02 Januar 2011

Gefährlich still



Seit Tagen schon steht ein für die abwesende Nachbarin angenommenes DHL-Paket im Flur. Es trägt Schwarz auf Signalrot eine panisch brüllende Aufschrift: „ACHTUNG: LEBENDE FUTTERINSEKTEN!“.

Nachdem ich diese Warnung gelesen hatte, überprüfte ich das Paket zunächst einmal rundum auf seine Dichtigkeit. Der Test verlief sehr zufriedenstellend. Keine Ritzen, keine Löcher, nirgends Spalten. Vor allem Ms. Columbo zeigte sich davon beruhigt.

Nach etwa drei, vier Tagen allerdings begann mich das stumm im Flur herumstehende Paket mit einer neuen Fragestellung zu bedrängen. Nämlich der, ob nicht auch lebende Futterinsekten ihrerseits irgendwann einmal Futter bräuchten.

Immerhin sollen sie nach der (weiterhin in den Sternen stehenden) Aushändigung noch verfütterungsfähig sein. Und verhungerte Futterinsekten könnten möglicherweise die ihnen zugedachte Aufgabe nach Rückkehr der Nachbarin gar nicht mehr erfüllen.

Wer weiß, was damit überhaupt gefüttert werden soll; denkbar sind Fische, Frösche, Molche, Schlangen, Spinnen, im günstigsten Fall Wellensittiche. Doch selbst einem Grottenolm wäre es kaum zu verdenken, wenn er die dargereichten Futterinsekten in postmortalem Zustand vorsorglich verschmähen würde.

Wie auch immer: Ein soeben vorgenommener Hörtest am Paket ergab jedenfalls keinerlei Lebenszeichen. Es müsste darin nach menschlichem Ermessen doch herzhaft summen, sirren oder surren, nicht wahr, oder wenigstens schaben, rascheln, krabbeln, knabbern oder knistern.

Doch nichts dergleichen. Die lebenden Futterinsekten verhalten sich still. Gefährlich still.

Neulich habe ich übrigens mal versehentlich ein ebenso geräuscharmes Paket aus Potsdam angenommen, und zwar für einen Nachbarn, der gar nicht mehr hier wohnt, sondern längst in München.

Wer von St. Pauli dorthin zieht, sollte eigentlich zur Strafe keine Pakete nachgeschickt bekommen, aber was tut man nicht alles, wenn man ein gutes Herz hat.

Hat es vielleicht doch gerade gesummt oder gesurrt im Flur?
Na ja, ich kann mich auch verhört haben.


30 Dezember 2010

Auf Friseusenpirsch (integriert: Offener Brief zu Silvester, 5)



A. wohnt noch nicht ganz so lange auf St. Pauli wie ich, doch er hat dank jahrelanger Besuche von Schmuddelclubs und schmierigen Tabledancebars interessante Tipps parat, die mir völlig neu sind.

Sonntagsabends zum Beispiel, sagt er, sei die ideale Zeit, um auf dem Kiez Friseusen abzuschleppen. Wie das? Weil montags die Salons Ruhetag hätten und Friseusen sich deshalb bevorzugt sonntagsabends von A. oder anderen Interessenten abschleppen ließen bis in die Puppen.

Eine solch hochbrisante Insiderinformation stößt bei einem Bruce-Willis-Typen wie mir natürlich auf frappiertes Staunen. Würde mein Friseurladenbesuchsverhalten (das vergleichbar ist mit meinen Ausflügen ins Weltall) bundesweit Schule machen, gingen nämlich all diese Läden binnen weniger Wochen pleite. Und die Friseusen natürlich mit, was es ihnen aber immerhin erlauben würde, sich auch an allen anderen Wochentagen von A. oder anderen Interessenten abschleppen zu lassen bis in die Puppen.

Doch soweit ist es ja noch nicht, und deshalb bleibt der Sonntagabend der bevorzugte Friseusenabschlepptag. Montags ist dann total tote Hose auf dem Kiez. In den Stripclubs gibt es weniger Gäste als Tänzerinnen, kleine Tröpfchen von Tristesse hüpfen von Tisch zu Tisch und finden trotzdem keinen teuren Billigschampus, den sie kontaminieren könnten.

