13 Juli 2008

The pain never stops



Folgende Veranstaltungen, Senat, sollte man künftig an einem einzigen megalomanischen Wochenende zusammenlegen und in einem Rutsch runterfeiern:

Harley Days, Motorradgottesdienst, Hafengeburtstag, Christopher-Street-Day, Schlagermove, Triathlon, Cyclassics, Welt-Astra-Tag und Marathon.

Der brillante Vorschlag kommt von Ms. Columbo; er erfuhr durch mich nur eine leichte Erweiterung. Den insgesamt rund zwei Trilliarden Zuschauern könnte man so nämlich, Senat, für drei Tage im Jahr feierlich den Kiez zur freien Verwüstung Verfügung aushändigen und sich gelassen ins Umland trollen. Genial.

Übrigens strömen diese zwei Trilliarden Menschen nur deswegen herbei aus aller Herren Länder, weil es so unvergleichlich toll ist auf dem Kiez. Und wir, Ms. Columbo und ich, haben das Privileg, das ganze Jahr über hier einfach so rumleben zu dürfen, ohne jeden speziellen Anlass.

Seit ich das erkannt habe, geht’s mir ganz großartig. Ja, ich werde die 35.000 zum Gottesdienst antretenden Zweitakt- und Teilzeitchristen einfach triumphal an- und somit weglächeln.


Sie werden nicht den nanokleinsten Schimmer haben, was das soll, dieses Lächeln.

12 Juli 2008

Eine Frage der Perspektive

Endlich hat der Gesundheitswahn eine Schlüsselindustrie erreicht. Gibt es eigentlich auch koschere Atombomben?

Entdeckt in Ottensen, am Rand des Spritzenplatzes.

PS: Alles übrigens nur eine Frage der Perspektive – und eines kleinen Knicks an der richtigen Stelle.


10 Juli 2008

Tee aufs Haus, zumindest virtuell

Ms. Columbo und mir steht der Sinn plötzlich nach Fish & Chips, warum auch immer. Zuletzt nahmen wir dieses volkstümliche Gericht in Edinborough zu uns, das war noch im vergangenen Jahrtausend.

So weit reisen müssen wir heute nicht, denn die Weltstadt Hamburg bietet natürlich auch so etwas. Nicht weit entfernt, in der Wohlwillstraße, gibt es einen entsprechenden Imbiss.

Der entschieden schnauzbärtige Inhaber ist allerdings kein Brite, sondern Türke. Sein Herangehen an Fish & Chips ist ergo erfrischend undogmatisch; er serviert kurzerhand Fladenbrot dazu.

Außerdem offeriert er kostenlos Tee, und zwar so viel man möchte. Um das ökonomische Risiko überschaubar zu halten, vergisst er ihn allerdings manchmal zu servieren, zu Ms. Columbos Verdruss.

Sinnigerweise hat der Schnauzbart auch Fischdöner auf der Karte. Und um die ethnokulinarische Verwirrung zu komplettieren, untermalt er die Szenerie mit Reggae von Horace Andy. Uns schwirren die Sinne, und zwar alle.

Das Tollste an diesem Laden aber hat nichts mit Essen zu tun, sondern mit Trinken. Auf der Speisekarte nämlich steht die großzügige Offerte „Tee aufs Haus“ ohne den üblicherweise grassierenden Apostroph! Das muss dem türkischjamaikanischen Fish-&-Chips-Nichtbriten erst mal einer nachmachen.

„Tee aufs Haus“: ein Satz wie Schalmeienklang, nicht nur akustisch. Wenn er ihn jetzt auch noch ausschenkte, dann wäre alles gut.

Ohne Worte (7): Hart, aber höflich



Entdeckt in der Clemens-Schultz-Straße.


09 Juli 2008

Die gemütlichsten Ecken auf St. Pauli (4)



Eigentlich ist die Wohlwill- geradezu ein Schmuckstück von Straße. Gleichwohl hat auch sie Hauseingänge, deren Repräsentationspotenzial suboptimal ausgeprägt ist.

