Gestern Nacht war sie mit Freunden erstmals in ihrem Leben durch die Clubs und Spelunken der Großen Freiheit (Foto) gezogen, das war total aufregend, und davon musste sie Mama jetzt berichten.
„Ich hätt drei Handynummänn krieche kenne“, erzählte sie nicht unstolz. „Han ich awwer net gemacht.“
Braves Mädchen.
Auf der Großen Freiheit hätte sie neben Handynummänn aber auch viele Kiezvokabeln aufschnappen können. Zum Beispiel „Indianerbier“: Das wurde aus lauter Resten zusammengeschüttet. Oder „Frikadellenpuff“. So nennt man auf St. Pauli eine Pommesbude, zumindest in Kreisen.
Ich weiß so was übrigens nicht von einschlägigen Bekannten, die solcherart Sprech als Umgangston pflegen, sondern aus Günter Zints legendärem Buch „Die weiße Taube flog für immer davon“ (1984), woraus neulich im Silbersack gelesen wurde.
Der Touristin aus dem Westerwald wäre manches davon aber doch vielleicht eine Spur zu derbe gewesen, nehme ich mal an. Zum Beispiel „Wegsteckhuhn“:
So nennt der lakonische Lude eine Hure, die es wirklich macht.
Auf der Fähre von Finkenwerder zum Fischmarkt telefonierte eine Touristin im späten Teenageralter mit Mama, während der steife Westwind ihr fast die total coole Riesenretrosonnenbrille vom Näschen riss, die offenbar gerade auch auf dem Westerwald total cool ist (die Brille, nicht das Näschen).
Denn dort schien mir die junge Frau herzukommen; so klang jedenfalls ihr Dialekt (und mit dem kenne ich mich ganz gut aus).
Gestern Nacht war sie mit Freunden erstmals in ihrem Leben durch die Clubs und Spelunken der Großen Freiheit (Foto) gezogen, das war total aufregend, und davon musste sie Mama jetzt berichten.
„Ich hätt drei Handynummänn krieche kenne“, erzählte sie nicht unstolz. „Han ich awwer net gemacht.“
Braves Mädchen.
Auf der Großen Freiheit hätte sie neben Handynummänn aber auch viele Kiezvokabeln aufschnappen können. Zum Beispiel „Indianerbier“: Das wurde aus lauter Resten zusammengeschüttet. Oder „Frikadellenpuff“. So nennt man auf St. Pauli eine Pommesbude, zumindest in Kreisen.
Ich weiß so was übrigens nicht von einschlägigen Bekannten, die solcherart Sprech als Umgangston pflegen, sondern aus Günter Zints legendärem Buch „Die weiße Taube flog für immer davon“ (1984), woraus neulich im Silbersack gelesen wurde.
Der Touristin aus dem Westerwald wäre manches davon aber doch vielleicht eine Spur zu derbe gewesen, nehme ich mal an. Zum Beispiel „Wegsteckhuhn“:
So nennt der lakonische Lude eine Hure, die es wirklich macht.
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