Auch der Dienstag erinnert an die Ruhe nach der Apokalypse, mittwochs zieht es dann allmählich an, der Donnerstag läuft sich schon mal warm, und freitags und samstags tobt schließlich der Wirbelsturm über St. Pauli, was A. gewöhnlich davon abhält, das Haus zu verlassen (und mich in der Regel auch, es sei denn, German Psycho zwingt mich mit einschlägigen „Argumenten“ in irgendeinen Siffladen auf dem Hamburger Berg).

Am Sonntag schließlich geht es wieder auf Friseusenpirsch – ein ewiger Kreislauf. Zum Glück fällt Silvester diesmal auf einen Freitag; dadurch werden quasi zwei Wirbelstürme zusammengelegt, obwohl der an Silvester natürlich mit erheblich größerer Zerstörungskraft durchs Viertel fegt als jeder andere des Jahres. Das täte er allerdings auch an einem Montag, daher will ich nicht meckern.

Apropos Silvester: Obwohl meine bereits drei Appelle in den vergangenen Jahren jeweils verpufften wie jene Hand, die den Chinaböller partout nicht loslassen wollte, möchte ich es doch erneut nicht versäumen, ihn zu wiederholen, wenngleich nur in Form einer Verlinkung.

Irgendwann muss irgendwer doch mal anfangen, auf mich zu hören. Und wenn es nur die Friseusen sind.


PS: Das heutige Foto eines Graffitos auf St. Pauli hat nur partiell mit dem Beitrag zu tun, doch in der Not frisst der Teufel Fitschen.



27 Dezember 2010

Neuigkeiten vom Rauchen



In der Clemens-Schultz-Straße schwingt eine rauchende Domina in Lederkorsage die Peitsche, um für einen Auftragsmaler zu werben. Diese Idee funktioniert wohl nur auf dem Kiez.



Und vor der Bar Christiansen’s am Pinnasberg ist das Ein- und Ausatmen multipler Giftstoffe anscheinend mit intensiver Geräuschentwicklung verbunden – wobei es sich ja nur um Sachen wie Krächzen, Röcheln und Rasseln handeln kann.

Irgendwie habe ich das Gefühl, die rauchende Peitschendomina würde auf dieses Schild ungehalten reagieren. Aber was weiß ich schon von Dominas.

(Foto 2 mit freundlicher Genehmigung von A.)

25 Dezember 2010

24 Dezember 2010

Friede auf Erden (aber nicht im Bus)



Verträumt sitze ich im Bus, als plötzlich eine Stimme von rechts blafft: „Fass mal an!“

Vor der mittleren Tür steht ein alter Herr mit Schiebermütze, der seine Gehhilfe nicht allein die Stufe hochhieven kann. Ich springe eilfertig herbei und hebe sie in den Bus.

Der Mann, verkrümmt von Missmut und Betagtheit, steigt ächzend hinterher. „Da rüber! Da rüber!“, schreit er mich an, womit er mir auf seine herzliche Art bedeuten möchte, die Gehhilfe am Rollstuhlplatz zu verankern.

Das tue ich wortlos, während er sich auf einen freien Sitz fallen lässt, ohne mich anzuschauen oder gar eines weiteren Wortes zu würdigen.

„Bitte“, denke ich und nehme meinen Platz wieder ein. Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Gangs, sitzt ein weiterer Rentner. Als der Bus losfährt, schaut er zu mir herüber und ruft so laut, dass der Gehhilfenbesitzer es unweigerlich hören muss: „Was war denn das eben für ein Ton, sach ma!“

Ich grinse ihn schief an, was er, wenn kommunikativ alles gutgeht, als mit Nachsicht umflortes „Tja“ interpretieren sollte.

Weiter passiert nichts. Der Blaffer hat nichts gehört, der Rentner muffelt, weil seine Rüge verpufft, und mir ist eh alles egal.

Denn es ist Weihnachten in Hamburg, meine Damen und Herren, die Fleete sind weiß wie mein Gewissen, und die Boote träumen still vom großen, weiten Meer.

Amen.

23 Dezember 2010

Man gab mir die Kugel

Heute Mittag im Restaurant Marinehof biss ich beim Verzehren des Wildschweinragouts auf etwas Hartes, Metallenes.

Es war keine Plombe. Sondern die Kugel, die das Wildschwein getötet hatte.

Sie lag plötzlich kupferfarben und verbogen auf meinem Teller und sorgte fürs schlagartige Ende des üblichen enfremdeten Essens.

