05 Mai 2006

Die Merkwürdigen

Hamburg ist ein Hort der Seltsamkeiten. Menschen kaufen Baguettes und legen sie dann auf einer Randsteinecke ab. Andere kriegen die Krise in aller Öffentlichkeit oder schleppen sie zumindest mit dort hin.

Wie dieses merkwürdige Pärchen. Als ich es zuletzt sah (von unserem Balkon aus), dachte ich noch, es befände sich in einer Ausnahmesituation. Er, mit Schnauzbart und Militaryjacke, schrie sie zusammen wie von Sinnen. Seine Arme schlenkerten dabei gefährlich sensenartig durch die Luft, und sie stand da, die schwarzen Haare schludrig hochgesteckt, und hielt sich an der Hundeleine fest, an deren anderem Ende eine handtaschengroße Promenadenmischung geduldig auf die Fortsetzung des Gassigehens wartete.

Ab und zu versuchte sie etwas zu sagen, woraufhin er einfach den Wut- und Lautstärkepegel verdoppelte. Er umkreiste sie dabei wie ein hungriger Panther und schrie und schrie. Keine Ahnung, um was es ging, ich verstand praktisch nichts.

Mir kam die Beziehung der beiden jedenfalls recht asymmetrisch vor. Auch die Qualität ihrer Konfliktbewältigungsstrategien schien mir steigerungsbedürftig. Doch ich hielt das, wie gesagt, für eine Ausnahmesituation.

Bis gestern morgen. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich die beiden wieder. Gleiche Konstellation, sogar gleiches Outfit. Und die gleiche Schreierei, das gleiche Gefuchtel, und wieder starrte sie dumpf und hundgebunden auf den Gehweg, hub hie und da an zu einer Erklärung, einem Widerwort, was sein Brüllen aber nur steigerte bis an den Rand der Hyperventilation.

Ihre … Kommunikation scheint generell dergestalt abzulaufen. Offenbar brauchen sie einander genau so. Wie anders wäre die eingespielte Choreografie und die Dauerhaftigkeit dieses öffentlichen Krisenszenarios zu erklären? Auch er müsste doch eigentlich glücklicher sein mit einer Frau, die seine Drüsen eher zur Endorphin- als zur Adrenalinproduktion anregt. Denkt man zumindest als Außenstehender, aber was weiß ich schon.

Ich rubriziere die beiden schulterzuckend unter sanktpaulianische Exzentriker, und wie es der Zufall will, läuft mir gestern ein weiterer, auf ganz andere Weise merkwürdiger Mensch über den Weg, diesmal in Ottensen.

Er tritt aus einem Ladengeschäft auf die Straße, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ungefähr Mitte 50, schlank, mit grauen, vollen Haaren und unauffälliger Brille. Er trägt ein legeres Freizeithemd, hat es allerdings in die Jeans gesteckt. Alles ganz normal. Gut, eine Nuance von Verwegenheit haftet ihm an, etwas leicht Udo-Kier-haftes. Doch dann fällt mein Blick auf seine Schuhe. Und ich weiß, dass ich erneut jemanden als urbanen Exzentriker rubrizieren muss.

Der graue, bebrillte Mittfünfziger, der hier gemütlich auf der Ottenser Hauptstraße eine Zigarette schmaucht, trägt … zehn Zentimeter hohe Highheels. Mit vergoldeten Absätzen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit hohem Exzentrikgehalt
1. „This town ain’t big enough for both of us“ von Sparks
2. „Lola“ von The Kinks
3. „I fell in love with a dead boy“ von Antony & The Johnsons

04 Mai 2006

Die Fundstücke des Tages (17)

1. Mensch, ist das rührend. In einer ebenso dramatischen wie poetischen Mail an seine Fans jammert der sonst so martialische Bassist der Red Hot Chili Peppers, Flea (Foto), über den Unhold, der das neue Album „Stadium Arcadium“ bereits vor Veröffentlichung ins Netz gestellt hat. Und Flea informiert die Anhänger zudem in herzerweichenden Worten über die Folgen, die es für die Band hätte, lüden sie sich das Werk illegal down – man sollte einen Song draus machen:

„ … that will break my heart
it will break john frusciante's heart
it will break anthony kiedis's heart
and it will break the heart of chad smith …“

Vor allem der überraschende Schemawechsel in der letzten Zeile hat Klasse. Und mal ehrlich: Wer beim Lesen dieser Verse kein Taschentuch zückt, der hat sich noch nie in das verletzliche Innerste eines Multimillionärs hineinversetzt. Schämt euch.
2. Wer für die Zeitschrift Freundin bloggt, sollte laut Chefredakteurin Ulrike Zeitlinger angeblich bereit sein, „für erst mal no pay zu committen“. Frau Zeitlinger indes sollte erst mal für viel pay einen Rhetorikkurs joinen und erst danach wieder in public speaken. Got it?
3. Neue Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:
„ich blas dir einen“ (Rodenbach, Hessen)

„wichsen mit koks“ (Westhofen, Nordrhein-Westfalen)

„Nackte Frauen - Harley Davidson clubs“ (Wien, Österreich)

„meine ex saugt“ (Merrylands, New South Wales, Australien)

02 Mai 2006

Cold turkey

Unruhe macht sich breit. Ich bin fahrig und nervös. Meine Gedanken kreisen nur um das Eine. Aber ich habe es nicht. Ich brauche Hilfe, um es zu bekommen. Und der Dealer Mann, der es mir beschaffen kann, lässt sich gut bezahlen. Sehr gut. Doch was will ich machen? Es muss sein, ich muss das Geld locker machen. Sonst werde ich verrückt. Sonst tue ich Dinge, die ich bereuen werde.

Ms. Columbo zeigt ähnliche Symptome, wenn auch nicht so stark. Tatsache ist: Wir sind beide süchtig. Wir brauchen den Stoff, dringend. Sofort.

Und heute, heute war es endlich so weit, nach schrecklichen, furchtbaren, fiebrigen Tagen. Er kam. Der Mann, der unser Problem lösen konnte. Der Mann, der ihn wieder herstellte: unseren Internetzugang …

Manchmal frage ich mich, wie sie überhaupt funktioniert haben, jene Jahrzehnte ohne Web. Wie war es, keine Mails zu bekommen? Wie klappte das Leben ohne Google? War eine Existenz ohne Spiegel online nicht leer und fad? Wie fühlt man sich ohne den dpa-Ticker? Ohne Blogs?

