01 März 2016

Mein erstes und (wahrscheinlich) letztes Interview mit Donovan


Dylan? Ein Gäle!
Die Folklegende Donovan (69) kommt auf 50-Jahre-Jubiläumstour. Sollte man seine seltsame Begegnung mit Bob Dylan 1965 erwähnen? Ach, warum eigentlich nicht …
 
Donovan, es gibt nur wenige Künstler, die so berühmt wurden, dass sie keinen Nachnamen brauchen. Wo würde ein Brief landen, der an „Donovan, Ireland“ adressiert wäre?
Donovan: Ich habe zwar ein Haus in Irland, kann aber nur selten dort sein, weil ich viel auf Reisen bin. Post also am besten an support@donovan.ie.
Sie sind einer der einflussreichsten Künstler der letzten 50 Jahre. Wer beeinflusst Sie denn momentan?
Donovan: Wir Dichter wissen, dass wir von der Tradition beeinflusst sind. Ich auch. Die gälische Erzähl- und Liedtradition ist mein ewiger Einfluss. Und ich selbst beeinflusse Tausende neue und aufstrebende Künstler. Kommen Sie zum Konzert, dann hören Sie es!
Gern. Würden Sie mir den Gefallen tun und „Jersey Thursday“ spielen?
Donovan: Mit Vergnügen, aber Sie müssen es laut reinrufen in der zweiten Hälfte.
Kann man sich als Künstler eigentlich zeitlebens weiterentwickeln?
Donovan: Klar. Ich habe unzählige Methoden entwickelt, wie ich singen und Gitarre spielen kann. Meine Auftritte wirken zwar simpel. Aber die Verbindung herzustellen zwischen mir und dem Publikum durch einzigartige, kraftspendende Lieder: Das ist heilsam für ruhelose Seelen.
Im Dokumentarfilm „Don’t look back“ reagiert Bob Dylan ziemlich spöttisch auf Sie, nachdem Sie ihm als „britischer Dylan“ vorgestellt wurden …
Donovan: Dylan hat die gälische Songtradition genau studiert, ehe er selbst zu schreiben anfing, sein großer Held Woody Guthrie hatte starke schottische Wurzeln. Ohne gälischen Einfluss hätte Dylan gar nicht loslegen können. Ich war also nicht der britische Dylan, Bobby war der amerikanische Gäle! Und wie Alan Price im Film so schön zu ihm sagt: „Er spielt besser Gitarre als du“ …
Sie sollen zu Hause keinen Internetanschluss haben. Steckt eine Protesthaltung dahinter?
Donovan: Das Internet ist wie ein seltsames Telefon: Es funktioniert nur in eine Richtung. Und E-Mail ist ein Hamsterrad.
5. 4. Hamburg
6. 4. Berlin
8. 4. München
10. 4. Heilbronn
11. 4. Schwabach
13. 4. Ravensburg
14. 4. Fulda
16. 4. Köln
17. 4. Ennepetal
19. 4. Mainz
20. 4. Dresden
22. 4. Leipzig
23. 4. Gotha

(erschienen in der Printausgabe der Zeitschrift kulturnews, März 2016; kulturnews.de)





26 Februar 2016

Das Pümpelproblem

Ich habe unseren Pümpel geschrottet. Während des verdächtig folgenlosen Intensivgebrauchs am Badewannenabfluss bemerkte ich einen langen Riss im Gummi. Der Pümpel war nach jahrelanger klagloser Benutzung anscheinend einer spontanen Dysfunktionalität anheimgefallen. Ein neuer musste her.

Noch während ich suchend durch die Budni-Filiale in der Rindermarkthalle streifte, kam mir der innerlich bereits zurechtgelegte Satz „Entschuldigen Sie, wo finde ich die Pümpel?“, mit dem ich in Bälde eine der hinreichend vertretenen Verkäuferinnen zu behelligen trachtete, irgendwie anzüglich vor.

Vielleicht kannte sie das Wort gar nicht und dächte wer weiß was. Vielleicht würde ich mir dann mit Umschreibungen helfen müssen – zum Beispiel einer Formulierung wie „Ich suche einen manuellmechanischen Abflussreiniger auf Druckluftbasis“. Die Gefahr bestünde dabei natürlich, für wunderlich gehalten zu werden. Aber ich brauchte nun mal einen Ersatzpümpel!

Und plötzlich stand ich so zufällig wie innerlich erleichtert vor einem Pümpeltrio. Es erfreute sich der Nachbarschaft friedlich vor sich hin dösender Klobürsten. Diese waren auch ordnungsgemäß als Klobürsten deklariert, doch was stand wohl auf dem Schild zum Pümpel, etwa „Pümpel“?