Für das übriggebliebene Wahlplakat der Partei allerdings bietet der abgebildete Hauseingang eine nachgerade ideale Übersommerungsmöglichkeit.

(Dafür wäre zugegebenermaßen aber auch jeder beliebige andere Ort mehr als geeignet.)

08 Juli 2008

Zeitweise nett



Nach dem Kaffee zum Gehen oder Sitzen stießen wir nun in einem St.Paulianer Kneipenfenster aufs abgebildete Schild, das sich an eine weitere Rückübersetzung eines grassierenden englischen Terminus wagt.

Und das ist tückisch. Die gelobte Stunde – im Englischen noch rundum glücklich – ist plötzlich nur noch freundlich. Gut, Schwund ist zwar immer, doch das klingt eher so, als fielen vielleicht die Cocktailpreise in der ominösen Stunde (es sind sogar zwei) gar nicht so stark wie erhofft.

Oder die Kneipe meint etwas ganz anderes, nämlich das Personal. Normalerweise, so suggeriert uns die Ankündigung einer explizit „freundlichen Stunde“, werden wir in dieser Kneipe nämlich schroffstens angepflaumt, sobald wir eine Bestellung wagen, und fürs Trinkgeld erntet man unabhängig von dessen Höhe nichts weiter als verächtliches Schnaufen.

Doch dann kommt die freundliche Stunde. Von einer Sekunde auf die andere betet das Bedienungspersonal ausgesucht höflich die Getränkekarte her, sagt „bitte“ und „danke“, lächelt hinreißend nett und hilft uns beim tränenreichen Abschied in den Mantel.

Und mal ehrlich: Dafür nähmen wir sogar höhere Cocktailpreise in Kauf.

07 Juli 2008

Des Käfers Lösung



Es ist wie immer in den letzten Wochen: Kaum habe ich unsere sommergelbe Pannesamtdecke (li.) am Strand von Travemünde ausgebreitet, entsteht wie aus dem Nichts eine Wolke hibbeliger Kleinkäfer.

Aufgeregt umschwirren sie uns, belagern hingebungsvoll die Decke und nerven immens. Ein Check der umliegenden Lagerplätze ergibt wenig Erfreuliches: Die Käfer gibt es nur bei uns, und das ist rätselhaft.

Sollte die Pannesamtdecke bereits bei unserer Ankunft kontaminiert gewesen sein? Schleppe ich etwa seit Wochen systematisch Käfer ein nach Travemünde?

Eine beunruhigende Vorstellung, die zudem in krassem Kontrast steht zu meiner Meinung über die hygienischen Zustände in der Seilerstraße. Dennoch diskutiere ich diese wenig schmeichelhafte Theorie mit Ms. Columbo und dem Franken, stoße allerdings auf Zweifel.

Plötzlich stapft eine strandweise Passantin vorüber, erkennt unser Käferproblem und liefert sogleich die Lösung: „Das liegt an der Decke“, sagt sie. „Die Tierchen mögen Gelb.“

Und sie hat völlig Recht: keine Decke, keine Käfer. Jetzt stimmt mein hygienisches Weltbild wieder. Den Rest des Tages verbringt die Decke zusammengeknüllt und sonnenfern in der Tasche.

Sie wird den Strand von Travemünde nie mehr wiedersehen.

05 Juli 2008

Im Kampf mit Zombieanwärtern

Ich komme nicht mehr nach Hause, der Weg ist versperrt. Mit Fahrrad und Sporttasche stehe ich eingangs der Reeperbahn (Pfeil oben rechts) ratlos vor abertausenden Irren in Schlaghosen, die einer Parade von Mottowagen zuprosten.

Aus den Wagen explodiert unsagbarer Schallterror, es lassen sich Wortfetzen wie „Mendocino“ identifizieren. Schlagermove! Das ist etwa so, als nähme man die Harley Days, potenzierte sie, verdoppelte das Ergebnis und wäre nicht mal nah dran.

Es ist Nachmittag, noch haben sich diese Leute nicht restlos weggeballert, noch können sie stehen, gehen und grölen, auch wenn sie bereits hunderte von Flaschen zertrümmert haben und bisweilen mit Chihuahuasandälchen durch die Scherben waten.