Ja, es war ganz furchtbar, aus heutiger Sicht, aber es ging ja offenbar doch. Damals vermisste man nichts. Das onlinelose Leben war … auch schön, auf seine Art. Doch das wird auch der Junkie sagen, der die Zeit vor dem ersten Schuss Revue passieren lässt. Der erste Schuss verändert eben alles. Wie die erste Mail.

Es war ja nicht mal so, dass uns der Onlinezugang Ende April ganz und gar abhanden gekommen wäre. Nein: Nur das WLAN funktionierte nicht mehr, und wir mussten auf die archaische Kabelverbindung zurückgreifen. Es liefen wieder lachhafte Leitungen durch die Wohnung. Wir waren gefesselt an einen festen Ort. AirPort war tot, und das Ethernet als Methadon reichte einfach nicht aus, um die Entzugssymptome zu lindern.

Wenn ich im Urlaub bin, sondiere ich sofort die Onlinelage. Gibt es in diesem gottverlassenen Stranddorf ein Internetcafé? Und was – verdammt noch mal – mache ich, wenn nicht? Abreisen? Nur noch Großstadt buchen? Ich meine: Infrastruktur ist toll! Das findet auch Ms. Columbo.

Im Oktober fahren wir übrigens nun doch nicht nach Sardinien. Sondern nach Rom. Wegen der antiken Schätze. Klar.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Sucht
1. „Heroin“ von Velvet Underground
2. „Kokain“ von Hannes Wader
3. „I can't stop lovin you“ von Ray Charles

Oh my Google!

In der mittlerweile 16-teiligen Serie „Fundstücke des Tages“ habe ich dokumentiert, mit welch schrulligen Suchabfragen Websurfer bisweilen hierher finden. Und schon mehrfach fiel auf, welche Fehleinschätzung mancher Frage zugrunde liegt. Viele halten Google offenbar für eine Art virtuellen Experten, der nach Formulierung der Frage zu sinnieren beginnt und schließlich im Stile von Dr. Sommer sein sorgsam abgewogenes Fachwissen teilt.

Was dieser Blogger allerdings erlebt hat, toppt alles. Folgende Google-Abfrage nämlich führte zu seinem Blog:

also, das buch spielt zur zeit der großen hungersnot, und es geht um eine mutter (was mit dem vater ist, weiß ich nicht mehr genau, kann sein, dass der tot war), die ihre fünf, wenn ich mich recht erinnere, kinder retten möchte, und sie deshalb merh oder weniger dazu zwingt, nach amerika auszuwandern. eins von den kindern (ich bin mir ziemlich sicher, dass die peggy hieß), weigert sich und kehrt zu ihrer mutter zurück, ihre geschwister fahren nach new york. dort trennen sie sic dann, um arbeit usw. zu finden, versprechen sich aber, sich nicht zu vergessen und irgendwann wiederzusehen. und dann wird beschrieben, wie die sich alle so in ihrem leben zurecht finden.

Google revanchiert sich für die recht passable Inhaltsangabe (welchen Buches eigentlich?) mit fast 20.000 Treffern. Und jetzt gehe ich schlafen. Hoffentlich hält mich dieses seltsam zwanghafte Kopfschütteln nicht allzu lange wach.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Suchen
1. „Searching“ von Michael Brook & Pieter Nooten
2. „I just haven’t found what I’m looking for“ von U2
3. „I will find you“ von Peter Hammill

01 Mai 2006

Das große Zuppeln

Foto: „Deutsches Strumpf Museum“ (sic!)

Einem drängenden und überaus akuten Problem hat sich die Weltöffentlichkeit bisher noch nicht mit der angebrachten Empörung gewidmet. Und zwar dem Sockenproblem. Es betrifft nur Menschen mit Schuhgröße 43, also überwiegend Männer. Auf jeden Fall mich.

Das Problem: Ich kann praktisch keine passenden Socken oder Strümpfe beschaffen. Entweder sie decken das Spektrum 39 bis 42 ab oder das von 43 bis 46. Für jemand mit der Schuhgröße 43 – also mich – ist das sehr unschön. Jene Socken nämlich, die als oberes Limit die 42 ausweisen, sind mir zu klein. Sie umklammern mir unschön fest Zehen, Spann und Knöchel und rutschen mir ständig so tief in den Schuh, dass meine Ferse entblößt am Ledersaum scheuert.

Ich bin also unablässig am Zuppeln und Fluchen und werfe die fußkondomartige Baumwollplage schließlich entnervt in den Mülleimer. Man wird sich jetzt fragen, warum ich meine geschundenen Füße nicht schon längst in die Obhut der größeren Sockenvariante gegeben habe. Nun, ich habe es versucht. Doch dummerweise erleichtern auch sie mir das Leben ganz und gar nicht.

Socken, welche ihre Existenz dem gewagten und letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch widmen, sämtliche Größen zwischen 43 bis 46 abzudecken, neigen nämlich stark dazu, mir zu groß zu sein. Auch das ist im Alltag alles andere als vergnüglich. Sie schlagen schmerzhafte Falten unter der Fußsohle, ich bin unablässig am Zuppeln und Fluchen und werfe diese Fußfoltern schließlich nur deshalb NICHT entnervt in den Mülleimer, weil auch ich ja schließlich irgendwas an den Füßen tragen muss.

Da ich mit meiner Größe 43 (wie auf den meisten anderen Gebieten auch) ein absoluter Durchschnittsbursche bin, nehme ich an, dass sich in Deutschland Tag für Tag unzählige solcher stillen Dramen abspielen, in denen zuppelnde, humpelnde und fluchende Männer eine unwürdige Rolle spielen.

Hiermit appelliere ich daher dramatisch an die Beinkleidindustrie: Schafft 43er Socken! Sonst wird euch, Bellinda, Ergee, Falke und wie ihr alle heißt, irgendwann ein Aufstand zuppelnder Männer hinwegfegen. We shall overcome!

Und ratet mal, wer den Mob anführen wird.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen es um Füße und Schuhe geht
1. „Blue suede shoes“ von Elvis Presley
2. „Nur ein Strumpf von dir“ von Klaus Eberhartinger & Die Gruftgranaten
3. „A fool for your stockings“ von ZZ Top

28 April 2006

Ex Cathedra: Die Neuen Zehn Gebote

1. Verschwende keine Lebenszeit. Egal, wer dir was anderes erzählt, ob Benedikt oder Bin Laden: Du hast nur dieses Leben. Verschwende keine Minute davon.

