Es ist ja nicht so, als müsste man sich im Winter wundern über herren- und frauenlos herumliegende Handschuhe. Nein, immer wieder begegnet man einem dieser fünffingrigen Gesellen (seltener Fäustlingen). Gewöhnlich sind sie geografisch sorgsam und irreparabel separiert von ihrem leider doch nicht siamesischen Zwilling, der nun genauso unnütz irgendwo durch die Welt geistert.
Bei Handschuhen kann man ja nun wirklich mit Fug und Recht behaupten, beide seien deutlich mehr als die Summe ihrer Teile. Ohne einander sind sie sogar sofort nichts und niemand. Warum sie dennoch dazu neigen, separat verlorenzugehen, ist schwer begreiflich. Evolutionär gesehen verschafft ihnen das nicht den klitzekleinsten Vorteil, sondern nur die Chance auf ein baldiges böses Erwachen im Mülleimer.
Gingen Handschuhe dagegen grundsätzlich paarweise verloren, so könnte ein gegenüber fremden Nutzungsspuren toleranter Finder immer noch abwägen, ob sich die zwangsläufig vorzunehmende Reinigung zwecks künftiger Weiterverwendung nun lohnte oder nicht. Mir allerdings wäre das Innere fremder Handschuhe höchst unheimlich. Ungern würde ich meine Hand in etwas Dunkles, Stollenartiges stecken. Aber ich bin gegenüber fremden Nutzungsspuren auch nicht sehr tolerant.
Am Bahnhof Altona jedenfalls präsentierte sich mir heute eine neue Variante des allwinterlichen Handschuhvereinsamungsdramas. Es war erschütternd. Hier sehen wir zwei verschiedene, jedoch durch einen irren Zufall am gleichen Ort verlorgengegangene Exemplare. Offenbar ihre baldige Bestimmung begreifend – nämlich ohne ihr jeweiliges Spiegelbild rasch final entsorgt zu werden –, taten die Schicksalsgenossen das, was in Notsituationen schon oft einen Weg wies aus der Gefahr: Sie solidarisierten sich; man kann geradezu von einem bergenden Sichaneinanderkuscheln sprechen.
Ach, es wird ihnen gleichwohl nichts nützen. Aber wer sagt es ihnen?
Links daneben liegt übrigens ein ovales Behältnis, welches ich laienhaft als Kinderüberraschungsei von Ferrero identifiziert zu haben glaube. Welche Rolle es in diesem Melodram spielt, blieb allerdings unklar.
Und dann kam auch schon mein Bus.
Ex cathedra: Die Top 3 der schwärmerischsten Liebeserklärungen
1. „Adriano“ von Ralley
2. „No other love“ von Chuck Prophet
3. „Charlie Watts is God“ von Jackpot
Gabi G. und Martin M. haben sich zufällig hier getroffen. Ein Blick genügte. Sie war neu in der Stadt. Er lebte hier seit einigen Jahren. Abitur haben sie zusammen in Nürnberg gemacht. Die Wege gingen auseinander. Trotzdem: Augen und Gesichter vergißt man nie. Sie warteten beide auf den Bus. Sie erkannten sich. Es ist der Anstand, der es gebietet, zum Handshake die Handschuhe auszuziehen. Im Gespräch über das "Wie geht es Dir", "Was hast Du gemacht", wurden die Handschuhe vergessen. Längst hatten sich die nackten Hände von Gabi und Martin und deren Interesse aneinander verbunden. Martin sagte: "Schau - hier liegt ein vergessenes Überraschungsei - die Schoko ist weg. Der Inhalt ist drin". Mit zwei Händen im Hamburger Grau und auf der Holzbank der öffentlichen Hamburger Verkehrsmittel bastelten sie das Ei zu Ende. Der Bus kam. Sie hatten den gleichen Weg, und sich viel zu erzählen ... Gabi und Martin fehlt je ein Handschuh - dafür hat jetzt jeder ein Teil einer merkwürdigen Plastikfigur...
AntwortenLöschenÜber die Leidtragenden hast Du intensiv berichtet, Matt. Werden Sie jemals wieder ihre persönlichen Pendants wiederfinden? Gibt es ein Hospiz für Regenschirme, Handschuhe, Schals?
Die Berichterstattung ist unvollständig, das sollten Sie nicht einreißen lassen.
AntwortenLöschenWaren es zwei rechte Handschuhe? Zwei linke? Ein rechter und ein linker?
Fragen über Fragen.