Ich beugte mich hinab und las: „Pumpfix Saugglocke mit Holzstiel“. Ein frisch erworbenes Wissen, das ich an dieser Stelle gerne mit Ihnen und der Welt teilen möchte.

Andererseits weiß ich noch immer nicht, ob die Durchschnittsbudnifachkraft das Wort Pümpel kennt und ob sie beim Hören desselben aus irgendeinem Grund, den ich mir noch immer nicht recht erklären kann, rote Ohren bekäme.

Der neue Pümpel funktioniert übrigens tadellos. Auch wenn er sich offiziell als Saugglocke mit Holzstiel euphemisieren lassen muss.








07 Februar 2016

Die Flugverkehrverschwörung

Es ist allgemein bekannt, dass nichts fliegen kann, das schwerer ist als Luft. Dennoch glauben viele Menschen an die Existenz von Flugzeugen. Und nicht nur das: Viele von Ihnen sind sogar der festen Überzeugung, selbst schon einmal geflogen zu sein.

Wie aber kann das sein? Es liegt an der perfidesten Verschwörung seit Bielefeld. SIE wollen nämlich, dass Sie denken, der Flugverkehr existierte. Und zwar aus Gründen, die ich in diesem Text überzeugend offenzulegen glaube. Wenn SIE mich lassen.

Zurück zum Anfang: Nichts kann fliegen, das schwerer ist als Luft. Das ist Tatsache. Gleichwohl gibt es angeblich Objekte aus tonnenschwerem Metall, die sich in die Luft erheben und sogar Menschen von A nach B transportieren können. Das ist natürlich hanebüchener Humbug – und nichts weiter als eine grandiose Illusion, die SIE herstellen.

In Wahrheit gibt es gar keine Flugzeuge. Alle Filmaufnahmen davon sind Tricks, hergestellt in Studios, die jenem ähneln, das damals auch die Mondlandung gefakt hat. Und wenn Sie jetzt sagen: Aber ich war doch schon mit dem Flieger auf Mallorca! In Bali! Auf den Malediven! So muss ich Ihnen sagen:

Waren Sie nicht.

Stattdessen sind Sie kurz nach dem Betreten der Flugzeugattrappe mit halluzinogen Drogen („Tomatensaft“) versorgt worden, die Ihnen genau das vorgegaukelt haben. Die so erzeugten Räusche sind dank der Hightech-Chemikalien, die im Auftrag von DENEN entwickelt wurden, beliebig steuerbar. Denn SIE kennen natürlich die Daten Ihrer gebuchten Urlaubsreise und timen die Halluzinationen passgenau. Ihre Ticketeinnahmen fließen dabei direkt in die Forschung und Entwicklung der Flugverkehrverschwörungsaufrechterhaltungsindustrie.

Wenn Sie dann „zurück“ sind aus dem „Urlaub“, können Sie Ihren Kollegen vermeintlich detailgenau vom Hotelpool und den Tauchgängen zum Korallenriff erzählen – aber das war nur das Ihnen chemikalisch eingepflanzte Drehbuch, das billige Lohnsklaven in Delhi in DEREN Auftrag getextet haben. Und Ihre Digitalkamera hat man natürlich auch mit einer entsprechenden Bildersammlung bespielt.

Möglicherweise werden Zweifler jetzt Flugzeugabstürze ins Spiel bringen, die angeblich gut dokumentiert seien. Dazu mal eine Frage: Kennen Sie auch nur ein einziges Opfer persönlich? Nein …? Kein Wunder. Denn wenn nichts fliegen kann, das schwerer ist als Luft, dann kann natürlich auch nichts abstürzen.

Die Filmaufnahmen von qualmenden Trümmern auf YouTube, die weinenden Rettungskräfte, die Zinksärge: All das sind nichts als mehr oder weniger gut gemachte Kulissen. Wracks werden aufwendig präpariert, und die angeblichen Opferangehörigen sind Schauspieler, die vertraglich zu lebenslangem Schweigen verdonnert werden. Für die Aufrechterhaltung der Flugverkehrverschwörung sind solche Horrorszenarien immens wichtig. Dadurch kommen Sie überhaupt nicht auf den Gedanken, die Ausgangslüge der Flugverkehrverschwörung zu hinterfragen. Was abgestürzt ist, muss vorher auch in der Luft gewesen sein, nicht wahr …?