2. Verschwende vor allem keine Lebenszeit an schlechte Musik. Gute Musik kann man erkennen: Stell dir vor, der Geist von John Peel tippte dir auf die Schulter, während du den iPod laufen hast, und liehe sich deine Ohrhörer. Würde er beifällig nicken? Dann hörst du gute Musik, verdammt noch mal.

3. Bleib nicht stehen, wenn du eine Rolltreppe betrittst. Niemand zwingt dich dazu. Und es schadet deiner Gesundheit. Am besten meidest du Rolltreppen.

4. Wenn du eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank nimmst, stell auch wieder eine hinein. Frag nicht, tu’s einfach.

5. Lache herzhaft, wenn du Esoterikern begegnest. Wer sich ernsthaft mit Astrologie, Homöpathie oder Friseurterminen nach Mondphasen beschäftigt, muss unbedingt ausgelacht werden. Wenn du milde gestimmt bist, kannst du diese Leute auch bedauern. Denn sie verschwenden Lebenszeit – an viel bescheuertere Dinge als nur an schlechte Musik.

6. Sichere deine Daten! Sichere deine Daten! Am besten dreifach und an verschiedenen Orten. Wir waren so blöd, immer kurzlebigere Speichermedien zu erfinden. Eine Steintafel hält Jahrtausende, die selbstgebrannte CD nur noch fünf Jahre. Damit unsere Lebensdaten erhalten bleiben, müssen wir sie sichern, doppelt und dreifach. Miete für deine wichtigste Backup-DVD ein Bankschließfach. Du wirst mir irgendwann sabbernd vor Dankbarkeit nachträglich viel Geld für diesen Tipp bezahlen wollen. Abonniere dafür lieber zehn Obdachlosenzeitschriften.

7. Liebe! Wen auch immer. Es tut gut. Und es verlängert dein Leben, so dass du mehr Zeit zum Nichtverschwenden hast.

8. Versuche das Dickicht deiner Vorurteile zu erkennen. Sie umstellen dich unsichtbar. Die einzige Machete, die ihnen beikommen kann, ist die Neugierde. Sei neugierig!

9. Folge keinen Führern. Vor allem nicht solchen, die dich davon abhalten wollen, weiße Socken zu tragen.

10. Versuche auf keinen Fall, cool zu sein. Es sei denn, du planst eine Karriere als Witzfigur. Dann versuche auf jeden Fall, cool zu sein.


(PS: Hm, eigentlich ein schönes neues Stöckchenspiel, nicht wahr? Wie wär's, German Psycho …?)

27 April 2006

Die Fundstücke des Tages (16)

1. Im uebel & gefährlich stehen nicht nur fein illuminierte Gläser hinter einem stillgelegten Tresen, sondern heute auch der 18-jährige Sänger Paolo Nutini auf der Bühne. Er spielt ein kleines Konzert für Journalisten. In Großbritannien ist der Schotte schon eine gewisse Nummer, vielleicht wird er sogar der neue James Blunt. Mit Sicherheit fangen die Inselteenies an zu kreischen, wenn Nutini sich ständig in den Schritt greift; wir indes nehmen es eher amüsiert zur Kenntnis. Hoffen wir mal, dass der Bursche gefunden hat, was er suchte.

2. Gewöhnlich halte ich es ja mit Harry Rowohlt und seinem sinngemäß zitierten Spruch: „Dereinst wirst du dich für jeden Kalauer, den du dir verkniffen hast, vor deinem Schöpfer verantworten müssen.“ Deshalb schäme ich mich auch dieses Exemplares nicht: Was sind Paparazzi aus Sicht des Ernst-August von Hannover? Durchlauchterhitzer … Aber was zu weit geht, geht zu weit. Am Seiteneingang der Zeisehallen in Ottensen hängt ein Plakat, das ein kleines Folkfestival ankündigt. Und eine der mitspielenden Bands trägt den ganz, ganz übel hingedrechselten Namen „Fiddelaltermolk“. Das.geht.einfach.nicht.


3. Neue Google-Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:

„pizarro oben ohne“ (Weißes Moor, Niedersachsen)

„dein traum von multi-kulti platz wie eine seifenblase, denn er ist nichts weiter als nur eine leere phrase“ (Sulzbach, Saarland)


Ex cathedra: Die Top 3 der schönsten Folksongs
1. „Dirty old town“ von The Pogues
2. „Caroline's tune“ von John Renbourn
3. „The lass of Aughrim“ von Beth Patterson

Der Franke ist überall

Neulich bei der Aldi-Flanage faselte der Franke plötzlich etwas von einem „Karaoke-Sender“, und ich dachte sofort an eine Radiostation mit Instrumentalversionen gängiger Hits. Eine Horrorvorstellung, offen gesagt. Ich konnte mir auch nicht recht vorstellen, was der eigentlich für seinen zwar hoffnungslos verengten, doch akzeptablen Musikgeschmack (Giant Sand Calexico, Prince, und das war's) bekannte Franke an einem solchen Nullniveausender wohl finden könnte.

Wie immer aber war es optisch ganz anders, als es sich akustisch dargestellt hatte. Denn als ich mich umdrehte, stand der Mann vor einem großräumig verpackten HiFi-Gerät, welches in Großbuchstaben seine Funktionalität auf folgenden Punkt brachte: „Karaoke-Center“.

Warum falle ich immer wieder rein auf seine milieubedingten Zungenunfälle? Eigentlich müsste ich doch allmählich über ein eingebautes Übersetzungsprogramm verfügen, welches die verhunzten Silben, die tagtäglich aus des Franken Mund taumeln wie ein Schwarm betrunkener Dörrobstmotten, in verständliches Deutsch übersetzen. Das ist aber nicht der Fall.

Auch in meiner Abwesenheit hören die Unfälle nicht auf (warum auch?), wie mir der lebende Konsonantenverweichlicher unlängst berichtete. Diesmal stieß er allerdings an seine sprachlichen Grenzen, obwohl er sich sogar tapfer darum bemüht hatte, Weltläufigkeit zu simulieren. Wie so oft war die bedauernswerte Verkäuferin einer Konditorei im Mittelpunkt des Geschehens.

Die erstaunte Frau wurde konfrontiert mit folgender Frankenfrage: „Haben Sie Nuhgattgrosohngs?“ So weit, so viertelverständlich. Doch nicht das eigenwillig verfränkischte Französisch stieß bei der hanseatischen Verkäuferin auf Nichtbegreifen: Sie kannte das Produkt einfach nicht.


