02 Juli 2020

Ist die Maus ein Monster?

Es gibt Neuigkeiten von unserer Hausmaus, und zwar beunruhigende. Vielleicht sogar gruselige. Alles fing damit an, dass sie nach wochenlanger Sichtungspause plötzlich wieder durchs Wohnzimmer flitzte. Also baute ich erneut die Wildkamera auf und konnte die Rückkehr des Mininagers in der folgenden Nacht forensisch verifizieren. 

Angesichts der Fotos schien die Maus es ganz wunderbar zu finden, sich auf unserem flauschigen IKEA-Teppich zu tummeln. Deshalb sorgte ich ebendort für einen Köderparcours galore. Ich baute alles auf, was zur Verfügung stand: mit leckerstem Käse lockende Schlag- und Tunnelfallen sowie giftige Nutellatöpfchen sonder Zahl. Und davor die Kamera. 

Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass bei einer der Schlagfallen das Käsehäppchen fehlte, ohne dass sie ausgelöst worden war. Wie sich herausstellte, hatte ich Möchtegernkleinwildjäger schlicht vergessen, die Falle zu spannen. Die Maus hatte also aus der einzigen inaktiven Falle das Futter stibitzt und war – weil es sich um einen aus ihrer Sicht kapitalen Brocken handelte – jetzt wahrscheinlich auf Tage hinaus satt und zufrieden. 

Die Frage, die sich daraus ergab, war – wie oben erwähnt – beunruhigend. Denn woher um alles in der Welt wusste dieses Biest, dass ihr nur und ausschließlich von dieser einen dämlichen Falle keinerlei Gefahr drohte? Zufall? Die Sache fing jedenfalls an, unheimlich zu werden. Hatten wir es hier etwa buchstäblich mit einer Intelligenzbestie zu tun? 

Ich verdoppelte meine Anstrengungen. Neben zusätzlichen Fallen aus der weiterhin gut gefüllten Asservatenkammer installierte ich den Honeypot schlechthin: ein DIN-A4-Blatt mit acht symmetrisch ausgelegten Käsehäppchen, die ich jeweils mit einem verführerischen Klecks Giftnutella gekrönt hatte (s. Farbfoto unten). Hmmm!

Am folgenden Morgen sah ich mir die durch den Bewegungsmelder ausgelösten Fotos an. Es waren sehr, sehr viele. Sie zeigten die Maus, die durch den Köderwald spazierte wie ein Teenie durch Disneyland, sie schnupperte hier, schnüffelte dort und studierte auch mit Interesse das Käseblatt. 

Dann geschah etwas Seltsames, ja Verstörendes: Die Maus näherte sich einer der Schlagfallen, die ich Intelligenzbestie diesmal auch wirklich gespannt hatte (erstes Schwarz-Weiß-Foto oben) – und auf dem nächsten Bild (2) war die weiterhin gespannte Falle plötzlich käselos. Stattdessen lag der Köder auf dem Boden.

Allein das war schon unerklärlich. Aber dann schien dieses Monster von Maus mit dem Brocken auch noch Fußball gespielt zu haben, denn er hatte auf Foto 4 erneut seine Position verändert. 

Ich möchte also noch einmal explizit festhalten: Wir haben hier im Haus eine Maus, die sich a) Käse aus einer gespannten Schlagfalle holt, ohne dabei ums Leben zu kommen, und statt diese Chance zu nutzen und den Happen gefahrlos zu verzehren, kickt sie ihn b) lässig durchs Zimmer und entschwindet in die Nacht.

Was wird sie als Nächstes tun – uns aus Jux und Dollerei den Strom abdrehen? Die Senderbelegung am Fernseher verstellen? Hegels „Phänomenologie des Geistes“ mit Anmerkungen versehen? Und derweil Dutzende genauso schlauer Nachkommen herstellen?

Kurz: Wir brauchen Hilfe! ERNSTHAFT!!!



14 Juni 2020

Birgit, ich will ein Autogramm von dir!

Vom Tanzen habe ich zirka so viel Ahnung wie ein Karpfen von Atomphysik. Ein Manko, das mir vor allem in der Pubertät erhebliche Nachteile bescherte. In der Dorfdisco stand ich immer am Rand und guckte ersatzweise expressiv geheimnisvoll, um so auf die abhottende Weiblichkeit vielleicht auch ohne Schlenkereien interessant zu wirken. 

Hat aber nie funktioniert. Die heißesten Schnitten bekamen immer die Jungs mit den Gummigelenken, auch wenn die sonst nichts zu bieten hatten. Aber pubertierenden Mädchen ist so was egal. Hormone folgen stets dem Beat, nie der Birne. 