Wenn Sie in der Nähe eines Flughafens wohnen, denken Sie womöglich, Sie sähen täglich startende und landende Flugzeuge. Falsch. Was Ihnen vorgesetzt wird, sind ultraleichte, mit Helium (Achtung: leichter als Luft!) gefüllte Attrappen in Flugzeugform, die schon bald wieder umkehren und dann eine Landung simulieren. Aus Kostengründen ersetzt man diese Attrappen neuerdings mehr und mehr durch raffinierte Hologramme, die mit LED-Beamern an den Himmel projiziert werden. Allerdings funktioniert das zurzeit nur bei dichter Bewölkung, aber nicht mehr lange.

Bleibt natürlich die Frage: Wozu das alles? Warum wird eine so gigantische Illusion mit Tausenden von Mitwissern aufgebaut? Warum wird all das Geld, das angeblich in die Produktion von Flugzeugen und den Betrieb börsennotierter Firmen („Airbus“, „Boeing“ etc.) gesteckt wird, stattdessen in die Kreation einer möglichst authentisch wirkenden Verschwörung investiert? Warum schießt man mit in bevölkerungslosen Gebieten stationierten Spezialkanonen sogar Feuerwerkskörper in die Troposphäre, um Kondensstreifen („Chemtrails“) zu simulieren? Kurz: Warum gibt man nicht einfach zu, dass nichts fliegen kann, das schwerer ist als Luft …?

Nun: um die Legende eines leistungsfähigen wissenschaftlich-chemisch-militärischen Komplexes aufrechtzuerhalten. Solange Sie nämlich denken, der technische Fortschritt sei Tatsache, werden Sie in freudiger Erwartung auf die nächste Neuerung warten, die angeblich Ihr Leben erleichtert, statt in gerechter Empörung die Welt in Schutt und Asche zu legen.

Besonders skandalös: Selbst die Regierung, die federführend hinter allen anderen Verschwörungen steckt, wird im Fall der Flugverkehrverschwörung hinters Licht geführt. Sie zahlt Subventionen für Forschung und Entwicklung, um den technischen Fortschritt und die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern – und finanziert damit nichts weiter als die Illusion dieses Fortschritts.

Wenn Sie also das nächste Mal eine „Flugreise“ von A nach B buchen wollen, überprüfen Sie einfach, ob auch ein Zug dorthin fährt. Dann ist die Chance nämlich groß, dass Sie wirklich in B ankommen.

Übrigens gibt es auch keine Smartphones. Aber dazu mehr in unserer nächsten Folge.





24 Januar 2016

Pareidolie (108): Niemanns Sockensaurier


Zwar werden hier unter der Pareidolierubrik normalerweise nur Fundstücke veröffentlicht, bei denen der Zufall mit verblüffender Präzision Regie führte, doch heute muss aus gegebenen Anlass eine Ausnahme gemacht werden.

Der Grafiker und Zeichner Christoph Niemann findet nämlich großen Gefallen daran, mit ein paar drumherum gepinselten Strichen Alltagsgegenständen ungeahnte Kontexte zu geben. Und manchmal wird daraus eine Pareidolie – bzw. ein bezaubernder Sockensaurier.

Er ist zurzeit im Rahmen der Niemann-Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen, und zwar noch bis zum 10. April.

PS: Eine ganze Galerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.

18 Januar 2016

Mein erstes und letztes Interview mit Gunter Gabriel

Damals, 2009, traf ich Gunter Gabriel, weil er eine wirklich respektable Platte am Start hatte. So richtig durch die Decke ging seine Karriere danach trotzdem nicht; deshalb sitzt er jetzt gerade im Dschungelcamp.

Das finde ich Anlass genug, um der Welt mein schonungslos liebevolles kulturnews-Porträt des damals, 2009, noch nicht ganz so schabrackigen Altcountrybarden erneut ins Gedächtnis zu rufen. 

Nach dem Interview versprach er übrigens, mir Platten seines – nach Johnny Cash – zweitliebsten Songwriters Shel Silverstein zuzuschicken. 

Raten Sie mal, worauf ich heute noch warte.





Der Mea-culpa-Mann

Je tiefer man fällt, desto höher kann man auch wieder steigen. Lebender Beweis: Gunter Gabriel.
 

Er steht da mit 67 wie ein Kerl, ein ganzer Mann. Aus zwei Metern Höhe schaut Gunter Gabriel herab, sein imposanter Ranzen wölbt sich auf Altherrenart unterm Oberhemd, und beim Gespräch legt er manchmal den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. Allerdings nur, weil er schon mal besser gehört hat. Aber haben wir das nicht alle?

