15 Januar 2007

Das Richtige ist das Falsche

Sich auf St. Pauli ethisch einwandfrei zu verhalten, ist nicht einfach. Sogar unmöglich. Zwei Beispiele.

An der Reeperbahn Höhe Hamburger Berg sehe ich einen gutsituierten Passanten mit typischem Accessoire, nämlich einer Pulle Bier. Es handelt sich um eine Pfandflasche, sie ist leer, und er bietet sie netterweise einem gerade vorbeischlurfenden Prekarier an.

Gute Sache. Eigentlich.

Der Berber nimmt die Buddel wortlos, geht zum nächstbesten Mülleimer, legt sie hinein, pflügt dann den Abfall sorgsam um, findet nichts, lässt die Pfandflasche drin und schlurft weiter.

Zur Klarstellung: Kaum etwas ist erschütternder, als Menschen im Müll wühlen zu sehen; gerade diese öffentlich demonstrierte Würdelosigkeit gibt eine Ahnung von der Brutalität ihrer Verarmung. Dass aber nun dieser Mülleimerwühler die Pfandflasche darin liegen lässt, verwirrt mich zutiefst. Das passt nicht zusammen.

Oder beweist dies eine Art Restwürde, nach dem Motto: Ich habe auch meinen Stolz und lasse mich nicht mit einer Pfandflasche abspeisen? Jedenfalls misslang der Versuch des Passanten, ein kleines gutes Werk zu tun und sich ethisch korrekt zu verhalten.

Wenig später misslingt es auch u. a. mir. Ich stehe mit einigen anderen an der roten Fußgängerampel Reeperbahn/Hein-Hoyer-Straße, betrachte sinnierend die Grafittiwand gegenüber und warte geduldig – nicht etwa wegen des Ampelmännchens, wie ich für die anderen einfach mal mit annehme, denn in Hamburg geht man natürlich über jede Straße, wenn dies gefahrlos möglich ist.

Nein, wir bleiben stehen wegen des etwa vierjährigen Kindes, das mit uns wartet und von einem jungen Elternpaar an den Händen gehalten wird. Plötzlich aber geht das Paar los, bei Rot und mit dem Kind in der Mitte. Und wir bleiben belämmert zurück, gehüllt in die Lächerlichkeit einer kümmerlichen und nutzlosen Ethik.

Verdammt, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, ein richtiges Leben im falschen sei doch möglich?

Vorsatz für 2007: Keine Pfandflaschen an Penner verschenken – und nicht mehr versuchen, anderer Leute Kinder zu erziehen.

19 Kommentare:

  1. Die Verschenkung des Rotweins damals, fand ich super.

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  2. Es fehlt natürlich ein betontes "das" nach dem Komma ...

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  3. Mit der allgemeinen Kindererziehung machen Sie ruhig weiter. Das ist kein guter Vorsatz. Bitte.

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  4. Ich habe letztens im Fernsehen gesehen, wie man es in New York macht. Da sammelt man sein Leergut für die Berber. Man sammelt es, stellt es an Plätze, wo sich die Berber dann bedienen können. Das ist sozusagen "Spare Change" mit ein wenig Arbeit verbunden (Spare Change frei übersetzt "Hast du mal `nen Euro?").

    Was die roten Ampeln betrifft, habe ich da so meine eigenen Gedanken. Wieso muss ich kleinen Kindern etwas vorleben (bei Grün über die Ampel gehen), wenn sie spätestens, wenn sie in der Pupertät sind, drauf pfeifen und mir evt. sogar noch einen Vogel zeigen? Ich opfere jetzt sozusagen meine kostbare Zeit und werde dann ein paar Jahre später von den Pupertierenden hämisch verlacht, womöglich noch mit einer Bierpulle in der Hand, die sie dann sozusagen Pfandfrei in die Ecke pfeffern und somit weder sie noch die Berber was davon haben?

    P.S. Ich gehe in Anwesenheit von kleinen Kindern übrigens nie über rot. Aber ich denke mir halt immer, ob das wirklich Sinn macht. Ich war schließlich auch mal klein und daran haften geblieben ist nichts (außer in Anwesenheit kleiner Kinder).

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  5. Sie sollen damit ja auch nicht die Menschen zu Später-bei-Rot-an-der-Ampel-Warter erziehen. Das geht - wie Sie richtig schreiben - von selbst weg.

    Eigentlich macht man es deswegen, weil man eben den kleinen Kindern ein Vorbild sein möchte. Den kleinen Kindern, die noch nicht über soviel Übersicht und Urteilsvermögen verfügen, daß sie entscheiden können, ob diese eine rote Ampel nun ignoriert werden kann oder nicht.

    Sie retten damit vermutlich sogar Kinderleben. Und das fühlt sich doch gut an, auch wenn man es nie erfahren wird...

    Zu den Sammelplätzen für Flaschen:
    Wieso soll ich denn auch noch alles fein säuberlich sortieren? Dann fällt doch der letzte Schein der eigenen Arbeitsleistung der Obdachlosen weg. So kann man ja immerhin noch argumentieren, daß die Dienstleistung, Flaschen zu sammeln und zu sortieren, eben entlohnt wird.