All das muss ich erst einmal vorwegschicken, um etwas begreiflich zu machen, was ich selbst noch nicht so ganz kapiere: mein jüngst entflammtes Interesse am Tanz. Genauer: dem Ballett. Der Grund dafür liegt in einem Korrekturauftrag, den ich vor einigen Wochen an Land ziehen konnte. Er kam vom SWR-Journalisten Thomas Aders, der einen dokufiktionalen Roman geschrieben hat über einen Ballettchoreografen namens John Cranko.

Noch nie hatte ich diesen Namen gehört, aber das ist beim Korrekturlesen natürlich egal. Man liest halt das, was man kriegt, ob chinesische Philosophen oder das „Wuhan Diary“, streicht die Fehler an, setzt oder eliminiert Kommas, schlägt Umformulierungen vor. Am Ende schreibt man eine Rechnung, und auf geht’s zum nächsten Projekt. 

Diesmal aber war es anders. Schon nach wenigen Seiten von Aders’ Roman „Seelentanz“ über das rauschhafte kurze Leben des einstigen Stuttgarter Ballettchefs Cranko, der in den 60er-Jahren das schwäbische Ensemble auf Augenhöhe mit dem Bolschoi und damit zu anhaltendem Weltruhm führte, geriet ich in einen ziemlich unprofessionellen Leseflow. 

Als Lektor und Korrektor ist es ja ähnlich wie bei jeder anderen Arbeit auch: Man tritt morgens seinen Dienst an, und wenn er spätnachmittags vorüber ist, kümmert man sich um die Freizeitgestaltung. Doch bei Aders’ „Seelentanz“ ertappte ich mich dabei, freiwillig noch eine Schicht dranzuhängen, und wenn abends das Haus und der Kiez zur Ruhe kamen, dann erwachte in mir nicht selten der Wunsch, noch ein paar Seiten weiterzulesen. Arbeit und Privates verschmolzen miteinander, die Grenzen zwischen Pflicht und Leselust verschwammen. 

Ich, genetisch ausgestattet mit dem Rhythmusgefühl eines arthritischen Breitmaulnashorns, interessierte mich plötzlich für Pas de deux, droit und quatre, wollte auf einmal mehr wissen über ouzonasse Nächte beim Stuttgarter Griechen Pireus, die Beziehungswirren der Startänzerin Marcia Haydée oder den fast fatalen Knöchelbruch der legendären Babyballerina Birgit Keil. Und ich – man glaubt es kaum – lud mir plötzlich Cranko-Ballette von YouTube runter!

Was war nur los mit mir? Nun, ich war einem verzaubernden Buch verfallen, in das der Autor sein Herzblut derart hineinfließen ließ, dass es wie eine Transfusion wirkt. Sogar auf einen Tanzmuffel wie mich. Und ich bin froh und stolz, irgendwie Teil dieses Projektes zu sein, auch wenn ich nur der Kommasetzer und -eliminierer vom Dienst war

Man kann „Seelentanz“ ab sofort hier erwerben, und das kann ich jedem nur empfehlen. Ballettfans natürlich sowieso – aber vor allem auch jenen, die damals in der Dorfdisco immer nur am Rand standen und denen nichts anderes übrig blieb, als expressiv geheimnisvoll zu gucken.

PS: Hat vielleicht irgendwer eine signierte Autogrammkarte von Marcia Haydée oder Birgit Keil im Angebot? Ich würde wer weiß was dafür geben – und sie im Flur neben die von Frank Zappa hängen.



Update vom 17.10.2024: Vier Jahre nach dem oben geschilderten unvergesslichen Korrekturauftrag ploppt plötzlich wieder der Name Cranko auf, diesmal im Rahmen eines Kinofilms. Sofort nahm ich natürlich hocherfreut an, jetzt habe jemand doch wahrhaftig Thomas Aders’ Herzensbuch verfilmt, und das Erste, was ich tat, war, auf IMDB Infos zum Film aufzurufen. Irgendwo auf der Liste der Beteiligten musste doch sicher der Name meines damaligen Auftraggebers auftauchen, wahrscheinlich als Co-Drehbuchautor, Berater, Ideengeber, überschwänglich Bedankter, was auch immer. Doch nichts da: verwunderlicherweise kein Aders, nirgends. 