Gunter Gabriel ist hier, weil er wieder zurück ist. Und er hat eine Botschaft. Sie lautet: Ich bin schuld, und zwar an allem.  Seine größte Zeit hatte er während der Ölkrise der frühen 70er. Jetzt steckt die Wirtschaft noch tiefer im Sumpf, und prompt ist Gabriel wieder da – als Mea-culpa-Mann.

Er sagt, wie scheiße er war, doch er bittet nicht mal um Verzeihung. Sein derbes, mächtiges Mea culpa hat er in eine Autobiografie gepackt und in eine Platte. Die Platte ist die beste seiner fast 35-jährigen Karriere. Weil sie endlich mal so cool und abgehangen klingt, dass man sie vorzeigen kann. Weil jeder Song, auch ein Cover wie Radioheads „Creep“ (das kongenial zu „Ich bin ein Nichts“ wird), die gebrochene Größe des Gunter G. widerspiegelt.

Wer beim Hören der erdigen Produktion „Plagiat!“ ruft, weil sie schwer ans Konzept des späten Johnny Cash erinnert, der ruft ins Leere, denn auch das gibt der gute Gunter vorauseilend zu: Sein Album hat nämlich den Untertitel „German Recordings“, ein Pendant zu Cashs „American Recordings“. Ist das die Strategie: einfach alles zugeben, damit einem keiner mehr was anhängen kann?

Gabriel legt den Kopf schief, faltet die Stirn und schaut verwegen. „Das ist hundertprozentig richtig“, sagt er. „Ich habe mich geöffnet und gesagt: Jawoll, ich bin pleite, jawoll, ich habe meiner Frau was auf die Fresse gehauen. Ich sag das jedem: Kotz dich aus! Bevor dich die Kotze erstickt.“

Gabriel redet wie einer, dem keiner mehr was kann, weil er längst gerafft hat, dass er selbst sein größter Feind war. Er hat seine Millionen aus Hits wie „Er ist ein Kerl“ in windigen Bauherrenmodellen versenkt, und er hat zu Hause derart rumgenervt, dass ihm die Ehefrauen reihenweise wegliefen, vier insgesamt. Jetzt lebt er auf einem Hausboot im Hamburger Hafen und versucht, die positiven Gefühle nachzuleben, die er einst unterm Schutt aus Eifersucht, Suff und Egomanie begrub.

Gunter Gabriel war mal sehr peinlich, doch er gewinnt gerade die knorrige Größe des Gescheiterten, der zu zäh war, um ganz unterzugehen. „Mir geht’s heute zehnmal besser als damals“, brummt der Exmillionär so tieffrequent, dass der Rekorder vibriert. „Ich bin reich, auf meine Art. Ich lege mich noch immer gerne voller Lust zwischen die Schenkel einer Frau und kann das genießen und sagen: Ist das nicht toll, dass wir uns riechen und spüren? Das ist doch ein Geschenk, das du als alter Sack noch genießen kannst!“

Der alte Sack wird sein Comeback hinkriegen. Mit dieser Platte, diesem Buch, dieser Haltung: Das klappt. „Ich habe“, brummt er gelassen, doch ohne Stolz, „in jeden Scheißhaufen reingetreten, der sich mir bot, ja.“

Zum Glück.



Foto: Matt Wagner







13 Januar 2016

Eine leere Drohung, leider

Uwe Christiansen ist ein Weltstar unter den Barmixern, denn er hat einen legendären Cocktail erfunden: den Cosmopolitan. 

Doch was nützt ihm da schon.

Denn weder dieser Erfolg noch das Warnschild, das er am Fenster seiner Bar in St. Pauli angebracht hat, halten Entschlossene davon ab, ihm an die Hauswand zu pullern. Und wie man sieht, ist das Schild leider auch nicht mehr als eine leere Drohung. 

Karl Popper forderte bekanntlich von der Wissenschaft, jede These strengen Falsifikationstests zu unterziehen. Insofern ist einer, dem die Blase drückt und parallel ein Warnschild mit der Behauptung „Wir pinkeln zurück“ ins Auge sticht, geradezu gezwungen, dort eine ordentliche Stange Wasser abzustellen.

Und siehe da: Sie, die Stange, folgte schlichtweg den beiden hauptzuständigen Naturgesetzen (Gravitation sowie Eintrittswinkel = Austrittswinkel), und das in geradezu mustergültiger Akkuratesse.

Wie langjährige Verfolger dieses Blogs sicher bereits genüsslich festgestellt haben, ist im Rahmen der soeben rekonstruierten Vorfälle auch ein St.-Pauli-spezifisches Naturgesetz strikt eingehalten worden: 



Wo immer man nämlich hier im Viertel den Fotoapparat gen Boden richtet und abdrückt, ist am Ende irgendwo eine Kippe im Bild.