@joshuatree
Ihre Geschichte stimmt nicht ganz, bitte schreiben Sie keine Romane. Junge Leute geben sich nicht die Hand, man nimmt sich in die Arme. Liegt das Abitur aber schon sehr lange zurück, bastelt man keine Überraschungseier mehr. Bitte überprüfen Sie Ihr logisches Zentrum. Oder sind Sie etwa gar der Franke? Dann wäre das ein unnützes Unterfangen.
opa, Ihre Ausführungen zur aufgefächerten Storyline sind nachvollziehbar. Allerdings muss ich klarstellen, dass joshuatree allenfalls als DER BREISGAUER durchgehen könnte.
AntwortenLöschenWas die Linksrechtsausrichtung der Handschuhe anging, so kann ich nur wenig zur Aufklärung beitragen. Und zwar deshalb, weil ich mich der Authentizität verpflichtet fühlte im Moment des fotografischen Dokumentierens und es somit peinlichst vermied, aktiv in das sich mir darbietende Arrangement einzugreifen.
Und da beide Handschuhe derart ineinander gekuschelt dalagen, waren weitere Ermittlungen schwierig. Auch das Innere des Überraschungseis erforschte ich nicht. Aber ich kann morgen schauen, ob alles noch so daliegt und weitere Investigationen vornehmen. Allein, ich habe meine Zweifel.
@opa: Ich schreibe gern Mini-Romane, wenn der Impuls dazu besteht. Typisch unfränkisch. Das sollte reichen.
AntwortenLöschen@Matt: Ich bin bekennender Kurpfälzer!
Ansonsten bestehe ich bis auf Widerruf auf meiner romantischen Storyline.
Lieber Opa,
AntwortenLöschenich muss ein bisschen widersprechen. Zweifelsohne gehöre ich nicht mehr zu den Teenagern, doch den „Handshake" konnte ich in Jugendkreisen als durchaus gängig beobachten - mit komischen Fingerverwurschtelungen, Fäusteaufeinanderklopfen, ein kurzes Schulteraneinanderpressen und ähnlichem Eiertanz, aber durchaus noch im Bereich „Handshake" - die ultracoole Variante eben. Und selbst ein schlichtes Händeineinanderdrücken mit den Worte „Ey, was geht, Alter?" war schon dabei.
Keine Ü-Eier mehr basteln? Oh. In welchen Jahren muss man denn Abitur gemacht haben, damit es „sehr lange" zurück liegt?
Abitur? Sie meinen sicher Matura. Damit kann ich leider nicht dienen, über die Gesellenprüfung im Handwerk eines Allgäuer Maurers (mit 16) bin ich nicht hinausgekommen.
AntwortenLöschenIch hoffe, das genügt als Erklärung.
PS:
Churchill war auch Maurer, früher mal, und ist als Sir geendet.
Sir Opa - keine schlechten Aussichten.
AntwortenLöschenJoschka hatte auch kein Abi, und sehen sie mal, was der erreicht hat im Leben – vier Frauen! (oder fünf?)
@ Kurpfälzer
AntwortenLöschenDann können Sie mir vielleicht sogar aus der Patsche helfen: Ich suche verzweifelt seit Jahren den Text eines Liedes, das so beginnt:
Rülpsend lag in seinem Bette
Kurfürst Friedrich von der Pfalz
Gegen jede Etikette
rülpst er laut aus vollem Hals
Refrain:
Wie kam gestern ich ins Nest, Fallera
Bin scheints wieder voll gewest Fallera ...
Der Rest fehlt, ich würde mich selbstverständlich erkenntlich zeigen ...
Hallo Opa, ihre geographische Heimat kenne ich leider nicht. Trotzdem Dank für das Interesse an der recht vielfältigen kurpfälzischen Kultur und Historie.
AntwortenLöschenWütend wälzt sich einst im Bette
Kurfürst Friedrich von der Pfalz;
Gegen alle Etikette
Brüllte er aus vollem Hals:
Wie kam gestern ich ins Nest?
Bin scheint's wieder voll gewest!
Na, ein wenig schief geladen,
Grinste drauf der Kammermohr,
Selbst von Mainz des Bischofs Gnaden kamen mir benebelt vor,
War halt doch ein schönes Fest:
Alles wieder voll gewest!
So? Du findest das zum Lachen?
Sklavenseele, lache nur!
Künftig werd ich's anders machen,
Hassan, höre meinen Schwur:
's letzte Mal, bei Tod und Pest,
War es, daß ich voll gewest!