Nun habe ich mir auch den Film „Cranko“ angeschaut – und meine Verwunderung mindert das kaum, wie ich gestehen muss, denn an vielen Stellen wirkt das bewegende Biopic so, als hätte der Roman nicht nur Pate, sondern gleich als Drehbuchblaupause parat gestanden. Egal ob da eine Ballerina, statt sich aufzuwärmen, lieber warm duscht oder der Generalintendant das Vortanzen einer Bewerberin mit despektierlichen Blicken und Kopfschütteln kommentiert: So steht es im Buch, und so zeigt es der Film. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die mich – wäre ich Thomas Aders – ziemlich auf Zinne bringen würden. 

Was ich mit alldem auch sagen will: Lesen Sie das Buch, schauen Sie den Film. Beides wird Ihr Schaden nicht sein, im Gegenteil.

07 Juni 2020

Unter Corona (8)

Der Musikclub Hafenklang destilliert das Beste aus der Krise, nämlich Sarkasmus. 

Eine Tür weiter interpretiert er zudem das klassische SOS neu: als „Save our sounds“. 

Entdeckt in der Großen Elbstraße.



24 Mai 2020

Unter Corona (7): Minus eins

Der Kiez kehrt allmählich zur Normalität zurück. Zwar sind die Kneipen, Bars und Puffs noch dicht. Doch das hinderte heute früh in der Silbersackstraße ein paar testosteronbesoffene Hitz- und Hohlköpfe nicht daran, sich vorm Haus neben dem Kiezbäcker aufs Maul zu hauen. 

Endlich wieder blutige Nasen! Wie hab ich das vermisst. 

Mittags spazierten wir durch die Taubenstraße und begegneten einem weiteren kiezspezifischen Phänotyp, der zuletzt von den Straßen des Viertels verschwunden war: dem schallstark streitenden Paar. 

„Du denkst nie an mich!“, schrie sie ihn an. „Total null! MINUS EINS!“ Wir zogen innerlich die Hüte vor dieser schön eskalierend aufgebauten Beschimpfung. Und er wohl auch, denn ihm fiel verständlicherweise kein einziges Widerwörtchen ein.

Wenn uns jetzt noch jemand in den Hausflur kackt, dann haben wir unser altes Leben zurück. 


21 Mai 2020

Der Pitbull unter den Fahrradschlössern

Anfang August 2016 wurde mir zum bisher letzten Mal ein Fahrrad gestohlenEs war bereits der achte Verlust dieser Art, seit wir auf St. Pauli leben. Zum Glück aber handelte es sich dabei nur um mein Zweitrad vom Flohmarkt, ein hauptsächlich von Rost und Kabelbindern unzulänglich zusammengehaltenes Ensemble minderwertiger Bauteile. 

Mein Hauptrad hingegen, ein robustes 16-Kilo-Modell von Trento mit sieben Gängen und Rücktrittbremse, hatte ich ein Jahr zuvor erworben – neu zwar, aber mit einem Kaufpreis von rund 450 Euro keineswegs hochkarätig genug, um bei ethisch-moralisch desorientierten Vollspacken sofort Gedanken an eine illegale Aneignung auszulösen. Außerdem hatte ich damals endlich, endlich erstmals erhebliche finanzielle Ressourcen in eine Sicherungsmaßnahme gesteckt. Will sagen: in ein Schloss, das laut Stiftung Warentest und anderen seriösen Quellen bei Dieben gemeinhin zu Heulen und Zähneklappern führen soll.

Es handelte sich dabei um ein gummiummanteltes Faltschloss aus gehärtetem Stahl namens Bordo Granit XPlus 6500, kostete sechsundachtzig Euro (also fast doppelt so viel wie das oben erwähnte Flohmarktrad) und hätte sich mit seinen knapp zwei Kilo Gewicht auch problemlos für eine Karriere als Bizepshantel entscheiden können. Doch das Bordo Granit XPlus 6500 wollte nie etwas anderes als Fahrradschloss sein, und diese Aufgabe erfüllte es in meinen Diensten hinfort mit Duldsamkeit und Eifer. 

Seit fast fünf Jahren arbeitet es nun schon Tag und Nacht, bei Sonne und Regen, Sturm und Eis, ohne je zu klagen oder Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen – und siehe da, ich habe mein Rad noch immer. Da die bisherige Durchschnittshaltedauer meiner Fahrräder bis zum unweigerlich stattfindenden Diebstahl bei knapp drei Jahren lag, rechne ich das voll meinem Bordo an. Es ist halt der Pitbull unter den Fahrradschlössern: Niemand wagt es, sich mit seinem Herrchen anzulegen.