Schließlich klärte sich – mithilfe deskriptiver Annäherung und Gebärdensprache – die Sache auf. Hier in Hamburg nämlich heißt das Süßgebäck nicht Nougatcroissant, sondern angeblich Nusskipferl. Klingt zwar eher bayerisch, aber so erzählt’s der Franke. Und so verengt auch sein Musikgeschmack ist, so unverfälscht vermag er doch die kleinen Dramen seines Alltags wiederzugeben; deshalb will ich ihm mal glauben.

Selbst als wir vergangenes Wochenende in Berlin waren, gemahnte manches an das urige Redaktionsoriginal. Beispielsweise durchschritten wir schmunzelnd und seiner eingedenk eine gewisse Frankenstraße. Und wie hieß die Kneipe ebenda? Frankeneck. Wir fühlten uns gleich wie zu Hause, obwohl dies in Berlin, während man an einen nach Hamburg exportierten Würzburger denken muss, recht schräg anmutet.

Die Kneipe hatte übrigens noch nicht auf, sonst hätten wir uns dort Kaltgetränke einverleibt und gegenseitig „Dang-ge!“ zugerufen. Nächstes Mal.

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land

25 April 2006

Im Zelt mit den Red Hot Chili Peppers

Sonst spielen die Red Hot Chili Peppers vor 60 000 Leuten, heute nur vor 600. Ins Zirkuszelt an der Glacischaussee werden 200 Fans und 400 Gäste eingelassen, und der Promigehalt ist so hoch wie der Fettanteil in Gorgonzola.

Bassmann Flea (Foto) kann dem frischen Boxweltmeister Wladimir Klitschko praktischerweise persönlich gratulieren, Reinhold Beckmann hält glückselig und graumeliert Hof am Springbrunnen, als wüsste er genau, dass jeder, der sich an ihm vorbeidrängt, ihn um seine WM-Finalkarten beneidet. So ist es ja auch, verdammt …

Neben mir steht Sergej Barbarez und knipst mit seinem supertollen Fotohandy die Chilis, obwohl er von der Plattenfirma bestimmt sogar einen Mitschnitt auf DVD bekäme, bäte er nur darum. Einen Augenblick lang überlege ich, auf Barbarez mit den Worten zuzugehen: „Entschuldigen Sie, wissen Sie eigentlich, dass sie Sergej Barbarez verblüffend ähnlich sehen? Sie könnten Geld damit machen!“

Doch Peppers-Gitarrist John Frusciante lenkt mich ab, weil er sich obenrum gerade frei macht. Der Mann sieht aus wie ein Jesusfreak von 1970, und er ist die einzige Hühnerbrust unter lauter Testosteronbomben. Flea, Anthony Kiedis und Drummer Chad Smith müssen mindestens so viel Zeit mit Bankdrücken wie mit Komponieren verbringen, sonst kämen sie kaum auf diese gewaltig pulsierenden Muskelstränge unter den geschmacklosen Tätowierungen.

Im Garten, wo ich am zweiten Chardonnay des Abends nippe, tauscht Mousse T. gerade Handynummern mit einer jungen Frau, die garantiert nicht seine Gattin ist. Dietmar Beiersdorfer, das wird auf den ersten Blick klar, müsste mal zum Friseur. Aber Kiedis und Frusciante auch, ehrlich gesagt. Letzterer covert kurz vor Schluss den Bee-Gees-Heuler „How deep is your love“ – offenbar ein Konter gegen Fleas Soloversion von Neil Youngs „The needle and the damage done“, die Ex-Junkie Frusciante wohl persönlich genommen hat.

Der Bretterboden schwingt im Takt der Drums, man fühlt sich leicht, man schwebt, und plötzlich ist Kalifornien überall. Inzwischen bin ich so weit chardonnayisiert, dass ich meinen Barbarez-Ulk doch noch an den Mann bringen will, doch ich stoße nur immer wieder auf Beckmann. Er hat Finalkarten, verdammt …

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Neil Young
1. „Hurricane“
2. „On the beach“
3. „Out on the weekend“

24 April 2006

Der Suffkopp und Olaf

Alberto Giacomettis schwarzer zwölfseitiger unregelmäßiger Kubus, den er einem Gemälde von Albrecht Dürer entnahm und verkörperlichte, hat eine dunkle Aura, die dich zum Zittern bringt. Wenn man davorsteht, fühlt man sich wie ein Australopithecus vorm geheimnisvollen Monolithen in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“.

Der Kubus ist Bestandteil der grandiosen Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn“, die wir am Wochenende in der Berliner Neuen Nationalgalerie besuchten. Auf dem Rückweg pulverisierte allerdings das Profane rasch jedes erhabene Gefühl. Vor einem Krankenhaus zog ein volltrunkener Berliner seine immer engeren Kreise, bis er schließlich rücklings aufs Pflaster fiel. Sein vegetatives Nervensystem war offenbar gelähmt von einer alkoholischen Springflut, die ihm durch alle Adern jagte. Er flüsterte, alle Extremitäten von sich gestreckt: „… Hilfe …“

Wir gingen weiter; immerhin war er gerade aus dem Krankenhaus getaumelt, dort hatte man sicherlich die Lage unter Kontrolle. Hatte man nicht: Als wir uns umblickten, stand der arme Wicht plötzlich schwankend auf der vierspurigen Straße und verschwand dann stürzend zwischen geparkten Wagen. Okay, die Lage war ernst. Am nächsten Tag in der BZ lesen zu müssen, in Schöneberg sei ein Mann mit der Rekordmarke von 5,8 Promille vor einen Laster getaumelt und plattgemacht worden, schien mir wenig verlockend, selbst wenn mein Seelenheil mir nicht das Wichtigste ist auf der Welt.

Als ich zurückkam zum Krankenhausempfang, um mal wieder einen Anruf bei der Polizei zu erbitten, war der Pförtner bereits in dieser Sache tätig, allerdings ohne rechte Überzeugung. „Ach“, winkte er ab, „die fahren ihn sowieso nur bis zur nächsten Ecke und werfen ihn wieder raus.“ Meine Glaube an solch nützliche Einrichtungen wie Ausnüchterungszellen erschien mir plötzlich romantisch und naiv. Aber vielleicht hatte der Pförtner ja auch Unrecht. Wenig später jedenfalls kam uns ein Streifenwagen entgegen.