Delektiert man sich an einem Durchschnittskotelett, passiert einem so etwas nicht. Die Methode, wie das kotelettliefernde Hausschwein ums Leben kam, bleibt immer unsichtbar. Das Fleisch verweist nie auf seine Herkunft: ein atmendes, lebendes Wesen; ein Tier an einem Stück.

Die verbogene Kugel auf meinem Teller ließ hingegen keine Distanzierung, keine Ausflüchte, kein Schönreden mehr zu. Ich aß ein totes Tier. Punkt.

Natürlich war die Kugel kein Grund, das köstliche Ragout zu monieren. Und der Ober kam auch mit Recht nicht auf die Idee, mir Rabatt anzubieten.


21 Dezember 2010

Die die Mails ausdruckt

Unsere Hausverwaltung ist die Pest. Wenn man ein Problem hat, stellt sie sich reflexhaft tot. Keine Antwort auf Mails, keine Reaktion auf Faxe, schwer erreichbar per Telefon.

Heute morgen endlich rief mal einer zurück, nachdem wir wochenlang vergeblich auf inzwischen drei essenzielle Probleme aufmerksam gemacht hatten.

Der Mann war nicht der, mit dem wir sonst immer (nicht) zu tun hatten, sondern ein anderer, ein durchaus verbindlicher, freundlicher, zuvorkommender. Kurz: ein Mann aus einem Paralleluniversum.

An einer Stelle im Gespräch sprach er von einer Mitarbeiterin der Hausverwaltung, einer Frau S. „Frau S.“, sagte er, „ist die, die morgens immer die Mails ausdruckt.“

Die morgens immer die Mails ausdruckt.

In diesem Moment wurde mir die ganze Dimension des Problems klar. Und die Zukunft erschien mir trist und grau.



20 Dezember 2010

Kurz vorm Kommen



Entschieden verwahren muss ich mich als Anwohner gegen die Beschmutzung meines Viertels durch „Santa Pauli – den geilsten Weihnachtsmarkt Deutschlands“.

Wie jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit treibt er auch jetzt wieder sein ekles Unwesen auf dem Spielbudenplatz. Gipfel der ethisch-moralischen Verwahrlosung, mit der dieser häretische Markt offensichtlich mit städtischer Duldung die Adventszeit kontaminieren darf, ist das hier zu sehende mannshohe Bild auf der Einzäunung.

Es zeigt Unfassliches: einen vor Geilheit schwitzenden Weihnachtsmann mit heruntergelassenen Hosen, der sich vorderseitig ganz offenkundig lüstern befingert, während ein unrasierter Bullmastiff vorsorglich ein Taschentuch bereithält, um Santas demnächst unweigerlich hervorschießende Säfte wenigstens wieder ordnungsgemäß vom Zaun abzuwischen.

Zu seinem unstandesgemäßen Tun, welches jeder Heilsgeschichte Hohn spricht, ließ sich der notgeile Zipfelmützenmasturbator wohl von etwas inspirieren, das er zuvor durch ein Loch im Zaun erspähte, wobei es sich hundertprozentig um die notorische Liebeskugelvirtuosin Biggi Bardot handeln muss.

Um dem für jeden anständigen St. Paulianer bis zum Brechreiz anstößigen Bild – einer skandalösen Entweihung von allem, was Sarrazin heilig ist – den letzten gottlosen Schliff zu verleihen, ließ sich der für den Entwurf unzweifelhaft zuständige Antichrist auch noch einen Spruch einfallen, der an empörend widerlicher Doppeldeutigkeit seinesgleichen sucht: „Santa Pauli is coming soon“ …

Ich kann gar nicht hingucken. Wobei ich das Schlimmste noch gar nicht erwähnt habe: des fetten Onanisten Arschhaarstoppeln. Wenigstens dagegen könnte doch die Kirche mal protestieren oder meinetwegen auch ein bibeltreuer Selbstmordattentäter. Benedikt, Käßmann: Wo seid ihr, wenn man euch mal braucht?

Abstoßend rätselhaft bleibt zudem, warum Blut aus dem verbogenen Mülleimer läuft. Aber diesen Deckel mache ich nicht auch noch auf.

18 Dezember 2010

Lieblingsorte (6): Diesmal von jemand anderem



Der angestammte Lagerplatz der obdachlosen Polen, die hier im Blog schon mehrfach Erwähnung fanden (1, 2, 3), ist zurzeit verwaist und eingeschneit.