Vorgestern wurde das mal wieder äußerst evident. Das direkt neben meinem ans Fußweggeländer angeschlossene Fahrrad war gestohlen worden. Ein seiner Verantwortung nicht gerecht gewordenes Zahlenschloss hing düpiert am Rohr, die zerfetzten Fasern seiner Stahlseilspirale lugten ratlos aus dem Kunststoffschlauch (im Bild rechts). Und links daneben mein Bordo Granit XPlus 6500: unversehrt und tadellos. Es würdigte seinen Artverwandten, diesen Chihuahua unter den Fahrradschlössern, keines Blickes. Ich platzte fast vor Stolz.

Allmählich übrigens zeigt mein 450-Euro-Trento-Stadtrad – obgleich scheckheftgepflegt! – erste Anzeichen von Abnutzung, ja vielleicht sogar von Altersschwäche. Nach fünf Jahren und mehr als 10.000 gefahrenen Kilometern darf ich ihm das wahrscheinlich nicht einmal krummnehmen. 

Dass es mir endlich gestohlen wird, wie es im Schnitt nun mal alle drei Jahre vorkommt auf St. Pauli, ist diesmal allerdings keine Option. Bordo wird es nicht zulassen.



 

04 Mai 2020

Unter Corona (6): Die Große Freiheit ist kaputt


Die Große Freiheit, wo sonst sehnige Dollhouse-Damen an Stangen herumrutschen oder Olivia Jones (rechts im Bild) Travestiekünstler auf die Bühne schickt, die alle aussehen wie Olivia-Jones-Klone (weshalb das Foto eventuell auch einen dieser Klone und nicht Olivia Jones zeigen könnte), diese Große Freiheit sieht im Moment alles andere als amüsierviertelkompatibel aus. 

Denn die Straße ist auf ganzer Strecke eine einzige offene Wunde, sämtliche Gehwege sind aufgerissen, von vorne bis hinten. Herrschte jetzt der ganz normale Touristenstromwahnsinn, wie er hier außerhalb von Pandemien alltäglich und -nächtlich ist, dann wäre dieses Bauprojekt nichts weniger als die städtebauliche Variante einer OP am offenen Herzen. 

So aber muss man sagen: perfektes Timing, liebes Straßenbauamt – besser kann man die Coronapause im Rotlichtviertel nicht nutzen.


23 April 2020

Unter Corona (5): Die Herbertstraße hat den Blues


Nicht nur Restaurants, Bars, Fitnessclubs und Frisörläden haben zu, sondern auch Puffs. Für St. Pauli natürlich ein besonders schmerzlicher Zustand. Zu den Hauptbetroffenen gehört eine stadtteilspezifische Institution mit weltweiter Bekanntheit: die Herbertstraße. Wobei sie natürlich nicht zugesperrt ist – wie auch, sie ist schließlich keine private, sondern eine öffentliche Straße. 

Allerdings ist sie zurzeit völlig verwaist, die hundert Meter lange Pflasterstraße hat den Blues. Ein beispielloses Elend, das unbedingt dokumentiert und somit verewigt gehört. Deshalb ging ich gestern bei schönstem Frühlingswetter dort vorbei. 

Einen Fotoapparat zu zücken gehört in der Herbertstraße normalerweise zu den tödlichsten aller Todsünden, und wer das in der Vergangenheit wagte, bekam sofort Riesenärger mit loszeternden Huren, aber alsbald auch mit deren Luden, und vor allem Letzteres ist – wie ich mir von gewöhnlich gut informierten Kreisen habe erzählen lassen – ganz und gar nicht zu empfehlen. Da bleibt es selten beim Zetern, nein, da fällt blitzschnell Elektroschrott an und manch ein Schneidezahn aus, und melden Sie dieses Ungemach mal auf der benachbarten Davidwache – die Kollegen dort hegen mehr Sympathie für hurenrächende Luden als für Fotospanner wie Sie, versprochen.

Jedenfalls wirkte die Ruhe in der Herbertstraße geradezu meditativ. In den Schaufenstern, wo sonst die bestens drapierten Damen Modalitäten verhandeln, liegen nur noch ihre Handtücher auf depressiven Drehstühlen herum. Immerhin wirkt das Interieur allzeit bereit; man hat den Eindruck, als wäre es binnen Minuten reaktivierbar. Und wer weiß, vielleicht wird das auch bald schon nötig sein. Denn warum sollten Frisöre wieder öffnen dürfen, aber die Herbertstraße nicht? Körperkontakt ist Körperkontakt.