Diese brodelnde Wand aus inszenierter und längst komplett ironieloser Euphorie muss ich durchbrechen, denn ich komme vom Training, bin knülle und will nix weiter als nach Hause. Doch wie? Ich entschließe mich zur Methode Bulldozer: Rein ins Getümmel und stur Kurs halten.

Rechts ramme ich einem rosahemdigen Typen mit sombrerogroßer Gimmicksonnenbrille ein Pedal ins Kniegelenk, links bekommt eine Blondine, die aussieht wie Miss Piggy auf Speed, meinen Lenker in die Rippen. Doch alles nützt nichts, ich komme kaum vorwärts.

Selbst wenn ich vorstieße bis zur Straße, gälte es immer noch die „Mendocino“-brüllenden Mottowagen zu überwinden, und es gibt Dinge, die kann ein einzelner Mann mit Sporttasche nicht schaffen, dafür bräuchte er schon eine Bazooka. Was also tun?

Erst nach längerem Grübeln fällt mir die Lösung ein: Ich muss runter zur U-Bahn und durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder raus. So kann ich die massierten feindlichen Linien subterran austricksen. Also wieder zurück und durch rammdösig grinsende Papierschlangenträger mit ausgeprägter Unlust, den Weg frei zu machen, hindurch zur Treppe.

Wie ich mich durch den übervölkerten U-Bahnhof kämpfe, wie lange es dauert und wie viele „Hossa!“ kreischende Zombieanwärter mir flaschenschlenkernd entschieden zu nahe kommen: Schwamm drüber. Es funktioniert jedenfalls, erschöpft rette ich mich in Ms. Columbos Arme.

„Was sind das bloß für Menschen?“, stöhne ich rhetorisch.
„Wahrscheinlich sind welche dabei, von denen man es nie gedacht hätte“, sagt sie.
„Ja, wie bei Serienkillern“, antworte ich.
Er hat immer so nett gegrüßt“, zitiert Ms. Columbo einschlägige Zeugenaussagen.
„Genau“, bestätige ich, „und heute torkelt er mit pinker Perücke besoffen über die Reeperbahn und brüllt beim schniedelschwingenden Wildpinkeln humpahumpatäterä. Man kann einfach nicht reinschauen in die Menschen.“

Gerade als ich das hier schreibe, schält sich ein einzelner Laut aus dem noch immer durch die offene Balkontür hereinbrandenden Schallterror aus Schreien, scheußlicher Musik und Polizeisirenen. Es ist ein Rülpser. Er bringt alles auf den Punkt.

Wie gern tauschte ich ihn ein gegen das sonore Geöttel einer Harley Davidson
.

Manche Säugetiere verstehe ich einfach nicht

Vorm Edekamarkt ist ein kleiner Hund angebunden, eine dackelähnliche Fußhupe. Hier geht es vielen Hunden so, und gewöhnlich starren sie geplagt von unsagbarer Sehnsucht in den Laden.

Sie verzehren sich nach dem Menschen, der sie besitzt, und wollen mit aller Macht, dass er zurückkommt und sein Besitz- und Weisungsrecht wieder auszuüben beginnt.

Manchmal kläffen und jaulen sie dabei. Der Kummer, der sie plagt, ist existenziell, denn sie können ja nicht wissen, ob er je wieder aufhören wird.

Doch dieser kleine Hund hier ist anders. Denn er ist vor lauter Konzentration zum Stillleben geronnen und blickt stumm und starr vor sich auf den Boden. Ein Verhalten, das ich mit seiner Gattung gewöhnlich nicht in Verbindung bringe.

Also tue ich es ihm nach und starre ebenfalls dorthin, wo er hinstarrt. Doch dort ist nichts, nicht das Geringste. Nur die grauen Platten des Fußwegs vorm Eingang von Edeka. Es liegt auch nichts da, kein Fitzelchen Papier, es krabbelt dem Hund auch kein Käfer vor der Schnauze herum.