Nur ein Koffer mit Utensilien, den vorsorglich niemand anrührt oder gar wegräumt, hält einsam die Stellung. Somit verpassen die polnischen Gesellen den ganz speziellen Sarkasmus der ihren Lagerplatz von jeher dominierenden Werbefläche.

Doch wahrscheinlich würde sie diesen Claim genauso stolz und stoisch ignorieren wie alle anderen, die bisher von desinteressierten Plakatieren dort hingepappt wurden.

Selbst wenn sie ihn lesen könnten.


17 Dezember 2010

Einfach mal still sein



„Blöde Ziege“, sagte ich heute zur Bedienung im Eisenstein, als sie mich fragte, was ich zu bestellen gedächte.

Statt mir augenblicklich eine zu scheuern, blieb die tapfere Frau ruhig wie ein Eisblock und schrieb „Blöde Ziege“ in ihren Notizblock.

Es handelt sich dabei um eine 13 Euro teure Pizzakomposition mit Rosmarintomatensauce, krossem Speck und Ziegenkäse im Aschemantel – und wäre, sofern man die Bedienung für eine blöde Ziege hielte, eine risikoarme Variante, ihr das nonchalant mitzuteilen.

Nun zu etwas ganz anderem. In England versuchen sie gerade wieder einmal, den handelsüblich öden Weihnachtshit (Doppelbedeutung auf der Schlusssilbe beabsichtigt) à la „Last Christmas“ zu verhindern, indem sie massenhaft ein möglichst abgelegenes Stück runterladen.

Diesmal soll eine Coverversion von John Cage zum Nummer-1-Hit downgeloadet werden, und zwar seine legendäre Komposition „4:33“. Sie besteht aus vier Minuten und 33 Sekunden Stille. Ein Dutzend britischer Musiker hat sich für die Neueinspielung ins Studio begeben, um dort gemeinsam still zu sein – natürlich auf eine spezielle Weise, die sich deutlich unterscheidet von John Cages Stille aus den 40er Jahren.

Übrigens hat unlängst auch Harald Schmidt das Stück mal live in der ARD aufgeführt, und zwar mit Helge Schneider (Klavier), Katrin Bauerfeind (Geige) und der kompletten untätigen Helmut-Zerlett-Band. Aber das nur am Rande.

Sollte der Massendownload jedenfalls das beabsichtigte Ergebnis zeitigen, müssten auch die britischen Hitradios „4:33“ spielen, weil sie um die Nummer 1 der Charts nun mal nicht herumkommen.

Das wären großartige Momente inmitten der Weihnachtskakofonie, und all das klang in meinen Ohren derart überzeugend und unterstützenswert, dass ich mich solidarisch erklären und augenblicklich die Neufassung von „4:33“ bei Amazon.co.uk runterladen wollte.

49 Pence ist ja auch ein – gerade im Verhältnis zu Eisensteinpizzen – moderater Preis. Doch als ich zur Tat schritt, erschien oben abgebildete Warnmeldung: Als Deutscher darf ich in England keine MP3s kaufen – „geographical restrictions“.

Amazon ist halt eine blöde Ziege, und nicht nur wegen Wikileaks.

15 Dezember 2010

Erwischtwerden macht glücklich



Eine sogenannte CC-Karte berechtigt in Hamburg zur Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb des gewählten Bereichs, nur weder vor 9 noch zwischen 16 und 18 Uhr.

So eine CC-Karte habe ich im Abonnement. Allerdings bleibt sie meist ungenutzt, da ich praktisch das ganze Jahr über Fahrrad fahre. Nur vor Regen schrecke ich zurück. Und vor Glatteis.

Wenn ich also mal wetterbedingt ohne Fahrrad unterwegs bin und um 17 Uhr das Büro verlasse, müsste ich eigentlich Bahn oder Bus in Anspruch nehmen; allerdings befinde ich mich dann mitten in der Tabuzeit.

Der Kauf einer Kurzstreckenkarte für 1,30 enthöbe mich dieses Problems, doch davor scheue ich zurück, da mein Monatsabo bereits bezahlt ist, aber dank meiner Fahrradphilie sowieso viel zu selten genutzt wird. Ein Dilemma, geboren aus Relikten einer protestantisch-askestischen Erziehung und selbsterworbenem Geiz.