Wenn Sie, liebe Leserinnen, also eine Zone, die für Sie außerhalb von Pandemien generell tabu ist, einmal unbehelligt inspizieren wollen, so tun Sie das am besten bald. Und wenn es nur zum Meditieren ist, mitten in der Stadt.






21 April 2020

Unter Corona (4): Vom Ausmisten

Seit die Pandemie Besitz ergriffen hat von der Welt, ist vieles anders, nicht nur im Großen, auch im Kleinen. Wenn man durch das gelähmte Hamburg läuft, fällt zum Beispiel auf, wie viel zu Verschenkendes plötzlich die Gehwege verziert. Anscheinend kommen die Menschen vor lauter Lockdownlangeweile endlich einmal dazu, die Bestände zu sichten. 

Vor allem Bücherkisten stehen draußen herum, heute sah ich zudem zwei Paar Damenschuhe sowie CDs und Handyschutzhüllen. Allerdings gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass irgendetwas davon auch nur einen der rar gesäten Passanten interessiert. Ausnahme: eine Pappschachtel mit (natürlich noch verschlossenen) Chipstüten, die am Wochenende bei uns im Treppenhaus stand. Keine zwei Stunden später war sie leer – und das sogar ohne unsere Mithilfe. Wir sind eher chipsophob.

Eine zweite Auffälligkeit betrifft einen erheblich unappetitlicheren Sachverhalt: Überall in der Stadt tauchen plötzlich Hotspots eingetrockneter Vogelkacke auf. Beide, Mensch und Tier, scheinen in der Not also auszumisten. Das Guanophänomen läuft allerdings aufs Merkwürdigste einer hier in Hamburg gerade breit diskutierten Entwicklung zuwider, nämlich der unter den Tauben grassierenden Hungersnot. 

Seit die vom Lockdown zum Konsumverzicht verdonnerten Menschen mangels Gelegenheit weniger Müll unsachgemäß entsorgen, müssen die armen Vögel darben. Wie sie es aber schaffen, im Gegenzug die Produktion von Exkrementen mächtig anzukurbeln, dürfen uns gern die Ornithologen erklären. Oder noch besser die Physiker, denen dieser aufregende Fall eines taubeninduzierten Perpetuum mobile – man steckt oben weniger rein, bekommt hinten aber mehr raus – sicherlich viel zu forschen aufgibt. Vielleicht liefern uns diese seltsamen Vögel damit sogar die Lösung aller künftigen Energieprobleme?

Die heute Nachmittag auf dem Heiligengeistfeld herumstaksenden Tauben schien das Dramatische ihrer Situation indes kaum zu kümmern. Es wurde fröhlich herumgebalzt, man umtänzelte und bestieg sich munter; ja, diese vögelnden Vögel taten ganz so, als gäbe es doch ein Morgen. Ein tröstlicher Gedanke, der augenblicklich meinen Tag erhellte. 




18 April 2020

Fundstücke (245)

Bei dem Werbespruch „Wir kleiden Sie zauberhaft ein“ hätte ich – aber das mag an mir und meinem wahrscheinlich einfach zu konservativen Modegeschmack liegen – nicht zwangsläufig das beispielhaft abgebildete Outfit erwartet. 

Dieser konservative Modegeschmack versucht mir gerade einzureden, es sei augenscheinlich nicht immer von Übel, wenn ein Geschäft dank höherer Gewalt zwangsgeschlossen wird, aber das wäre unfair, deshalb wehre ich mich in aller Form gegen diesen Gedanken und schäme mich dafür.

Entdeckt auf der Reeperbahn, St. Pauli.



06 April 2020

Fundstücke (244)


„Früher“, sagte Ms. Columbo heute Nachmittag beim Anblick dieser Schaufensterinfo, „nannte man das Adoption.“

Entdeckt in der Wohlwillstraße, St. Pauli.


05 April 2020

Unter Corona (3): Nur die Dealer arbeiten noch

Hamburg – und damit natürlich auch St. Pauli – ist zurzeit komplett touristenfrei. Der im vergangenen Juni an dieser Stelle dokumentierte feuchte Traum aller Gentrifzierungsgegner wurde also schneller wahr als gedacht. Wenn auch aus ganz anderen Gründen.

Die Stadt liegt leise und leer in der Frühlingssonne. Ein böiger Ostwind fegt um die Ecken. Wenn man lange Spaziergänge macht – zum Beispiel vom Jenischpark im Westen, wohin man in einem leeren Bus der Linie 111 fuhr, zurück nach St. Pauli –, sollte man nicht zu viel getrunken haben und auch unterwegs nichts nachgießen, denn neben der Gastronomie sind auch die öffentlichen Toiletten geschlossen. Wir bewältigten die Herausforderung mit Bravour, aber knapp. 