Gleichwohl stiert er bewegungslos auf eine bestimmte Stelle am Boden keine zehn Zentimeter entfernt, als sähe er dort ein Mauseloch samt kleiner spitzer Nase, die lebensmüde hervorlugt.

Ein höchst irritierender Hund, den ich sofort fotografiert hätte (Hemmungen plagen mich nur bei Menschen), doch die Kamera liegt zu Hause, wohin ich samt Hackenporsche nun eilends aufbrechen muss, denn es regnet.

In Höhe der Talstraße schaue ich noch einmal zurück. Der Hund steht immer noch da und starrt. Wie eine angeleinte Statue.

Dieses merkwürdige Erlebnis ruft mir einen bisher noch nicht losgewordenen Appell ins Gedächtnis, der mir schon länger auf der Seele brennt und hier jetzt endlich raus muss.

Also, Hunde, hergehört: Wenn ihr euch schon ständig gegenseitig die Kloake beschnüffelt, was eh eine ziemlich peinliche Angelegenheit ist und eurem Leumund nicht gerade nützt, warum lauft ihr dabei auch noch hintereinander her im Kreis herum? Bleibt doch in Lassies Namen einfach stehen beim Kloakenbeschnüffeln – es macht alles leichter, wirklich.

Ja, manche Säugetiere verstehe ich einfach nicht. Seit heute noch ein bisschen weniger.

PS: Jede Ähnlichkeit des abgebildeten römischen Prachtexemplars mit dem heutigen Starrer ist unbeabsichtigt, rein zufällig und allenfalls entwicklungsgeschichtlich herleitbar.


04 Juli 2008

Nachtrag zur EM: Der Traum des Clemens Fritz

Matt: „Stell dir vor, du kommst aus Erfurt, wirst zum Fußballstar, lernst die Welt kennen, verdienst das große Geld, und wovon träumst du nach dem Karriereende? Von der Rückkehr nach Erfurt!
Ms. Columbo: „Das macht mich traurig und auch betroffen.“

Foto: clemensfritz.com

03 Juli 2008

Vielleicht ist es Snuff

Auf St. Pauli gibt es Kellerspelunken, da darf nicht einmal jeder Erwachsene rein. Sondern nur solche, die mindestens 21 sind.

Ich frage mich, was dort wohl Schlimmes vor sich geht, dass man es jemand, der bereits ungestraft Schäuble wählen oder legal Lamborghinis zu Schrott fahren darf, jetzt noch nicht zumuten will, sondern erst in drei Jahren.

Mal ernsthaft: Auf dem Kiez gibt es -zig Läden, in denen du einfach so Sex kaufen kannst; es gibt mindestens einen, in dem sie es jeden Abend live auf der Bühne treiben, während du mit einem 10-Euro-Bier im Dunkeln sitzt; es gibt Clubs, in denen du dich auspeitschen lassen kannst, und welche, wo sie selbst Einheimische ausnehmen wie sonst nur Touristen aus Naivmannshausen.

All das geht problemlos ab 18. Aber was um alles in der Welt passiert im Peggy Sue in der Balduinstraße, dass du dort erst ab 21 rein darfst – drehen sie drunten im Keller etwa Snufffilme, und jeder Besucher wird unter großem Hallo zum Hauptdarsteller?

Bisher habe ich mich noch nicht getraut das herauszufinden. Und wenn, dann auch nur in mental und muskulär gefestigter Begleitung.

Bewerbungen bitte in den Kommentaren.

02 Juli 2008

Tannenzapfenzupfen (9)

(Foto via FHS Holztechnik)


V
iel zu lange pausiert nun schon die recht beliebte Fundstücke- und Gammelsprechrubrik. Dabei fliegt mir doch weiterhin genug verbloggbares Zeugs zu, nicht nur diese strunzdumm-fröhliche Eigenwerbung einer Zeitschrift:

„Hier das neueste Update der aktuellen ,Mädchen’-Ausgabe, inklusive Ehrenmorde und einem Guide, wie ihr in sieben einfachen Schritten ein Meth-Labor in ein Terrarium umwandelt.“ Vor allem das heitere Anpreisen der Ehrenmorde in unmittelbarer Gesellschaft einer Terrariumsbauanleitung ist irritierend, oder geht’s nur mir so?