Die Berliner Merkwürdigkeiten rissen indes nicht ab. Wir kamen zum Beispiel an einer Kneipe vorbei, die den bizarren Namen „Tüsselbrand’s Malustra“ trug. Und abends, auf dem Bahnsteig im Bahnhof Zoo, schlurfte der Ex-SPD-Generalsekretär Olaf Scholz erhobenen Kinns an uns vorbei Richtung 1. Klasse. Das kam mir komisch vor. Sollte Scholz – immerhin Altonas (und somit auch unser) Abgeordneter im Bundestag – nicht sonntagsabends von Hamburg nach Berlin unterwegs sein statt umgekehrt? Oder habe ich jetzt – ups – etwas enttarnt, was Scholz tunlichst vor Münte zu verbergen erpicht war?

Andererseits trug er zwar das Kinn hoch, aber nicht mal eine Sonnenbrille.

Ex cathedra: Die Top 3 der Suffsongs
1. „Down drinking at the bar“ von Loudon Wainwright III
2. „One Bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Streams of whiskey“ von The Pogues

23 April 2006

Die Evolution und Berlin

Berlin ist schon merkwürdig. Im Bus am Bahnhof Zoo lösen wir Tickets und werden von einem gelben Kasten zum Entwerten derselben aufgefordert. Allerdings ist der Schlitz schmaler als die Tickets breit sind. Sie passen einfach nicht rein.

Wir erwägen Experimente wie Falten der Fahrkarten oder gewaltsames Verbreitern des Entwertungsschlitzes, beschließen aber am Ende doch, die Sache stillschweigend hinzunehmen und eventuelle Kontrolleure in kampfeslustige Diskussionen über die Detailschwächen des Berliner Nahverkehrssystems zu verwickeln.

Die Fahrt allerdings verläuft ohne Zwischenfälle, und an der Zielhaltestelle erweist sich sogar die archaisch anmutende Wegbeschreibung von Dr. K. („ ... über große Straße Richtung Osten ...“) als nicht komplett undechiffrierbar. Denn unter Reaktivierung bestimmter Steinzeitgene identifiziere ich trotz dichter Wolkendecke die korrekte Himmelsrichtung.

Ich bin stolz wie Oskar, Ms. Columbo hält mich für einen Helden. Und mir wird plötzlich klar, wie unsere Spezies es schaffen konnte, zur dominierenden auf diesem Planeten zu werden.

Mehr über die Evolution und Berlin nach unserer Rückkehr.

21 April 2006

Das Päckchen

Nehmen wir mal an, du hast eine neue tödliche Waffe erfunden, vielleicht groß wie eine Tafel Schokolade, und du willst sie einem interessierten Forscherkollegen postalisch zukommen lassen. Dann musst du natürlich Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.

Zum Beispiel musst du sichergehen, dass nur er, der Kollege, die tödliche Waffe erhält. Schließlich könnte eine Katastrophe geschehen, wenn sie in falsche Hände geriete.

Ganz wichtig also: Auf dem Päckchen sollte, für den Zusteller deutlich sichtbar, jedwede Nachbarschaftszustellung ausgeschlossen sein.


Heute bekam ich so ein Päckchen.

Und was könnte nicht alles geschehen, wenn der Adressat nach Erhalt die tödliche Waffe verliehe oder verschenkte? Nicht auszudenken!

Also musst du den Adressaten eindringlich und unter Androhung hoher Strafen dazu verpflichten, die tödliche Waffe niemals (in Worten: NIEMALS) ohne deine Supervision aus der Hand zu geben.

Auf einem Zettel, der dem Päckchen, das ich heute erhielt, beilag, war genau das unzweideutig festgelegt.

Und dabei will ich doch einfach nur jungen Männern in kurzen Hosen dabei zuschauen, wie sie gegen einen Ball treten. Männo.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Postbezug
1. „The letter“ von The Box Tops
2. „Please Mr. Postman“ von The Beatles
3. „Dead flowers“ von The Rolling Stones

20 April 2006

Das muss jetzt mal raus

Die Grundausstattung von Großstädten verdient ohne Zweifel Lob. Ob Kneipen, Kinos, Clubs oder käuflicher Sex: alles da, und zwar nah und unmittelbar. Was an Städten jedoch meist stört und aus meiner Sicht sehr verzichtbar ist, sind – Menschen. (Ja, ich bin mir der Paradoxie dieser Aussage bewusst.)

Fakt ist: Großstadtmenschen nerven. Sie sind im Weg. Sie errichten Hindernisse. Immer. Heute etwa radle ich verbotenerweise über den engen Gehweg am Mercadoparkhaus, als sich plötzlich die Tür eines parkenden Autos öffnet und die ganze Breite des Weges barriereartig blockiert. Schuld: ein Mensch.

Oder abends, in der Fußgängerzone der Neuen Großen Bergstraße (Foto): Eine ältere Dame mit Dackel als Appendix gibt der kackbraunen Fußhupe so viel Gummiband, wie sie nur haben möchte. Und sie möchte viel, oh ja. Die Fußgängerzone ist dort zwar sehr, sehr breit, das Gummiband aber auch sehr, sehr lang.

Eine Dame mit Dackel reicht aus, um der Neuen Großen Bergstraße eine Vollsperrung zu verpassen. Wüsste das der Hamburger Verkehrssenator, er könnte depressiven Hundebesitzern pipileicht wieder Lebenssinn vermitteln, indem er sie an Bau- oder Unfallstellen als hochflexible Absperrgitter einsetzte. Doch das passiert ja nicht. Stattdessen beanspruchen diese Menschen in freier Wildbahn ungeheure Freiflächen, die für Fußgänger und Radfahrer augenblicklich nicht mehr nutzbar, ja sogar gefährlich sind.

Doch heute ging es noch mal gut, Dackel und Dame waren letztlich dank meiner schier übermenschlichen Radelroutine knapp zu umfahren. Meine Grundthese aber sah ich erneut belegt: Großstadtmenschen nerven. Vor allem und besonders auch auf Radwegen, wo sie, wenn ich vorbeikomme, meist träumerisch herumstehen – bereit, im entscheidenden Moment einen unmotiviert anarchischen Schritt zur Seite zu tun, damit ich sie säuberlichst über den Haufen fahren kann.

Warum schauen sie sich nicht um, bevor sie dumme Dinge tun? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eins: Großstadtmenschen nerven. Ihre Sinne scheinen unterm Dauerfeuer urbaner Reize und Ausscheidungen komplett abzustumpfen. Sie sehen nichts, sie hören nichts. Sie leben – obgleich umwogt von Hundertausenden anderer – in einer hermetischen Egoblase.