Unter den wenigen, die ihr Geschäft nicht geschlossen haben, sind die üblichen afrikanischen Dealer an der Balduintreppe. Sie stehen dort zu viert im Karree. Zwischen ihnen klafft der behördlich angeordnete Mindestabstand von mehreren Metern, sodass wir als Spaziergänger sogar hindurchlaufen können, ohne gesetzesbrüchig zu werden. Man möchte den Herren danke sagen für ihre Einsicht in die Notwendigkeit. Wie es allerdings aussähe, wenn sie gerade ein Geschäft abwickelten, also Geld entgegennähmen und dafür Ware rüberreichen müssten, das können wir nicht sagen; denn als wir vorüberliefen, herrschte dealtechnisch gerade Ebbe.

In der Bernhard-Nocht-Straße hing ein Plakat mit der Aufschrift: „Wer hamstert ist zu faul zum Plündern“, und wie fast immer ist unabhängig von der getroffenen Aussage schärfstens zu monieren, dass sie kontaminiert wird von einem kapitalen Rechtschreibfehler, hier ein abwesendes Komma. Warum haben jene mit Botschaften so selten die Fähigkeit, sie auch korrekt auszudrücken? Gibt es da vielleicht sogar einen Zusammenhang? 

Jedenfalls werden Korrektoren und Lektoren weiterhin gebraucht, auf allen Ebenen. Was mir die Gelegenheit gibt, noch einmal freundlich auf meinen Blogeintrag vom 15. Januar hinzuweisen. 




22 März 2020

Mit ohne Autos


Den Ernst der Lage erkennt man auf St. Pauli an zwei Dingen: 

1. keine Huren auf der Straße
2. freie Parkplätze

Auf diesem Foto sehen sie unten einen leeren Streifen. Es ist eine Parkbucht unter unserem Balkon in der Seilerstraße. Mit ohne Autos. Am Samstagabend.

Mehr muss man nicht wissen.



21 März 2020

Unter Corona (2): Des Virus nützliche Idioten

Was nützt einem in diesen Zeiten schon der brav eingehaltene Zweimeterabstand zu entgegenkommenden Spaziergängern, wenn keuchende, schwitzende, tropfende Jogger regelmäßig diese Lücke nutzen, um hindurchzulaufen? Heute Vormittag in Planten un Blomen (Foto) passierte uns das mehrfach. 

Außerdem rannte eine Läuferin mit Kopfhörern derart nah an mir vorbei, dass es beinahe zur Kollision gekommen wäre. Aber wahrscheinlich dachte sie, dass Anrempeln ja gar kein Übertragungsweg sein kann, weil der Virologe Drosten das in seinem Podcast noch nie erwähnt hat (sofern sie je von Drosten oder diesem komischen Virus, das heißt wie ein Bier, gehört hat). Und für das Trio russischer Jungs, das uns wenig später frohgemut palavernd überholte, war Social Distancing auch eher ein sehr fremdes Fremdwort.

Warum ich das alles erwähne: weil es erklären soll, warum ich die Wirksamkeit der offiziellen Appelle und Aufrufe, die uns davon abhalten sollen, zu Virenschleudern zu werden, eher skeptisch betrachte. Die Scheißegalhaltung vieler Mitbürger wird uns nicht nur mehr Infizierte, mehr Schwerkranke und letztlich mehr Todesopfer einbrocken, sie wird uns in Bälde auch einige bürgerliche Freiheiten kosten – und leider auch viele gute Argumente dagegen. Oder hat wenigstens die FDP noch ein paar überzeugende in petto? Ich zweifle.

Ab Montag dürften demzufolge verschärfte Ausgangsbeschränkungen in Kraft treten, die auch unsere tägliche Runde durch Planten un Blomen – den ausgedehnten Park, der vom Millerntorplatz auf St. Pauli bis zum Messegelände mitten durch die Stadt mäandert – ernsthaft gefährden könnte.

Zum Glück ist unsere Wohnung vom einen bis zum anderen Ende fünfzehn Meter lang. Wir müssten sie nur vierhundertmal ablaufen, und schon hätten wir einen ausgefallenen Spaziergang durch Planten un Blomen kompensiert. Und das sogar bei besserer Musik!



18 März 2020

Fundstücke (243)


Gut, St. Paulianer wählen zwar keine Rechten, aber ansonsten sind wir wohl auch nur ganz normale Durchschnittsdeutsche. Entdeckt bei Edeka, Paul-Roosen-Straße.