Hier kommen weitere Beispiele IQ-gedimmter und naturbelassener Promotexte aus der Musikbranche, die man so niemals erfinden könnte. Ohren zu und durch:

1. „Es sind Gefühle im Innern, die in mir das Verlangen auslösen, einen Song schreiben zu wollen. Das fließt direkt aus dem Herzen heraus. Nicht aus dem Kopf, sondern aus den Eingeweiden.“ Die anatomisch nicht sattelfeste Sängerin Lou Rhodes über das etwas anrüchige Geheimnis ihrer Kreativität.

2. „Der Schlagzeuger drischt auf seinen Schrottplatz ein, dass man sicher ist, er verspeist Kleinkinder zum Fruehstueck. Das alles macht soviel Spass wie schon lange nichts mehr!“ Ja – aber nur Hannibal Lecter.

3. „Wie ein Ninja, der auf dem Hochhaus sitzt und konzentriert zum letzen mal die Klinge seines Schwertes prüft und küsst und sie dann in eine Nazi Demo gleiten lösst und ein romantisches, farbenfrohes Blutband purer Formvollendung anrichtet! Ein Feuersturm der totalen Übernahme bereitet sich in Flensburg vor um loszuschlagen!“ Ein Blutband. Aus Flensburg. Alles klar.

4. „In bester Tradition von Helden wie Cult Of Luna, Isis und Neurosis, aber dennoch mit einer angenehmen Eigenständigkeit läuten TEPHRA mit ,A Modicum Of Truth’ den Weltuntergang ein.“ Immerhin mit angenehmer Eigenständigkeit, was die Apokalypse viel erträglicher macht.

5. „Mal wieder nur mit schlechten Spruechen die Hintertuer bekritzelt und mit schelmischer Miene an der Bar den Barkompasen von Barcorde und von der Baerenjagd erzaehlt. Barnanas! So wie es frueher war.“ Ein Rätsel, dieser Text. Er geriet dem Schreiber zu einem Alliterations- und Binnenreimdelirium, das nur mit der exzessiven Einnahme von Barbituraten erklärlich ist.


Man gerät fast in die Stimmung für einen Ehrenmord. Aber vielleicht bau ich doch lieber das Terrarium um.

Was bisher geschah: 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1




30 Juni 2008

Rothkos heimliche Nackte, enttarnt



Vorm Besuch der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle hatte ich gelesen, dass Mark Rothko es nach seiner surrealistischen Phase – also nach dem Zweiten Weltkrieg – peinlich vermieden habe, Figuren auf seinen Bildern vorkommen zu lassen. Stattdessen konzentrierte er sich konsequent auf die suggestive Kraft gestapelter Farben.

Umso verblüffter bin ich, als mir auf seinem Gemälde „Nr. 12, 1949“ im Übergang zwischen dem orangen und lila Farbblock ein liegender Akt auffällt.

Die in Weiß gehaltene Nackte dreht uns den Rücken zu. Sie liegt auf der rechten Seite, das linke Bein ausgestreckt über dem angewinkelten rechten. Deutlich ist die Taille zu erkennen, der Hintern, der Übergang zum Oberschenkel, die schmalere Region ums Knie herum, die Wölbung der Wade.

Die langen Haare der Frau sind rotblond und fallen ihr schwerkraftgetreu über den Rücken. Eine echte Sensation: Rothko war selbst 1949 noch figürlich! Aufgeregt erzähle ich Ms. Columbo von meiner Entdeckung.

Ich fühle mich wie Schliemann in den Trümmern von Troja und bin sicher: Man muss hinfort die Rothko-Exegese in eine Zeit vor und nach der sogenannten Wagner-Entdeckung einteilen. Euphorisiert von dieser Aussicht zücke ich in aller Heimlichkeit die treue Digitalkamera.