Die Cocktails bei Christiansen’s schmecken übrigens formidabel, nicht nur der Cosmopolitan.
 




 


31 Dezember 2015

Fundstücke (210)



Diesen Silvester möchte ich wegen des bestürzenden Misserfolgs in den Vorjahren auf meinen traditionellen Appell, sich heute Nacht ausnahmsweise mal nicht nützliche Körperteile wegzusprengen, verzichten.

Stattdessen verweise ich hiermit einfach auf die entsprechenden Archiveinträge. Sie finden Sie gesammelt hier.

Kurz vor Jahrestoresschluss hat sich heute noch jemand vorm Nachbarhaus einiger überflüssiger Utensilien entledigt. Neben einem Stapel billiger Taschenbücher gehörten dazu auch eine Säuglingstragetasche sowie ein Kinderwagen, alles allem Anschein nach funktionsfähig.

Ein Baby oder etwas Ähnliches befand sich indes nicht unter den entsorgten Materialien, soweit ich das nach einem oberflächlichen Check beurteilen kann.

Und mit einer besseren Nachricht vermag ich Sie leider nicht aus diesem Jahr zu entlassen.

24 Dezember 2015

Nur die Harten kommen in den Garten (Eden)


Vormittags waren wir frohgemut aufgebrochen zum Ostereiersuchen, blieben aber seltsam erfolglos.

Stattdessen entdeckten wir in der Innenstadt, die wider Erwarten kaum von hochnervösen Last-Minute-Panikern bevölkert war, allerhand Christen diverser Couleur mit Ermahnungen auf selbstgebastelten Schildern.

Der Mann rechts im Bild etwa hatte in der Bibel einen Korintherspruch entdeckt, in dem diverse Zielgruppen aufgezählt werden, die nach Gottes Gusto dermaleinst ewige Verdammnis zu gewärtigen haben.

Neben den üblichen Verdächtigen – Diebe, Schwule etc. – drohte er auch „Weichlingen“ mit finalen Konsequenzen. 

Gerade von Letzterem fühlte ich mich ein wenig verletzt, denn als Kriegsdienstverweigerer* gehöre ich nicht gerade zur Hardboiledfraktion, die Gott anscheinend präferiert.

Ob Leute, die Seine Sprüche auf Schilder pinnen, auch kommasicher sind, scheint Ihm hingegen ziemlich pimpe zu sein.

Und damit wünsche ich Ihnen allen frohe Ostern.


*Ja, liebe Jugend, so was gab es mal in der BRD. Einfach mal googeln.

16 Dezember 2015

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (100): Rückseite der Reeperbahn



Es ist ja nicht so, dass wir auf St. Pauli nur sonisch belästigt würden. 
Nein: Gegenüber hält ein Bewohner der Reeperbahn es für höchst kommod, seine Wohnung vermeintlich adventlich zur kunterbunten Lichtorgel fehlzuilluminieren.
 
Andere Frage: Wie ist eigentlich die Reichweite eines Luftgewehrs?*

*Nicht, dass ich so etwas besäße.


28 November 2015

Fundstücke (209)


Gut, er hatte zwar dummerweise den Bolzenschneider vergessen, als er morgens loszog. 

Doch dann kam ihm eine pfiffige Idee, die doch noch den Tag rettete.

Entdeckt in der Seilerstraße.


24 November 2015

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (99)



Aufgenommen in der Großen Freiheit im Eingang von Gretel & Alfons, wo ich Zuflucht gesucht hatte vorm Regen.

Reingehen war ausgeschlossen, denn da drin RAUCHTEN Leute!

17 November 2015

Die gelähmte Kuh



Fleischlastigkeit ist seit jeher ein typisches Feature meines hessischen Heimatdorfes. Daran wurde ich bei einem Besuch jetzt mal wieder in aller Deutlichkeit erinnert.

Gleich am ersten Abend nämlich verschleppte man mich ins Dorfgemeinschaftshaus zum einmal jährlich stattfindenden sog. „Schlachtfest“. Ausgetragen wird es traditionsgemäß vom – Achtung! – Vogelschutzverein.

Und in der Tat war auch keinerlei Federvieh Bestandteil der als einziges Gericht angebotenen Schlachtplatte. Stattdessen war sie komponiert aus – neben den zwar inhaltlich, aber keineswegs quantitativ vernachlässigbaren Beilagen Kartoffeln, Kraut und Graubrot – zwei verschiedenen Würsten,  einem Rippchen und einer ordentlichen Scheibe „Presskobb“ (phonetische Schreibweise).