Auch der Radler, der heute in Ottensen auf die tolle Idee kam, den Gehweg zu verlassen und dumpffröhlich quer über die Bahrenfelder Straße zu rollen, obwohl ich dort gerade mit beträchtlicher Geschwindigkteit von meinem Vorfahrtsrecht Gebrauch zu machen gedachte. Wir stiegen beide in die Eisen wie ein Schmuckstraßenfreier, der versehentlich eine Transe gebucht hat. Gerade so vermieden wir den Crash, doch eins wurde mir mal wieder klar: In einer Großstadt ohne Menschen wäre diese Situation erst gar nicht entstanden.

Vielleicht würde ich es sogar akzeptieren, mich täglich ins Gewimmel dieser Gefahrguttransporter auf zwei Beinen stürzen zu müssen, wenn sie mir garantierten, von den ihnen zur Verfügung stehenden Sinnen auch Gebrauch zu machen. Davon kann aber nicht die geringste Rede sein.

Neulich sah ich einen Menschen halb im Laufschritt auf mich zukommen und dabei aus unerfindlichen Gründen hinter sich blicken. Er übertrug gleichsam mir, der ich meine Sinne adäquat in Betrieb hatte, die Verantwortung, den Weg zu räumen und auszuweichen. Doch mich überkam eine kleine sardonische Lust auf Konfrontation, und ich ließ es drauf ankommen.

Rumms, machte es. Schulter gegen Schulter. Er drehte sich um mit jenem erschreckten Staunen im Gesicht, als wäre er davon ausgegangen, in einer Großstadt ohne Menschen unterwegs zu sein.

Und plötzlich fühlte ich mich ihm sogar ein wenig verbunden.

Ex cathedra: Die Top 3 der urbanen Songs
1. „The city sleeps“ von MC 900 Ft. Jesus
2. „Summer in the city“ von Lovin’ Spoonful
3. „Crosstown traffic“ von Jimi Hendrix

19 April 2006

Tannenzapfenzupfen (3)

(Foto via FHS Holztechnik)

Heute gibt es eine weitere Folge mit gruseliger Promoprosa und Pidginpoesie am Rande der Körperverletzung. Alles Blaugefärbte wurde Pressetexten zu neuen CDs entnommen. Ich garantiere für die Echtheit der Zitate; das gilt auch für alle orthografischen Unfälle.


Die heutige Ausgabe widmet sich speziell dem beliebten Genre Denglisch. Wer nur Bahnhof versteht, findet vielleicht beim Anglizismenindex Hilfe und Linderung. Los geht’s:

1. In unserer Media Lounge werden Sie das Thema unserer neuartigen Eventreihe - Road Movie in angesagten Clubs und Off-Locations - bei „drinks for free“ exklusiv erleben können … Ein Highlight auf dem Event werden die kreativen Kurzfilme der MARLBORO Blend 29 Road Movie-Teilnehmer auf den Bildschirmen in den „Screening Corners“ sein … Zusätzlich kann jeder Eventbesucher an interaktiven Voting-Terminals seinen Film-Favoriten wählen.

2. Der Artikel ist als pre-view als pdf datei auf unserer medialounge zum download verfügbar.

3. dreckige lines und pure raps treffen auf hypnotische techno-vibes … tai jason, aufgewachsen in england, liefert einen flüssigen und einschlagenden flow in englischen rhymes ab.

4. DIMI ist der Mann, der die Geschichte vom Traveller lebt. Und sie in seinen Songs erzählt. Seit 8 Jahren ist er on the road – im Sommer mit dem Surfboard den Wellen hinterher, im Winter mit dem Snowboard dem Powder auf der Spur … Upbeat and Downtempo – so ist halt das Leben eines Backpackers.

Ex cathedra: Die Top 3 der ekligsten Bandnamen (2)

1. Mundstuhl
2. Dackelblut
3. Lammkotze

Was bisher geschah

„Tannenzapfenzupfen 2“
„Tannenzapfenzupfen 1“

18 April 2006

Leblos auf der Lincolnstraße

Ich erinnere mich noch an den ersten Kiezbummel unseres Lebens. Es war 1995. Wir schlichen besorgt über die Reeperbahn mit jener Grundverkrampfung, die nun mal aufkommt an Schauplätzen düsterer Legenden.

Alle Geschichten und Warnungen, alle Räuberpistolen und Schmuddelstorys, die wir im Lauf unseres Provinzlebens über die sündige Meile gehört, gelesen und in Film und Fernsehen gesehen hatten, kondensierten in einem Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit. Jürgen Roland, Hans Albers und Klaus Lemke hatten ganze Arbeit geleistet.


Alarmiert und nervös schritten wir sie ab, die berüchtigte Reeperbahn. Wir warteten sekündlich darauf, umstandslos ausgeraubt oder zumindest zu diesem Behufe in ein versifftes Kellerstriplokal gezerrt zu werden.


Zunächst aber geschah nichts. Bis wir die Lincolnstraße passieren wollten. Dort sahen wir in einigen zehn Metern Entfernung ein Bündel Mensch mitten auf der Fahrbahn liegen. Besorgt bogen wir in die Straße ein, als ebendies auch ein Auto tat und uns überholte. Es war ein großer Wagen, ein Mercedes. Kurz vor der reglosen Gestalt stoppte er, und der Fahrer, ein drahtiger junger Bursche, sprang heraus, packte das Bündel am Kragen, zog es humorlos an den Straßenrand, stieg wieder ein und fuhr weiter.


Wir waren fassungslos. Herzlosigkeit live! Die Kiezklischees: Sie waren wahr! Wir eilten hin und fanden eine weitgehend leblose Frau vor. Sie war verwahrlost und korpulent, ihre Augen hinter den schmalen Schlitzen blicklos, und sie antwortete nicht auf meine Frage, wie es ihr denn ginge. Sie atmete kaum.


Damals hatten wir noch keine Mobiltelefone, deshalb blieb Ms. Columbo bei ihr, und ich betrat (bang!) die nächstbeste Kneipe und wählte 110. Minuten später entstiegen einem Streifenwagen zwei Polizisten, auch Sanitäter trafen ein. Sie rüttelten die Frau, die ihnen offenbar nicht ganz unbekannt war, kräftig durch, was diese zum dumpfen Lallen brachte. Na bitte. Auch die Sache mit dem Mercedesfahrer, der die Frau beiseite gelegt hatte wie einen auf die Straße gerollten Mülleimer, nahmen die Ordnungshüter mit einer befremdlichen Lockerheit. Hätte der Mann die Frau etwa überfahren sollen? Noch mal na bitte.