Doch hier in der Kunsthalle ist das Fotografieren verboten, und so träge und lethargisch das Wachpersonal sich auch zu geben vermag, im entscheidenden Moment steht es doch stets da und ist streng mit mir.

Trotzdem wage ich einen ersten Knipsversuch. Leider wird er stark beeinträchtigt durch einen urplötzlich den Raum betretenden Uniformierten. Das Motiv erweist sich später zu Hause als nicht nur diagonal völlig verrutscht; der Bildausschnitt betont mehr den Fußboden als das Gemälde, und unscharf ist das Ganze zudem.

Das alles weiß ich natürlich im Angesicht von „Nr. 12, 1949“ noch nicht, ahne es aber schon ein Stück weit. Also folge ich aus durchweg niederen Beweggründen Mark Rothkos Tipp zum Umgang mit seinen Werken („Der ideale Abstand des Betrachters zum Bild beträgt 45 Zentimeter“) und schaufle unbemerkt von den herumschnürenden und heimlich hellwachen Museumslethargikern zwei weitere Fotos auf die SD-Karte.

Sie taugen erfreulicherweise als Beweis (s. hervorgehobenes Bilddetail), und nun darf gern die Rothko-Geschichte umgeschrieben werden. Sofern ein so fachkundiger wie einflussreicher Exeget Blogs liest und hier auf diese Enthüllung stößt.

Allerdings ist Nachruhm ja auch was sehr Schönes. Siehe Schliemann.

29 Juni 2008

Trotz der Niederlage

Würde ich twittern, dann twitterte ich jetzt das, was eine junge Anhängerin der deutschen Nationalmannschaft, die gerade eben unterm Balkon durchlief, trotzig sang.

Sie sang: „Deutschland ist viel schöner als Madrid!“

Aber ich twitter ja nicht.


Foto: Hoppsala.de

28 Juni 2008

Nichts in der Hose

In der Kiezkneipe Zoë, wo Fatih Akin damals eine Sequenz von „Gegen die Wand“ drehte, weiß man schon jetzt, wie das EM-Finale ausgehen wird. Wir liefen heute Abend daran vorbei auf dem Weg zum Konzert einer Mariachiband im Café Mexico in der Weidenallee, zu dem auch GP erschien.

Als ich und mein Jever so dasaßen und den Mexikanern beim Musizieren zusahen, fiel mir auf, dass sie allesamt recht wenig in der Hose hatten. Nicht, dass ich bewusst darauf geachtet oder diese Information aktiv recherchiert hätte, nein. Doch auch bei zunächst unbewusstem Betrachten der Band überwand irgendwann die erwähnte Erkenntnis meine Wahrnehmungsschwelle.

Freilich thematisierte ich sie nicht; so etwas ist nun wirklich kein Gesprächsstoff bei einem Konzert, erst recht nicht in Gesellschaft von Damen. Als ich später GP nach draußen begleitete, um ihm beim Rauchen Beistand zu leisten, sahen wir die Band durch die Scheibe von hinten.

„Weißt du, was mir auffällt“, sagte GP sinnierend wie zu sich selbst, „die haben alle nichts in der Hose.“ Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, denn genau das schwirrte ja auch mir unausgesprochen im Kopf herum.

GP allerdings hatte seine Erkenntnis – wie sich alsbald in einer vertiefenden Diskussion herausstellte – beim Betrachten der rückwärtigen Ansicht der Band gewonnen, ich hingegen stützte meine gewagte These auf die gegenüberliegende Seite.

Ms. Columbo trat hinzu und ließ sich von uns über alle Rechercheergebnisse informieren. „Das ist mir“, erwiderte sie trocken, „auch schon aufgefallen.“

Zusammenfassend und gestützt auf drei Zeugenaussagen kann man also mit Fug und Recht sagen: Diese Mariachis waren insgesamt nicht gerade üppig ausgestattet, weder vorne noch hinten. Immerhin – und das ist in ihrem Metier wahrscheinlich auch wichtiger – trugen sie sehr, sehr große Hüte.