Beim ehrfürchtigen Betrachten des zupackend geschichteten Riesenhaufens von geschätzten 5000 Kalorien Totgewicht kam ich nicht umhin zu konstatieren, dass der Vogelschutzverein sich ja auch satzungsgemäß keineswegs dem Wohlergehen des Mastschweins verpflichtet hat. Ereignisimmanent betrachtet war das also schon in Ordnung so.

Als wir am nächsten Tag durch die Gemarkung fuhren, wurde ich auf eine Kuh hingewiesen, die unbeweglich auf einer Weide ruhte, und zwar in einem Haufen Heu, den sie behaglich dezimierte. Die Kuh wirkte wie eine bovine Couchpotato, hatte aber ein schweres Schicksal zu tragen.

Vor einigen Tagen nämlich, so erfuhr ich, war die Hochschwangere einen Abhang hinabgestürzt und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Nun herrschte Uneinigkeit unter den Farmersleuten, ob man das gelähmte Nutzvieh sofort zum Schlachter schaffen (-> der Mann) oder doch erst noch die Geburt des Kälbchens abwarten solle (-> seine Frau).

Ich schwankte zwischen Mitleid mit dem armen Tier, dessen Schicksal unabhängig vom Ausgang der Diskussion besiegelt war, und Neid auf seine Unwissenheit. Bis zum letzten Tag würde die anscheinend wenigstens von Schmerzen ungeplagte Kuh weiter zufrieden an dem stets auf wundersame Weise neu in Maulweite aufgeschichteten Haufen Heu herummöfeln, ohne auch nur eine Vorstellung von Zukunft zu haben.

Vom Vogelschutzverein veranstaltete Schlachtfeste kamen in ihrer paradiesisch schlichten Vorstellungswelt nicht vor, und selbst wenn, dann fände sie es wahrscheinlich höchst beruhigend, dass nur so was wie Presskobb auf die Teller geklatscht würde, aber nichts, das einstmals Körperbestandteil von Artgenossen gewesen war. 

Als wir am nächsten Tag wieder an der Weide vorbeikamen, war der Platz, wo die Kuh gelegen hatte, leer. Doch sie hatte fast das ganze Heu geschafft.





25 Oktober 2015

Fundstücke (208)



Überraschenderweise hat es der Kosename für St. Pauli in die neuste Ausgabe der Apple-App „Karten“ geschafft.

Bei einer bestimmten Größeneinstellung heißt unser Stadtteil dort nämlich ganz lapidar „Kiez“. Dabei ist diese Bezeichnung keineswegs offiziell, sondern lokaler Jargon. Ein – sagen wir – Hintertupfinger Apple-User, der sich mithilfe der Karten-App nach St. Pauli navigieren lassen möchte und diesen Stadtteil nicht namentlich vorfindet, könnte begriffstutzig die Stirn runzeln.

Sollte er zuvor in Berlin gewesen sein, wird ihm die Sache erst recht nicht klarer. Dort gilt der Begriff ganz allgemein als Synonym für Stadtviertel. Die Hauptstadt hat also – im Gegensatz zu Hamburg – viele Kieze.

Der Verdacht liegt nahe, hier könnte sich ein kiezianischer Undercoveragent ins Übersetzerteam der Karten-App eingeschlichen und den Leuten aus Cupertino ein kleines Ei ins Nest gelegt haben. 

Mal schauen, wie viele Programmupdates das Wörtchen Kiez übersteht.
Ich hoffe natürlich, viele.

23 Oktober 2015

Fundstücke (207)


Bedauerlicherweise sehen wir hier den typischen Verlauf eines Hamburger Fahrradwegs. Das Beweisfoto entstand heute Nachmittag am Neuen Kamp in St. Pauli.

Beim sinnierenden Betrachten wird unmittelbar evident, warum auch ohne allgemeine Helmpflicht ein Kopfschutz dringend angeraten ist. 

17 Oktober 2015

Bedingungslos lydonsfähig



Gestern Abend traf ich erstmals den Mann, der mir mit 17 das Leben gerettet hat. Na gut, er hat es mir damals zumindest enorm erleichtert. Und ich traf ihn auch nicht persönlich, sondern befand mich nur mit ihm in einem Raum, gemeinsam mit ein paar Hundert anderen. Aber immerhin.

Verdammt, ich war am selben Ort auf diesem Planeten mit JOHNNY ROTTEN!

Seit dem Ende der Sex Pistols heißt er wieder bürgerlich John Lydon, aber was macht das schon? Für mich wird Johnny immer Rotten bleiben – also der Mann, der mir einst das Leben rettete. Na gut, fast.