Die Polizisten und Sanitäter schienen uns währenddessen unisono mit latentem Spott zu mustern. Mir wurde klar, wofür sie uns hielten: für dumme, ängstliche Landeier auf Stadtausflug, die
sich wegen einer simplen Besoffenen bepissten und alle Abteilungen der Exekutive in Bewegung setzten. Welch eine Verschwendung!

Dieser Vorfall prägte lange Zeit unser Bild vom Kiez, das ja eh auf Vorurteilen gründete. Als wir anderthalb Jahre später die Chance hatten, das verschnarchte Rentnerparadies Sülldorf gegen eine Wohnung in der Seilerstraße einzutauschen, erinnerten wir uns wieder an das Bündel Mensch auf der Lincolnstraße, an den brutalen Mercedesfahrer, an die spöttischen Polizisten. Wir überlegten hin und her. Aber dann sind wir doch umgezogen – und lernten sie rasch mögen, die Reeperbahn, die Besoffenen, die Bullen, die Dickewagenfahrer.

Und wenn heute irgendwer im Weg herum liegt, dann ziehe ich ihn natürlich beiseite, zu seinem eigenen Schutz. Ist doch klar.

Ex cathedra: Die Top 3 der fürsorglichen Songs

1. „You've got a friend“ von Carole King
2. „Carry me across the water“ von Midnight Choir
3. „Best for you“ von Morning Runner

Come on, spring!



























Die Tristesse eines Supermarktparkplatzes in einer spätwinterlichen Wochenendnacht ist schwer überbietbar.

Höchstens vom Dauerregen in einem Nordseekurort im Spätfebruar, wenn man durch die Fenster seiner fernsehlosen Fertigbauferienwohnung das „Geschlossen“-Schild am Eingang des gegenüberliegenden Schachtelkinos betrachtet, nachdem man soeben herausgefunden hat, den zur Sicherheit gekauften tausendseitigen Ferienschmöker zu Hause auf dem Nachttisch vergessen zu haben.

Der Parkplatz gehört Wal-Mart. Es werde Frühling.

Ex cathedra: Die Top 3 der Frühlingssongs
1. „Springtime in Alaska“ von Johnny Horton
2. „Come on spring“ von Mick Harvey
3. „So early in the spring“ von Pentangle

16 April 2006

Der Kirchenbesuch

Ein Ausflug zu einer Taufe nach Wolfsburg (Foto: der Schillerteich) erinnerte mich mal wieder daran, wie mich einst die evangelische Kirche irreparabel aus ihrer Mitte vertrieben hatte: mit sämtlichen Spielarten zermürbender Langeweile.

Die Pastoren, scheint mir, haben über die Jahrzehnte immer das gleiche Alter, wenngleich wechselnde Gesichter. Die Gemeindemitglieder hingegen welkten unterm wattigen Nieselschnee der Sprüche und Storys dahin, zerrieben von der Tristesse der Liedertafeln (118, 1+4-5), dem Leiern der Predigt (ich musste an einen Mr.-Bean-Sketch in der Kirche denken, in dem das sedierende Kanzelgemurmel buchstäblich bewusstlos macht) und einer vollkommen abwesenden Dramaturgie und Dynamik. Auf ein Lied folgt ein Gebet, aufs Gebet das nächste Lied, und immer ist es von Paul Gerhardt.

Offenbar liegt dem Ganzen das Motto zugrunde: Eines geht noch, eines geht noch rein.

Unter dem stillen, ewigen Terror dieses Ablaufs, der höchstens mal – wie heute – durch die Attraktion einer Taufe, Hochzeit oder Beerdigung aufgebrochen wird, wurden die Gemüter der dahinwelkenden Gläubigen duldsam, taub und stumpf; entweder durch Verhärtung oder Aufweichung, wer kann das sagen. Über allem schwebt derweil die Atmosphäre des Morbiden, Hoffnungslosen. Diese Kirche weiß, dass ihre Zeit vorbei ist; ihre Mutlosigkeit ist greifbar. Sie hat es selbst versaut: mit sämtlichen Spielarten zermürbender Langeweile.

Die Katholiken sind mir inhaltlich genauso fremd. Doch wenn man sieht, wie sie ihr in 2000 Jahren verfeinertes Marketingknowhow auch in der Webära immer noch in Massenentertainment umsetzen, mit Glitzer und Glamour, Schurken und Helden, mit komischen Klamotten, klasse Kulissen und völlig bescheuerten Thesen, die genau deshalb global diskutiert werden, weil sie so bescheuert sind, dann muss ich sagen: Respekt.

Kein Wunder, dass der aktuelle Papst an Ökumene wenig Interesse zeigt. Bayern München erwägt ja auch keine Spielgemeinschaft mit Kickers Emden.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Bibelbezug
1. „The story of Isaac“ von Leonard Cohen
2. „Highway 61 revisited“ von Bob Dylan
3. „Samson and Delilah“ von Middle Of The Road

14 April 2006

Geile Euter im Takt der Ekstase

Die beiden portugiesischen Nachbarskinder – er sechs, sie vier – wollen normalerweise mit mir Fußball spielen, sobald ich aus dem Haus komme. Heute allerdings nicht. Sie bestürmen mich auf dem Gehweg: „Hast du die Nackedei-CD gesehen? Hast du?“ Äh, nein, antworte ich alarmiert. 

Diesem Umstand möchte der kleine Bursche rasch abhelfen und reicht mir mit breitestem Zahnlückengrinsen eine (wie sich herausstellt leere) DVD-Hülle. Was darauf abgebildet ist, sieht nicht ganz so aus, wie im schlimmsten Fall zu befürchten war. Erleichtert registriere ich, dass trotz des Stempels „100 % Hardcore“ zumindest auf die Darstellung diverser Körperöffnungen verzichtet wurde – und somit auch auf das fantasievolle Befüllen derselben. 

Laut Cover handelt es sich um die „internationale Version“ von „Tittenalarm 5 – Euromöpse in heisser Aktion“, und verantwortlich dafür zeichnet ein gewisser Roy Alexandre, was ein wirklich affiges Pseudonym ist – dieser gespreizt frankophon auslaufende Nachname, uh. Jedenfalls stellt er eine „100 % Silikonfreie Zone“ in Aussicht, wobei ich nach Inaugenscheinnahme der zahlreich sich präsentierenden Damen gewisse Restzweifel am Wahrheitsgehalt der Behauptung nicht abstreiten kann. 