Nichts als Kompensation, murmelte ich innerlich, fand es aber unfair, den Gedanken auszusprechen, und werde das mit Sicherheit auch nicht tun.

27 Juni 2008

Was Busreisen mit Soul zu tun haben



Heute steckte mir eine aus rätselhaften Gründen sachkundige Nachbarin, wie Busunternehmen bei längeren Urlaubsreisen die Arbeitsvorschriften austricksen.

Irgendwo unterwegs, zum Beispiel zwischen hier und Paris, fände zwar der gesetzlich vorgeschriebene Fahrertausch statt, erzählte sie – aber nur scheinbar, denn beide Fahrer führen in Wahrheit einfach weiter, und zwar jeweils den Bus des anderen.

So könnten beide Doppelschichten kloppen, ohne den Passagieren Verdachtsmomente zu liefern. Dass der „neue“ Mann am Steuer vor Erschöpfung drauf und dran sein könnte, den Nightliner in der nächstbesten Schlucht letal schlafen zu legen, ahnen sie nicht.

Tja, eventuell sind Busreisen auch nicht mehr das, was sie mal waren. Doch zu Hause ist es eh am schönsten – zum Beispiel frühabends auf dem noch kaum bevölkerten Spielbudenplatz, wo Strandkörbe, Kuschelkissen und Fläzsessel verlockende Signale aussenden, wo man im linden Abendhauch Caipirinhas süffeln und dabei Soulsängerinnen zuhören kann, die an einem Nachwuchswettbewerb teilnehmen.

Wie Indra Afia, die sich vor drei Stunden bestimmt noch nicht hat träumen lassen, mit ihrer Spielbudenplatzversion von „Gegen den Strom“ hier und jetzt veryoutubt zu werden.

Wäre sie stattdessen gerade auf einer Busreise gewesen,
zum Beispiel zwischen hier und Paris, hätte sie das elegant vermeiden können – aber möglicherweise nicht das letale Schlafenlegen in einer Schlucht.

Tja, wie man’s macht.


26 Juni 2008

Im Gefahrenraum



Am Rand der Budapester Straße, in Höhe des Stadions, ruht ein rammdösiger Betonklotz, dessen Funktion sich dem Laien nicht gleich erschließen will. Doch nicht der unbekannte Zweck des grauen Kastens beunruhigt den Durchschnittssanktpaulianer, sondern sein Warnaufkleber.

„Vorsicht!“, mahnt der Zettel nämlich, „nichtüberwachter Gefahrenraum!“

Schlagartig wird dem Durchschnittssanktpaulianer klar, dass er sich hier wirklich und wahrhaftig außerhalb des Blickwinkels einer Überwachungskamera befinden könnte. Eine grauenhafte Vorstellung.

Denn in der kamerafreien Zone kann alles passieren, dort ist jeder vogelfrei und zugleich zur Jagd freigegeben. Eine kamerafreie Zone fordert dich gleichsam explizit auf zu Raub, Mord und Schnorrerei, und keiner bekäme es mit.

Schlotternd flieht der Durchschnittssanktpaulianer daher diesen Kasten und huscht zurück auf die andere Straßenseite – zurück zur Geborgenheit der Reeperbahn.

In den überwachten Nichtgefahrenraum.

25 Juni 2008

Fürs Protokoll: Eine Chronologie der Ereignisse

Als beim Halbfinale Deutschland-Türkei das erste Mal das Bild ausfiel und von der Straßenparty vorm Haus erstmals Schreie der Enttäuschung hochwehten in den zweiten Stock, kam mir die vermeintlich glorreiche Idee, das Spiel übers Webfernsehen Zattoo weiterzuschauen.

Damit würde ich meinen Nimbus als Technikfex bei Ms. Columbo festigen können, so viel war gewiss. Doch bei Zattoo hatte man natürlich auch nur das Vertröstungsstandbild. Dann kam der Ton wieder, das Bild aber blieb still und starr. Sehr unschön.

Denn ein Standbild ist für den übersensiblen Plasmafernseher etwa so nützlich wie ein spitzer Stein unter der Strandmatte: Es gibt sozusagen Druckstellen. Also Fernseher aus, Zattoo gestartet, Ton über den Rechner gehört.