Neulich verfiel ich auf den Gedanken, die Stunde, die meine CC-Karte nach Feierabend noch ausgesetzt ist, bei ein, zwei Bier im Aurel abzubummeln, um so den Kauf der Kurzstreckenkarte zu vermeiden. Eine Kosten-Nutzen-Abwägung beider Varianten ergab allerdings eine insgesamt betrübliche Gesamtbilanz.

Wenn es richtig schüttet, kaufe ich also meist die elende Kurzstreckenkarte. Gestern nun war ich morgens mit dem Fahrrad ins Büro gefahren, musste nachmittags aber feststellen, dass Hamburg inzwischen zu einem komplett radeluntauglichen Wintermärchen verkommen war, mit Glatteis, verunglückten Autos, unästhetisch herumeiernden Taumlern und allem Drum und Dran.

Kein Fahrradwetter, oh nein! Also schob ich das Gefährt zum Bahnhof Altona, löste eine blödsinnige Kurzstreckenkarte und fuhr nach Hause. Am Ausgang des Bahnhofs Reeperbahn stoppte mich eine Phalanx blauuniformierter HVV-Männer.

Ich zeigte müde meine Kurzstreckenkarte vor und begehrte Durchlass, als einer von ihnen sagte: „Wir haben ein Problem: das Fahrrad.“

In Sekundenbruchteilen ersetzte mein Lymphsystem das kursierende Feierabenddopamin komplett durch eine volle Dröhnung Adrenalin – denn der Mann hatte verdammt recht: In der CC-Tabuzeit darf man auf gar keinen Fall Fahrräder mit in die Bahn nehmen.

Ausladende Drilliingskinderwagen mit 48 Reifen, Anhängerkupplung und aufgepflanztem Baukran: jederzeit erlaubt. Aber keine Fahrräder. Lebensgefahr durch Glatteis reicht aus blauuniformierter Sicht als Entschuldigung nicht aus, denn ich hätte das Rad ja auch in Altona anketten können.

Knurrend überreichte ich dem fein lächelnden Kontrolleur den verlangten 10-Euro-Schein. „Wenn es Sie tröstet“, sagte er, „das ist eine unserer niedrigsten Strafgebühren überhaupt.“

Komischerweise tat es das wirklich. Ich schlitterte nach Hause mit dem recht beschwingten Gefühl, ein Schnäppchen gemacht zu haben.

Versteh einer die Kapriolen der Körperchemie.

14 Dezember 2010

Fundstücke (119)

Ein sagenhafter Flohmarktfang vom Wochenende!

Ehe ich den Preis verrate: Hat irgendjemand eine Ahnung, was dieser Wein auf dem freien Markt wert sein könnte? Die Füllhöhe ist im Lauf des halben Jahrhunderts natürlich zurückgegangen, etwa bis auf Schulterhöhe.

Übrigens wird dieser Tropfen keinesfalls das kommende Wochenende überstehen. Entweder er wird verkostet oder entsorgt.

Und zwar mit Dr. K., das ist ja klar.

13 Dezember 2010

„Denkst du, ich bin Sozialamt?“



Auf dem Fischmarkt morgens um zehn. Das ist die Zeit, um tabula rasa zu machen.

Alles muss raus, definitiv, und wer jetzt noch hier herumläuft, weil er auf Ausverkaufspreise spekuliert, der ist garantiert Kiezianer.

Die Busladungen Touristen, die um fünf Uhr im Halbschlaf hierhergekarrt wurden, sind dagegen längst wieder zurück im Hotel. Sie haben den überteuerten Nippes und den Aal für 30 Euro das Kilo in ihren Zimmern abgeladen und sitzen jetzt zerschlagen im Frühstückssaal, mit den Augen auf Halbmast.

Hier auf dem Fischmarkt aber hat die Marktleitung inzwischen schon dreimal die Beschicker per Lautsprecherdurchsage zum sofortigen Schließen ihrer Stände aufgefordert. Allmählich wird es also ernst. Und das ist eine Situation wie gemalt für Schnäppchenjäger, die sich mit Wochenrationen an Obst und Gemüse eindecken wollen. Für Leute wie mich.