Will ein christlich Leben führen, ganz mich der Beschauung weihn; um mein Tun zu kontrollieren, trag ich's in mein Tagbuch ein, und ich hoff, daß ihr nicht lest, daß ich wieder voll gewest!
Als der Kurfürst kam zu sterben,
Machte er sein Testament,
Und es fanden seine Erben
Auch ein Buch in Pergament.
Drinnen stand auf jeder Seit:
Seid vernünftig, liebe Leut,
Dieses geb ich zu Attest:
Heute wieder voll gewest.
Hieraus mag nun jeder sehen,
Was ein guter Vorsatz nützt,
Und wozu auch widerstehen,
Wenn der volle Becher blitzt?
Drum stoßt an! Probatum est:
Heute wieder voll gewest!
Friedrich IV., Gründer der Stadt Mannheim, starb 1610 im Alter von 36 Jahren - sein Lebensstil drückt dieses Lied den Überlieferungen nach sehr gut aus.
Dem kann ich bestätigend nur zwei alte Rockerweisheiten hinzufügen: „Live hard, die young“ bzw. „It's better to burn out than it is to rust“.
AntwortenLöschenProst.
Ja, Matt, z.B. Bon Scott und Friedrich IV. werden sich jetzt sicher gut verstehen und wenn sie hier mitlesen, laut über uns lachen.
AntwortenLöschenEs ist immer wieder wahnsinnig spannend, wie man von der Abbildung von 2 unterschiedlichen Handschuhen doch derart abschweifen kann... ;-). Deine Geschichte muss gut gewesen sein.
--> joshuatree.
AntwortenLöschenVerbindlichsten Dank, mein Herr. Text abgekupfert und für die Ewigkeit konserviert.
Opa Neo-Bazi, dessen Piratenflagge 14 Stockwerke über der Reeperbahn weht, ist gebürtiger Allgäuer, daher der seltsame Name.
Mein bester Kumpel in meiner Zeit auf der Hardthöhe war seinerzeit ein Pfälzer Bootsmann. Mit diesem Kampfsong haben wir die dort ebenfalls stationierten Feldjäger, die sich irrtümlicherweise auch als Elitetruppe bezeichneten, bis auf ein einziges Mal stets erfolgreich in die Flucht geschlagen.
Nur einmal, da wollten sie es wissen, ich glaube das tut ihnen heute noch leid. Das gesamte Mobilar des verzeifelten Kantinenwirts ging dabei zu Bruch. Man sollte die Marine eben nicht reizen.
Also nochmals heissen Dank, wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen.
Gern geschehen, verehrter Herr Opa und danke für Ihre Beschreibungen während Ihrer Zeit auf der "Bonner Hardthöhe". Dieser Zeitraum muss ihrem Alter nach zu urteilen, noch recht lang gewesen sein. Meine Zivi-Zeit dauerte "damals" auch 20 Monate. Womit ich mich ebenfalls als Grandpa der letzten Zuckungendes Kalten Krieges und des NATO-Doppelbeschlusses bezeichnen darf. Es freut mich, daß Ihnen der Friedrich IV.-Song gefallen hat.
AntwortenLöschenIrgendwie würde "Leningrad" von Billy Joel jedoch weit besser passen, wenn ich nun den Weg zurück zur heutigen Rückseite der Reeperbahn und zur eigentlichen Intension des Blogowners zurückbeschreiten darf.
Auf Ihr Ehrenangebot des literarischen Returns komme ich sehr gerne auf Bedarf zurück.
Gruß aus der Kurpfalz.
J. *frrkpgy*
Ja, lieber Herr joshuatree, das ist sehr lange her, das Ganze.
AntwortenLöschenBitte wundern Sie sich nicht über die intimem Details, die ich in der Reihe "Stationen einer ungewöhnlichen Karriere" sowie in der Rubrik VIP öffentlich ausplaudere. Ich mache das für meinen Enkel, da mein Sohn viel zu früh verstarb und die neun Kinder und Enkel meines Bruders, der das gleiche Schicksal erleiden mußte. Die öffentliche Form der Darstellung zwingt mich, jede Schönfärberei zu vermeiden. Reality Blogging.
Hezlichen Gruß
xnhkfxz
Die sehr persönliche, realistische Schilderung ging mir zu Herzen und hat mich auch politisch sehr bewegt. Danke dafür ;-).
AntwortenLöschenbtw: Ihr Blog hat wahrlich eine geniale Subline in Form des Nietzsche-Zitats.