Dann kam das Bild zurück. Fernseher wieder an, Zattoo wieder aus. Doch der Ton war plötzlich flinker als die Bilder, weil das ZDF sich visuell inzwischen beim Schweizer Sender SF-Info bediente, für den Kommentar aber das Telefon benutzte. So kannten wir Kloses Tor schon vom Hörensagen, bevor es zu sehen war. Sehr unschön.

Die Lösung: Bild via Fernseher und Ton via Ms. Columbos prähistorischem Radio aus der Küche. Fahrig suchte ich auf der UKW-Skala nach einem übertragenden Sender, und da war er auch schon.

Mr. und Ms. Columbo vor dem Volksempfänger. Wie in alten Zeiten, die wir nie erlebt haben: im Halbdunkel sitzen und wahrnehmungslos ins Ungefähre starren, weil alles Ohr wird und nichts mehr Auge ist.

Aus dem Radio kam erstaunlicherweise ebenfalls Bela Réthys Stimme. Allerdings tänzelte sie jetzt keineswegs mehr keck und wieselflink dem Bild vorneweg, sondern humpelte nun hinter ihm her wie praktisch den ganzen Abend Arne Friedrich hinter jedem beliebigen türkischen Gegenspieler. Sehr unschön.

Also Radio wieder aus, Fernsehton wieder an; und plötzlich rasteten unverhofft auch alle Scharniere wieder ein, alles war synchron – bis zum nächsten Bildausfall. Wieder switchte das ZDF um aufs Schweizer Fernsehen, wieder erzählte uns Réthy bereits vom 2:2, bevor wir sahen, wie Lehmann höflich das kurze Eck offenließ, damit der Ball auch bequem durchpasste.

Und so ging rumpelig und als Spektakel für alle Sinne ein denkwürdiger Abend zu Ende. Erst nach dem Spiel stellte ich fest, dass auf der Senderliste von Zattoo auch SF-Info zu finden ist. Wir hätten das Spiel die ganze Zeit einfach gemütlich auf dem Rechner gucken können.

Wie ist es eigentlich ausgegangen?

24 Juni 2008

Ein Wein, der nicht weh tut

Obwohl dort selbst die Fensterscheiben mit roter Folie verhängt sind, damit das Licht schön bordellig durch den Raum schwebt, ist das Komet in der Erichstraße einfach nur eine Kneipe, und zwar eine sehr patente.

Dort läuft heute Abend coole alte Countrymusik, dort schmauchen die Gäste direkt vor den Rauchverbotsschildern gemütlich ihren Joint.

Und dort erläutert uns die dralle Bedienung den einzigen angebotenen Weißwein mit den Worten: „Das ist ein Spanier. Nichts Besonderes, aber er tut auch nicht weh.“

Und ganz genauso ist es auch. Vielleicht gucken wir dort morgen das Halbfinale.

23 Juni 2008

Die gemütlichsten Ecken auf St. Pauli (3)



Die bleierne Leere eines fußballlosen Abends versuche ich zu füllen – mit Staubsaugen. Seltsamerweise klappt es ganz gut.

Am schlimmsten wird es morgen Abend werden, denn die Wohnung ist sauber. Und die Stille vor dem nächsten Schuss wird ohrenbetäubend sein. Mal schauen, ob Ms. Columbo eine Alternative weiß.

Anderes Thema: Dank der verdienstvollen 3Sat-Wissenschaftssendung „Nano“ erfuhren wir heute, dass es in Deutschland nicht nur „Nabelschnurblutbanken“ gibt, sondern sogar „führende“ Nabelschnurblutbanken. Ein Wissen, mit dem ich jetzt jahrelang leben muss.

Die bleierne Leere eines fußballlosen Abends rechtfertigt geradezu jede beliebige Bebilderung. Deshalb hier völlig zusammenhanglos eine weitere üble Ecke St. Paulis, und keiner kann was dagegen tun. Entdeckt in der Balduinstraße.