Damals war ich ein Teenager vom Dorf, der nach der Mittleren Reife unter Fremdeinfluss (Eltern!) den Fehler seines Lebens begangen und eine Lehre bei der Sparkasse angefangen hatte. Morgens um 8 musste ich antanzen, in Anzug und Krawatte, das war schon schlimm genug für einen 17-Jährigen, dessen Freunde sich gerade die Haare wachsen ließen. Und dann noch die Verarsche durch ein sadistisches Kollegenensemble – wie man’s halt so macht mit Azubis vom Dorf.

Nachmittags kam ich fertig nach Hause und schob den Rest des Abends Horror vorm nächsten Tag. Bis diese Platte erschien: „Never mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Ich hatte in der damals coolsten Musikpostille Sounds die Kritik gelesen und rannte bei nächster Gelegenheit in den Plattenladen. Shit, die LP war jeden Pfennig des Azubigehaltes wert!

Der Sänger, ein (wie ich aus der Sounds wusste) dürrer Typ mit irre aufgerissenen Augen und einem Grinsen von triefender Verachtung, kreischte hysterisch, dazu verprügelte irgendjemand Saiteninstrumente und Drums, alles explodierte …

Diese hyperventilierenden Schreihälse aus England taten also genau das Gegenteil von dem, was ich tagtäglich tat. Was ich tagtäglich tun musste. Ihre Hemmungslosigkeit lag exakt am unerreichbaren anderen Ende der Skala meiner sparkassenbedingt immens eingeschränkten Handlungsoptionen. „Never mind the Bollocks“ war eine radikale Utopie. Aber eine greifbare: Sie kreiste mit 33,33 Umdrehungen auf dem Plattenteller und veränderte die Welt.

Ich liebte diese Platte. Abends hieß es: Schlips in die Ecke und „Holidays in the Sun“ auf Lautstärkelevel 10. „No feelings“ bis zum Kollaps. Stress relief vom Allerlautesten. Die Wände meines Jungszimmers wackelten unter der Urgewalt der Sex Pistols, das ganze Haus vibrierte.

„God save the Queen“, geiferte Johnny höhnisch, „she ain’t no human being“, und diese Einschätzung schien mir auch eine außergewöhnlich treffsichere Beschreibung meines Filialleiters zu sein.

Bis plötzlich alles erstarb.
Meine Mutter hatte oben die Sicherung rausgedreht.
Fuck!

Später halfen mir auch Nick Drake und Joy Division durch die alles überwölbende Tristesse der Sparkassenjahre, doch die kathartische Kraft von „Never mind the Bollocks“ blieb unerreicht. Johnny Rotten, diese an beiden Enden brennende menschliche Fackel der entfesselten Aggression, war die monumentgewordene Antithese. Das habe ich ihm nie vergessen. 

Und gestern, Jahrzehnte später, war ich erstmals in meinem Leben mit ihm in einem Raum. Er spielte mit seiner Band PiL im Berliner Columbia Theater. John Lydon trug ein schwarzes Kurzarmhemd und wirkte darin ziemlich stämmig. Statt hysterisch zu kreischen, verfeinert er inzwischen eine selbst entwickelte Technik des Jaulens und Heulens.

Manchmal hob John wie segnend die Arme (die Karikatur eines Papstes des Punk!), und manchmal musste er die Brille (!) abnehmen, um die auf einem Stehpult parat liegenden Songtexte lesen zu können. Auch an ihm, dem Helden meines Jungszimmers, sind die Jahre eben nicht spurlos vorübergegangen. Noch etwas, was uns beide verbindet – und was mich, wenn Sie mir diesen Kalauer verzeihen, weiterhin bedingungslos lydonsfähig macht.

Neben mir stand eine junge Asiatin mit streichholzdünnen Beinen, vielleicht 18 oder 19, und als John „This is not a love song“ jaulte und heulte, sang sie jede Silbe mit. Das trieb mir endgültig die Tränen in die Augen. Na ja, fast.

Wenn Sie das lesen und gerade die Mittlere Reife in der Tasche haben: Bitte hängen Sie das Abi hinten dran. Studieren Sie. Aber machen Sie unter keinen Umständen eine Sparkassenlehre! 

Denn keiner kann Ihnen garantieren, dass wieder zufällig ein Johnny Rotten zur Hand ist, um Sie mit einer einzigen Platte aus den Händen jener zu befreien, die keine menschlichen Wesen sind.