Dies scheint „Roy“ geahnt zu haben, denn er lässt auf der Rückseite versichern: „Alle Melonen in diesem Film sind garantiert keine Silicon Valleys, dafür steht Roy Alexandre mit seinem guten Namen. Bei jedem Stoss“, wird weiter ausgeführt, „wippen die geilen Euter im Takt der Ekstase.“ Diesem interessanten Inhaltsausblick folgt abschließend die raffinierte Suggestivfrage: „Wer möchte da nicht gerne einmal Glöckner sein?“ 

Ich verdränge meinen Widerwillen vor allem gegen die Schreibweise des Wortes „Stoss“ und beantworte die gestellte Frage für mich innerlich eindeutig: die beiden hysterisch kichernden Kinder keinesfalls. Dafür stehe ich mit meinem guten Namen. Folglich teile ich den Knirpsen die sofortige standrechtliche Konfiskation des Covers mit, was zu Protesten führt. Selbst mein Kompromissangebot – Rückgabe der coverlosen DVD-Plastikhülle –, wird brüsk zurückgewiesen. Ganz oder gar nicht, schallt es stattdessen sinngemäß aus dem Parterre, und damit ist für mich die Phase der Verhandlungen vorbei. 

Also zerknülle ich theatralisch und mit dem Ausruf „Nein, nein, das ist noch nichts für euch!“ das Cover. Die Vierjährige nimmt es inzwischen gelassen und beginnt einen grotesken Hüftschüttel- und Armschlenkertanz, während sie begeistert grinsend „Sexy Baby! Sexy Baby!“ quiekt. 

Ah, Kiezkinder! Ob ich ihrem Papa bei der nächsten Begegnung von der Freizeitgestaltung seiner Racker erzählen soll? 



Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Sexbezug 1. „Honky Tonk women“ von The Rolling Stones 2. „Fuck forever“ von Babyshambles 3. „Sammy’s song“ von David Bromberg

12 April 2006

Halbfinale


Hollerieth war unser Torwartmann,
Aus hielt er, bis der Schlusspfiff kam.
Er hat zwar verlorn, doch er trägt die Kron,
Er hielt für uns, unsre Liebe sein Lohn.

Gunesch flitzt übers Schlammgeviert,
Ballack ächzt, denn wer hier verliert,
Der fährt im Mai wohl überallhin,
Doch nicht nach Berlin, nach Berlin.

Hargreaves trifft früh, aus großer Distanz.
Hollerieth fliegt, doch es reicht nicht ganz.
Der Kampfgeist wächst, doch Lucio steht,
Und Ismaël bang nach den Angreifern späht.

St. Pauli stürmt vor, sogar mit Morena,
Ein tausendfach' Juchzen erfüllt die Arena.
Die Bayern, sie taumeln, sogar der Sagnol,
Doch Meggle verfehlt, und dann auch noch Boll.

Und die Fans mit Kindern und Fraun
Im Flutlicht schon das Ende schaun.
Und keuchend an Holler heran
Tritt alles: „Wie lang noch, Torwartmann?“
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
„Noch dreißig Minuten … halbe Stund.“

Und die wilden Paulianer, bunt gemengt,
Bedrängen den Kahn, und der lenkt
Luz’ Kopfstoß zur Ecke, Bolls Schuss hintendrein –
Und Scharping verzweifelt: Der Ball muss doch rein!
Die Bayern, sie taumeln, Lahm läuft nicht rund.
Noch 15 Minuten … Viertelstund.

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei,
Da klingt aus dem eig’nen Strafraum ein Schrei,
„Tor!“ war es, was da klang,
Ein Qualm aus Tribüne und Fankurve drang,
Es war eine Ecke, der Fuß von Pizarro …
Und nur noch sechs Minuten bis Ultimo.

St. Pauli zerbricht am Ende entzwei
Wieder Pizarro, es steht null zu drei.
Holler ist machtlos, doch lobt nicht nur ihn:
Denn heute verlor das bessere Team!

Hollerieth war unser Torwartmann,
Aus hielt er, bis der Schlusspfiff kam.
Er hat zwar verlorn, doch er trägt die Kron.
St. Pauli, St. Pauli: „You’ll never walk alone!“

(Foto: Spiegel online)

11 April 2006

Warum Ernst Kahl kein Auto fährt

Abends auf dem Weg zur Fahrradwerkstatt begleitet mich der Franke, und wir irren heillos durch Ottensen. Ich neige ja, wie bereits erwähnt, zum augenblicklichen Verlaufen, sobald ich mich überhaupt in Bewegung setze. Und der Franke wirkt in dieser Hinsicht eher bestärkend als dämpfend.

Wir schlagen auf meinen Vorschlag hin eine Abkürzung ein, die ich unlängst durch bloßes Verirren entdeckt habe, und brauchen dadurch rund zehn Minuten länger als sonst. Auch der Stadtplan war unterwegs keinerlei Hilfe, da ich zwar die Straßen finde, allerdings auf die lustigen bunten Linien stiere wie ein Schimpanse auf ein Esperantowörterbuch.


Vorm Laden treffen wir überraschend auf den
wunderbaren Wusel- und Wuschelkopf Ernst Kahl, der sich gerade damit vergnügt, einen schwarzen Pudel mithilfe eines kleinen Gummiballs zu foppen. Seit einem Interview vor neun Jahren sind wir lose befreundet (nein, ich meine nicht den Pudel).

Ernst erzählt von der Mühsal, die es für ihn als Nichtautofahrer bedeute, von seinem renovierten Privatbahnhof in Nordseenähe irgendwo hin zu kommen, etwa nach Kiel, wo er an der Uni ab und zu als Dozent erwünscht ist. Es wäre gleichwohl fatal, führt er weiter aus, erwürbe er den Führerschein. Denn sobald er am Steuer oder Lenker auch nur irgendeines Fahrzeuges säße, entwickele er sofort etwas Suizidales.


„Wenn am Straßenrand ein Baum steht“, sagt Ernst, „halte ich drauf zu und rummse rein. Das ist zu gefährlich, ich habe Familie.“ Wir beglückwünschen ihn zu seiner Entscheidung, unter diesen Umständen Fahrschulen strikt zu meiden, und empfehlen uns Richtung Bahnhof Altona.

Der Rückweg verläuft recht geradlinig. Jedenfalls für unsere Verhältnisse.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Ernst Kahl

1. „Ihr habt einen Freund“

2. „Den Drogen keine Macht“

3. „Im Kühlschrank brennt noch Licht“


(Kahls CDs, alle eingespielt mit Hardy Kayser, dem derzeitigen Arrangeur und Gitarristen von Annett Louisan, gibt es
hier. Das abgebildete Kahl-Gemälde entstand ca. 1993)