07 April 2008

Eine poröse graue Masse



Abends bevölkern noch merkwürdigere Menschen den Penny an der Reeperbahn als vormittags. Es sind Gestalten, wie sie im Film „Blade Runner“ durch die Straßen wanken.

Schmutzige Punkpärchen stehen am Eingang und fragen: „Möchtest du uns was schenken?“ Zwischen den Regalen schlurfen obdachlose alte Männer mit löchrigen Mützen herum. Betrunkene lehnen murmelnd an den Ständen, mit toten Kippen zwischen den Lippen. Wir sind hier in Deutschland, dem Land des Aufschwungs.

Vor mir an der Kasse steht ein vielleicht 60-Jähriger. Seine verdreckte Ballonseidenjacke wird ausgebeult von einem Rücken, der ihm in Paris einen Job als Glöckner einbrächte. Oben trägt er Glatze, darunter hängen die talgglänzenden Haare kraftlos auf dem schuppenverschneiten Kragen. Auch in seinen wuchernden weißen Koteletten hängen die Reste abgestorbener Hautzellen. Doch am schlimmsten sehen seine Hände aus.

Sie glühen nicht nur feuerrot; ihre schrundigen, mit langen gelben Nägeln verzierten Finger sind zudem an den Rändern mit einer porösen grauen Masse bewachsen; vielleicht eine Bakterienkolonie, die sich hier aus Erfahrung sicher wähnt vor Attacken durch Hygieneartikel.

Ein gruseliger Anblick. Als der Mann sich mit seiner linken Hand auf dem Band abstützt und so meinem Artikel – einem kleinen Karton mit Gefrierbeuteln – sehr nahekommt, zucke ich innerlich zusammen. Was natürlich lächerlich ist: Die Beutel, in die ich demnächst Lebensmittel unterzubringen gedenke, sind ja im Karton und somit außer Gefahr, kontaminiert zu werden.

Trotzdem rücke ich die Packung unauffällig etwas weiter weg Richtung Fließbandrand, allerdings mit einem befriedigenden Gefühl der Scham. Wie muss es Notärzten gehen, die jemand wie ihn bei Bedarf wiederbeleben müssen – mit Mund-zu-Nase-Beatmung und allen Schikanen?

Als er dem Kassierer mit seiner schrundigen, rotgrauen Hand das centgenau abgezählte Kleingeld hinhält, wird mir erst bewusst, was er einkauft. Es ist nicht etwa die erwartbare Flasche Wodka oder Doppelkorn. Sondern erstaunlicherweise eine Gebäck- und Waffelmischung sowie ein Tetrapack Ice Tea (Geschmacksrichtung: Pfirsich).

Der Kassierer ist Afrikaner und trägt ein Schild mit dem Namen Boateng. So heißt auch ein Spieler des HSV. Ich frage ihn nur deswegen nicht, ob sie miteinander verwandt sind, weil es mir peinlich wäre, der Hundertste zu sein, der ihn das fragt.

Später erlegt Ms. Columbo im Bad den ersten Moskito des Jahres.

19 Kommentare:

  1. Wieder mal sehr schön geschrieben. Und das Foto ist eine Momentaufnahme aus dem Blick des alten Mannes vor Dir?

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  2. Uah, da schmeckt das Mettbrötchen doch gleich ganz anders..
    Die Notärzte haben übrigens meistens eine Maske zur Hand die solcherlei Kontakte zu vermeiden hilft.

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  3. Herr Matt -
    da muß der Mensch nicht zu Neppy an der Reeperbahn laufen, das oder ähnliches kann man auch bei Neppy am Nobistor erleben.
    Ich frage mich in solchen Momenten nur, wie ich aussehen würde, wäre ich obdachlos und hätte kein Netzwerk (mehr), das mir Duschen, Körperpflege, Wäschewaschen etc. ermöglichen würde.
    Vielleicht wird es einem nach einiger Zeit in solcher Lage auch in gewissem Grade schlicht egal, wie man aussieht, angezogen etc. ist, weil sich nach einiger Zeit materiellen und gesellschaftlichen Außenseitertums wohl auch Werte und Prioritäten einfach verschieben oder sich von selbst erledigen im Kosmos des Menschen, den es betrifft.
    Ich finde solche Begegnungen ja auch nicht angenehm, habe aber auch zu viele Leute kennengelernt, die einen richtigen Absturz mit allem Drum und Dran hinter sich und von allem irgendwann die Nase einfach voll haben, was ich wiederum gut nachvollziehen kann.
    Die Patentlösung für Umgang, Wertung und Verhalten in solchen Situationen habe ich auch nicht, wollte nur einmal daran erinnern, daß "sie" alle nicht so weit von "uns" entfernt sind, wie wir oft glauben.

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  4. Ich bin froh dass die Winterzeit vorbei ist, denn solche Kandidaten (also, nich der Mann speziell, schon eher die Doppelkorn-Fraktion) sind es auch oft, die einem wenn man ihren Wunsch nach nem bisschen Klimpergeld nich nachkommt, aufs Maul geben. Hatte das diesen Herbst/Winter 3 mal und danach immer das Bedürfnis, mich mit Sterilium zu duschen.