16 März 2020

Unter Corona (1): Von okay auf null


Am Samstag waren wir morgens noch mal im Fitnessclub und abends mit Freunden im Portugiesenviertel essen, am Sonntagvormittag huschten wir noch mal ins Kino („Bombshell“) und lustwandelten danach durch Planten un Blomen, wo unbeeindruckt Krokusse blühen und der Bärlauch die ersten zarten Spitzen reckt – und ab sofort ist das alles, das öffentliche Machen und Tun, auf unabsehbare Zeit vorbei. 

Hier auf dem Kiez sind die Nächte gespenstisch still geworden, es ist schlimmer als an Karfreitag, an der Davidstraße steht nicht eine Hure mehr. Und über den Dächern der Reeperbahn schimmern Dutzende Sterne mehr als sonst, weil der heruntergedimmte Hafen weniger Lichtsmog gen Himmel schickt. Unser aller CO2-Bilanz wird gezwungenermaßen fantastisch ausfallen dieses Jahr.

Weniger fantastisch hingegen sind die Aussichten vieler Selbstständiger, und davon haben wir einige im Freundes- und Bekanntenkreis. Katha zum Beispiel ist freie Fitnesstrainerin. Die Verfügung des Hamburger Senats, ab sofort stadtweit alle Fitnessclubs dichtzumachen, ist so logisch wie notwendig, nur bricht für Katha damit von einem Tag auf den anderen das komplette Einkommen weg. Von okay auf null. Wie lange sie nun von ihren Reserven leben muss und wie lange die reichen werden, weiß niemand. 

Und die selbstständige Profifotografin Anne, bisher gut ausgelastet nicht nur mit Porträt- und Hochzeitsfotografie, sah in den vergangenen Tagen von jetzt auf gleich sämtliche Aufträge der nächsten Wochen wegbrechen. Was tun zur Überbrückung? Auf ihrer Webseite ihren Bilderkatalog zum Kauf anbieten, um in der nächsten Zeit halbwegs über die Runden zu kommen. 

Annes Selfie, das diesen Blogeintrag illustriert, gehört natürlich auch zum dort angebotenen Portfolio – und soll zum einen zeigen, mit welcher Künstlerin es potenzielle Bildkäufer überhaupt zu tun haben, und zum anderen, was die Frau fotografisch und gestalterisch und als Model so drauf hat. Wer sich auf ihrer Seite umschauen und sich über die Modalitäten ihres Katalogverkaufs informieren möchte, klicke gern auf diesen Link.

Und ansonsten gilt auch unter Corona das, was der Slampoet Rainer Maria Rilke schon 1902 so ähnlich in Verse goss: „Wer jetzt kein Netflix hat, braucht es umso mehr.“ 

Foto: Anne Hufnagl 


14 März 2020

06 März 2020

Vielleicht Salzsäure?

Heute kam ein Mann mit zwei Bierhumpen aus der erst neulich erwähnten Kiezkneipe Tippel II, als ich dort gerade die Straße überquerte. Beide Gläser waren halb gefüllt mit einer farblosen Flüssigkeit, augenscheinlich Wasser. Was will er damit, und wo will er hin?, fragte ich mich im Vorübergehen. 

Die Antwort gab er prompt. Der Mann ging nämlich stracks zum roten Hängemülleimer und kippte das, was immer auch die Humpen halb füllte, dort hinein. 

Unter den bizarren Verhaltensweisen, die uns im Lauf der Jahrzehnte auf dem Kiez begegnet sind, gehört diese aus dem Stand und fortan zu den bizarrsten. Was hätte dagegen gesprochen, beide Gläser in die Botanik am Wegesrand zu entleeren, zumal es eh von oben tröpfelte? Warum stattdessen in den Mülleimer? Handelte es sich bei der glasklaren Flüssigkeit vielleicht gar nicht um Wasser, sondern um etwas, mit dem keinesfalls ein Busch oder Bäumchen gegossen werden darf – vielleicht um so was wie … Salzsäure?

Aus dieser Überlegung ergäben sich allerdings dermaßen viele und durchaus verstörende Folgefragen, dass ich Sie damit gerne an dieser Stelle alleine lassen möchte.


24 Februar 2020

Wenn der Kiez die Wahl hat

Das hier dokumentierte Abstimmungsverhalten in unserem Wahllokal auf St. Pauli ist zwar alles andere als repräsentativ, aber durchaus nicht unerfreulich.