26 September 2015

Fundstücke (206)


„Sonst“, bemerkt Ms. Columbo ganz richtig, „sieht man so etwas nur in Mafiafilmen. Dann liegt das Gesicht allerdings in einem Teller Spaghetti.“

Das war hier allerdings nicht ganz der Fall. Woher sollte im ICE zwischen Hamburg und Koblenz auch ein Teller Spaghetti kommen?

Die Dame wachte übrigens trotz bedrohlich eingeschränkter Frischluftzufuhr irgendwann wieder auf.

Aber da hatte ich mein klammheimliches Bild schon im Kasten.

24 September 2015

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (98): Messehalle B7


Zwar strahlt die Messehalle B7 in ihrer schieren Größe und Höhe grundsätzlich eine typisch messehallenmäßige Kühle und Unbehaustheit aus, doch das gerade dort stattfindende selbstorganisierte Gewusel macht sie zur momentan gemütlichsten Ecke des Viertels.

Vor B7 landen Unmengen von Spenden für die Flüchtlinge an (sogar Betten???), drinnen werden sie sortiert, verteilt und schließlich ausgegeben. 
Helfende Hände sind stets willkommen, auch stundenweise, man kommt und geht völlig unbürokratisch, aber auf eigenes Risiko – das ist ja kein echter Arbeitsplatz, sondern nur ein freiwilliger.

Ich will nicht behaupten, dass diese Sachgebiete für alle Zeiten zu meinen Fachgebieten gehören werden, doch ich weiß inzwischen ziemlich viel über Damenjacken und Kinderschuhgrößen. 

Schauen Sie doch auch mal vorbei. Sie werden nirgends nettere Menschen treffen.



20 September 2015

Abgespritzt und abgehauen

Selbstverständlich hat jeder Mensch ein Recht auf Rausch. Körperchemie ist ohne jede Frage Privatsache. 

Und das gilt auch für den Junkie, der sich vergangene Nacht in unserem Hauseingang einen Schuss setzte.

Wofür mir allerdings weitgehend das Verständnis fehlt, ist das anscheinend schlagartig nach dem Abdrücken einsetzende Desinteresse des Protagonisten für seine Utensilien.

Warum lässt man eine blutige Spritze in einem fremden Hauseingang liegen? Zehn Meter weiter ist ein Mülleimer. Für diesen kurzen Gang hätte das Verantwortungsbewusstsein selbst eines halbwegs zivilisierten Junkies des 21. Jahrhunderts eigentlich ausreichen müssen.

Stattdessen ging er (Verzeihung, wenn ich die weibliche Hälfte der Bevölkerung hier sprachlich diskriminiere) das Risiko ein, dass jemand hineintritt, ein Hund sich dran die Schnauze piekst oder ein Kind damit herumspielt.

Liebe Hamburger Entsorgungsbetriebe: Im oben erwähnten Mülleimer liegt jetzt eine benutzte Spritze unbekannter mikrobiologischer Provenienz, und ich bin dafür verantwortlich.

Bitte seien Sie vorsichtig.



16 September 2015

Zehnjähriges, hey!


Als ich heute Abend vom Sport kommend an Planten un Blomen vorbeiradelte, wo ich neulich das abgebildete Prachtexemplar einer (allerdings verschiedenen) Kiezratte umfahren musste, und kurz darauf an der Millerntorkreuzung die Straße überquerte, sah ich an der Rückseite der U-Bahnstation St. Pauli einen Mann mit Kapuzenfleecejacke.

Er stieg behende (!) aus seinem Rollstuhl (!!), entpackte sein primäres Geschlechtsteil und setzte einen beeindruckend strammen Strahl in die geplagte Botanik.

Tote Ratten, Bettelbetrüger, Eckenpinkler etc.: Ich weiß schon, warum mir in den vergangenen zehn Jahren der Stoff eigentlich nicht ausgegangen wäre, doch es hat mich schon ein bisschen ermüdet, solche Sachen nicht nur immer wieder zu erleben, sondern hier auch niederzuschreiben.

Gleichwohl und nichtsdestotrotz feiert dieses Blog heute seinen zehnten Geburtstag. Hey!

Das ist ganz schön alt für so was wie ein Blog, denn wie wir digital natives nur zu gut wissen, zählt ein Internetjahr ja circa zehnfach. Und obwohl die Frequenz der Einträge auf der Rückseite der Reeperbahn in den vergangenen Jahren erneut derart dramatisch einbrach, dass ich mehrfach sogar besorgte Nachfrager beschwichtigen musste, so bleibt doch festzuhalten:

Etwas hat überlebt.

Vielen Dank dafür an Sie, meine bislang zweimillionenvierhundertachttausendsiebenhunderteinfünfzig Besucher. Es war und bleibt (hoffentlich) schön mit Ihnen.