Händler (brüllt heiser): „KISTE SECHS MANGO NUR DREI E-URO! SECHS MANGO NUR DREI E-URO!“
Matt: „In dieser Kiste liegen sieben, können wir …“
Händler (sofort aufgebracht): „DENKST DU, ICH BIN SOZIALAMT? DENKST DU?“
Matt: „Na ja, ich dachte, ich frage …“
Händler: „Du denkst, ich BIN Sozialamt!“
Matt: „Na gut, also … ich nehme die sechs für drei.“ (reicht 10-Euro-Schein rüber)
Händler (nimmt den Schein und pfeffert ihn zu Boden): „WAS REDEST DU FÜR SCHEISSE! WIR MÜSSE AUCH LEBE!“
Matt: „Das bezweifle ich keineswegs. Aber sieben statt sechs, jetzt kurz vor Ende …“
Händler (gibt mir mit verächtlicher Geste sieben Euro zurück): „So ein Scheiße redest du! Du denkst, ich bin SOZIALAMT!“
Die Diskussion erscheint mir irgendwie festgefahren. Deshalb verstaue ich verschreckt meine sechs Mangos und trolle mich Richtung Seilerstraße.


Falls du das hier also liest, lieber Fischmarkthändler: Nein, ich glaube nicht, dass du Sozialamt bist, echt nicht.

Nur für den Fall, dass es mir heute Morgen nicht gelungen ist, dies hinreichend zu verdeutlichen.

12 Dezember 2010

Die mutierte Ananas



Als es noch keine Codenummern für Waren gab, ist es bestimmt niemals vorgekommen, dass eine Ananas als MP3-Soundsystem auf dem Kassenbon landete.

Andererseits gab es in jenen seligen Zeiten auch noch gar keine MP3-Soundsysteme. Und wahrscheinlich nicht mal Ananas, sondern nur Melonen im Netz.

Na ja, jedenfalls bongte die Aldifrau heute statt der Ananasnummer versehentlich eine MP3-Soundsystem-Nummer ein. Der Preisunterschied lag bei knapp 79 Euro, was zuerst mich stutzig machte und dann auch die Aldifrau.

Nach einem hochkomplexen deduktiven Verfahren (Kassiererin verliest postenweise den Kassenbon, Ms. Columbo separiert die aufgerufenen Waren im Einkaufswagen) konnte die Südfrucht schließlich als Schuldige identifiziert werden.
„Ist nur eine Ziffer Unterschied“, grinste die Aldifrau schief.

Bald darauf eilte eine Vorgesetzte mit Schlüssel herbei. „Die Ananas“, rief ihr die Kassiererin kreuzfidel zu, „ist ein MP3-Soundsystem!“ Ganz guter Witz eigentlich, im Rahmen eines Alditages. Frau Vorgesetzte lachte aber kein bisschen, sondern schaute aus der Wäsche, als sei so ein Tippfehler bei Aldi ein kapitaler Kündigungsgrund.

Also mal schauen, ob die Kassiererin nächste Woche überhaupt noch da ist. Wenn nicht, dann werde ich mich aus Protest an den Gitterwagen ketten, wo immer die MP3-Soundsysteme drin sind, und antikapitalistische Slogans brüllen. (Wenn diese Drohung der Kassiererin den Job nicht rettet, dann weiß ich auch nicht.)

Zurzeit habe ich ja Rücken, und deshalb ist mein temporär bester Freund ein extralanger Schuhlöffel mit Schlaufe oben dran. Das sage ich vor allem deshalb, um das heutige Foto zu rechtfertigen, aber auch aus tief empfundener Dankbarkeit gegenüber dem menschlichen Erfindungsgeist.

Ja, wir haben das Rad erfunden, die Raumfähre, den Kassenbon und den extralangen Schuhlöffel mit Schlaufe oben dran. Eigentlich sind wir bestens qualifiziert, die Welt zu retten, daran habe ich überhaupt keine Zweifel mehr, seit ich Rücken habe.

10 Dezember 2010

Fundstücke (118)



Die Lockmethoden auf St. Pauli sind von schillernder, durchaus auch widersprüchlicher Vielfalt, und es ist nicht auszuschließen, dass sich jemand ausgerechnet von den Verheißungen dieses Schildes zum Betreten der verantwortlichen Spelunke hinreißen lässt.

Wobei vorsorglich noch zu klären wäre, ob man selbst einen Tritt ausführen oder nur einen einstecken darf. Im Gegensatz zu den schlampigen Bedienungen ist diese Sache jedenfalls ein Alleinstellungsmerkmal auf St. Pauli (soweit ich informiert bin).

Entdeckt an einer Kneipenfassade in der Talstraße.