So ließen wir Rotlichtviertelbewohner – Ab­ra­ka­da­b­ra, Simsalabim! – die völkisch-nationalen Rassisten spurlos im anonymen Sammelbecken der Sonstigen verschwinden. Und der Partei Die Partei (der ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, bereits seit mindestens sechs Jahren die Mitgliedsbeiträge schulde) schanzten wir fast doppelt so viele Stimmen zu wie der CDU.

Nein, das harte Pflaster von St. Pauli ist seit jeher kein gutes für Rechte und Rechtsaußen und diesmal erst recht nicht. Träte die Antifa auf dem Kiez unter eigenem Namen an, müssten sich wahrscheinlich sogar sämtliche Parteien links der Mitte sehr warm anziehen. Oder warum stellt nicht gleich der FC St. Pauli eine eigene Liste auf? Politisch genug ist unser kleiner Stadtteilverein doch allemal, und wer sagt, dass sich nur Parteien zur Wahl stellen dürfen? Niemand, Herr Göttlich!

Für die Bürgerschaft würde es natürlich trotzdem nicht reichen, da wären schon die stadtweit immer noch vielköpfigeren HSV-Fans vor – und zwar nicht erst, seit sie am Samstag die bitterste Heimniederlage des Jahrtausends zu verdauen bekommen haben.

Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, war das vergangene Wochenende für mich ein von Behagen und wohligem Genuss geprägtes, zumal zu allem Überfluss auch noch mein Herzensverein seit Kindertagen, der 1. FC Köln, in Berlin auf unverhoffte Art und Weise zu reüssieren wusste. Manchmal fügt sich eben alles zum Besten, und das Leben wäre nicht lebenswert, wenn man selbst solche Tage nicht genösse bis zur Neige.

Und jetzt, liebes Wahlvolk in der Restrepublik, bitte zu Hause nachmachen, das mit dem Ab­ra­ka­da­b­ra und Simsalabim. Danke.

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16 Februar 2020

03 Februar 2020

Von Mäusen veräppelt

Vielleicht erinnern Sie sich: Unlängst schrieb ich unter dem Titel „Sie nagen einfach nicht“ über unseren flächendeckenden Mäusebefall und bemängelte den unzulänglichen Appetit der Nager auf unsere Giftköder. Auch die überall verführerisch aufgestellten Schlagfallen umliefen die Possierlinge weiträumig. 

Die Vergrämungsprofis um den alten Fahrensmann Herrn B., die die Lage inzwischen fast wöchentlich neu beurteilen, blieben so ratlos als wie zuvor. Wenn wir mal wieder eine Sichtung schilderten, begannen die Herren nur halb verhohlen die Stirn in Falten zu legen – fast als dächten sie, wir bildeten uns die Mäusepopulation nur ein.

Um unserer Glaubwürdigkeit gegenüber B. und seinem Platoon auf die Sprünge zu helfen, habe ich deshalb neulich bei Aldi eine billige Wildkamera geschossen (ursprünglich 89 Euro, jetzt nur noch 29). Und siehe: Gleich in der ersten Nacht erwies sich das Gerät als Volltreffer. Zunächst fotografierte es eine Maus, die es sich unter unserem Esstisch wohl sein ließ. Auch ein lustiges Herumhoppeln war verschwommen dokumentiert. 

Tatsache war also, dass die Mäuse uns gleichsam auf der Nase herumtanzten, und ich konnte es beweisen. In unmittelbarer Nähe von Gift und Fallen hatten sie Spaß und Freude, aber ebenso wenig Todesmut wie Hunger. Ich empfinde so was als ziemlich düpierend. 

Doch erst das dritte Foto, entstanden in derselben Debütnacht, zerschmetterte mich vollends. Zu sehen ist es oben. Es zeigt eine Maus, wie sie aus unmittelbarster Nähe die Wildkamera inspiziert und wahrscheinlich sogar beschnuppert. Wäre ihr Schnütchen nicht abgeschnitten, ich bin mir sicher, wir sähen sie lächeln.

Heute habe ich den wieder einmal unverhofft hereinschneienden Herrn B., der in unserer Wohnung inzwischen buchstäblich jeden Spalt kennt, die Beweisfotos gezeigt und sogar einen interessanten kleinen Mäusefilm, der zwei Nächte später entstand.

Herr B. wirkte hilflos. Gift, murmelte er, habe das im Film zu sehende Tierchen sicherlich noch nicht gefressen, dafür sei es „zu schnell“. In zwei Wochen will er wiederkommen. Ich hoffe, er bringt Zeit mit. Ich werde in Beweismaterial schwimmen.


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