    Das NY-Beispiel hingegen ist das gleiche wie Almosen. Das ist an sich natürlich auch nichts Schlechtes, aber der Arme muß dann eben akzeptieren, daß ihm aus Mitleid Geld geschenkt wird.

    JT: Ich auch!

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  6. es ehrt dich sehr, lieber matt, dass du an roten ampeln, die von kindern umzingelt sind, stehen bleibst. ich bin da stets in der diskussion mit mir: da viele menschen nicht so vorbildlich handeln, sollten die eltern in der lage sein, ihrem kind beizubringen, in jedem fall an einer roten ampel stehen zu bleiben. egal wer lostrabt.
    du könntest also ebenso einen erzieherischen auftrag übernehmen, indem du bei rot rübergehst und mama zu kind sagen kann: „guck mal - SO nicht!" meist bleibe ich aber trotzdem stehen.

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  7. @ Opa & GP: Bitte beachten Sie den sehr sinnigen Vorschlag von eins60, über die rote Ampel zu gehen, UM den Kindern das Leben zu retten! Funktioniert zwar nur, wenn Eltern anwesend sind, die mitspielen und meine verkehrswidrige Handlung in den richtigen Kontext stellen – doch das war ja im geschilderten Fall gegeben.

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  8. Das funktioniert am anschaulichsten, wenn tatsächlich ein Auto anrast und Opa auch erwischt.

    Wenn ich eines Tages sehr müde und überdrüssig bin, mache ich das vielleicht sogar.

    Nein. In Gegenwart von kleinen Kindern bleibe ich nach wie vor stehen und Sie sollten es auch tun. Die ganz kleinen sind noch nicht in der Lage, die Geschwindigkeit der Autos richtig abzuschätzen. Was sie später machen, ist unerheblich.

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  9. Immer Vorbild sein. Und nicht nur, wenn Kinder anwesend sind. Und nicht nur an Ampeln. Überall.

    Mir geht es nämlich immer mehr auf den Sack, daß alle jammern (we are in Germany, I know ...), wie schlecht doch dieses Land ist, wie schlimm die Menschen sind - und am liebsten nicht mal bei sich selbst anfangen.

    Die Veränderung ging von wenigen aus, die uns ihr krankes Leben als Vorbild angepriesen haben. Und viele mach(t)en einfach mit. Und wundern sich heutzutage, warum alles so "kalt", so "herzlos" ist. Ihr seid das Volk - nicht die anderen.

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  10. Hey, das ist gut! Das unterschreib ich sofort.

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  11. Meist ist es doch so, dass Kinder und Jugendliche an einer roten Ampel warten, während Anzugträger und Rentner gelegentlich sogar eine Straßenbahn zu einer Notbremsung zwingen.

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  12. Selten so eine unsinnige Verallgemeinerung wie „Anzugträger und Rentner" gelesen.

    Der Jeansträger und Jude jedenfalls handelt je nach...ääähh... persönlicher Überzeugung?

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  13. Diskriminiere niemals jemanden wegen Äußerlichkeiten – sei es die Farbe seiner Haut oder die seiner Socken. Mein Motto. Gilt übrigens auch für das Lebensalter (was ich vor allem Opa zurufe, der bittebitte niemals vor ein Auto laufen soll, okay?).

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  14. Naja, Matt, bei den Socken sehe ich das aber anders ;-)

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  15. Ich hatte mir erhofft, Sie würden die kleine Provokation erkennen … ;-))

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  16. Ähnliche Erfahrung bei mir:

    http://www.thilo-baum.de/lounge/berlin/denen-hab-ichs-aber-gezeigt/

    Und, ähm: Wenn jemand darin kramt, scheint es kein Müll zu sein ;-)

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  17. Ein sehr schönes Beispiel für einen Rentner, der bei Rot über die Ampel läuft, ist mir mal passiert.

    In der wartenden Gruppe befanden sich hauptsächlich Studenten, besagter Rentner und eine Mutter mit einem Vorschulkind.

    Der Rentner spurtet bei Rot über die Ampel, und das Kind fragt ganz verständnislos: "Mama, warum geht der Mann denn bei Rot über die Ampel?".

    Die Antwort versetzt alle Wartenden in schallendes Gelächter: "Weißt du, der Mann ist Rentner, der hat keine Zeit um auf Grün zu warten."

    Schön fand ich dabei, dass hier dem Rentner die Erziehungsmaßnahme zuteil wurde.

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  18. warum nicht einfach die Flasche NEBEN einen Mülleimer stellen!?!

    So behält jeder seine Würde:
    Kein Almosen und nicht würdelos es mitzunehmen!

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  19. Nicht schlecht, die Idee. Aber: In der Regel liegt die Flasche binnen Minuten in Form von hundert Scherben auf der Straße oder dem Gehweg. St. Pauli ist gepflastert damit.

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