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  5. 14 Februar 2008, der erste Moskito in meinen Schlafzimmer, haucht sein Leben aus und hinterläßt - keinen Fleck an der Wand.

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  6. Merkwürdig, Matt, irgendwie machen wir gerade ziemlich ähnliche Situationen durch, wenn auch an verschiedenen Enden der Welt.

    Olaf, ich glaube schon, daß sie sehr weit weg von uns sind. Nicht in dem Sinne, daß uns das nicht auch passieren könnte, wobei das auch immer auf den Menschen ankommt. Aber haben Sie mal mit Obdachlosen gesprochen (ich bin sicher, Sie haben das)? Ich kenne mehrere Gesprächsverläufe, aber letztlich sind sie alle weit von dem entfernt, was ich mit einer echten Unterhaltung asoziieren kann. Entweder höre ich, wer alles an der Situation schuld sei (die Ausländer und die da oben), oder ich bekomme nur Gebrabbel zu hören.

    Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube, daß auch ich so endete, lebte ich auf der Straße. Wie Sie sagten, die Prioritäten verschieben sich, und meistens verschieben sie sich ausschließlich in Richtung Resignation und Alkohol. Mit den entsprechenden Auswirkungen.

    Ich glaube also, daß es sehr große Unterschiede gibt, auch wenn wir sie nicht wahrhaben wollen. Denn seien wir ehrlich: Jeder wünschte sich doch, daß es ein Mittel gäbe, diese Menschen wieder zu integrieren. Bei vielen von ihnen ist das meiner Meinung aber nicht mehr möglich. Leider.

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  7. Herr gp,

    es sind mit Sicherheit völlig andere Welten, die sich da begegnen. Keine Frage. Ich erreiche einen vor Jahren abgestürzten obdachlosen Alkoholiker mit Sicherheit nicht mehr und er mich auch nicht. Nicht mehr. Ich erlebe es ja auch so. Wenn ich es noch erlebe. Mittlerweile muß ich es mir auch nicht mehr alles unnötig geben.Und will mir besoffenes Gerede auch nicht anhören. Das Pensum ist wohl wirklich erfüllt.
    Aber was passiert vorher auf dem Weg zur Flasche und in die Resignation (jetzt fällt mir ausgerechnet Tom Waits ein...) ?
    Ich hatte vor ca. zwanzig Jahren einmal einen räumlich entfernteren Nachbarn, der (wie ich später erfahren und dann auch gesehen habe) in einer leeren kleinen Sozialwohnung mit Ofenheizung wohnte und alle paar Monate äußerlich aufgefrischt durch die Straßen lief. Ansonsten sehr verwahrlost mit ewig langem Bart. Er hat uns nie etwas über sich erzählt, war immer voll. Und wirr. Einmal fing er an, Gedichte aufzusagen und wirkte völlig anders. Und verlöschte dann wieder. Noch später habe ich erfahren, daß er früher Kunstmaler gewesen sei. Ob das auch stimmt, weiß ich nicht. Aber woher kommen die Gedichte ?
    Das einzige, was er gelegentlich zuließ, war die Hilfe, ihn aus dem Schnee zu heben und wieder auf die Füße zu stellen, eventuell ihn zur Wohnungstür zu bringen.
    Gesund hat er sicher nicht gelebt, wurde aber uralt. An ihn habe ich bei diesem Thema auch gedacht.
    Was sind das für Biografien ?

    (und wie kann man im Kommentar kursiv etc. schreiben ?)

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  8. örn, das Foto zeigt den Spielbudenplatz auf dem Heimweg – mit dem getrübten Blick desjenigen, der noch die Tristesse des Pennymarktes vorm inneren Auge hat.

    Olaf, mein Mitleid mit den Elenden und mein Verständnis für ihre Situaton führt in solchen Situationen trotzdem nicht zum Bedürfnis nach näherem Körperkontakt. Und diese Widersprüchlichkeit der Emotionen habe ich versucht in der Formulierung von der „befriedigenden Scham“ zu verdichten. PS: Wenn Sie den Text mit den entsprechenden HTML-Codes versehen (hier: i), wird er kursiviert.

    Dennis, Ihre Erfahrungen teile ich nicht. Noch nie habe ich aggressive Bettler erlebt. War velleicht auch nur Glück.

    GP/Olaf, entscheidend sind wohl in der Tat die Biografien vorher. Ich habe unlängst von einem obdachlosen Reeperbahnbewohner erfahren, dass ihn der Unfalltod seiner Frau und zwei Kinder komplett aus der Bahn geworfen hat. Wie man so etwas überhaupt verkraften kann, ohne verrückt zu werden vor Schmerz, ist mir eh ein Rätsel.

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  9. Hallo Matt,

    wenn ich den Aufmacher deines blogs lese (We all ...), komme ich auf den Gedanken, dass "die" einfach nicht mehr ihr Bestes geben (können, wollen, ???).

    Gruß, wh

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  10. Ja, es gibt sie auch bei uns, die Kaste der Unberührbaren. Entscheidend sind unsere geistige Einstellung zu diesen bedauernswerten Mitbürgern (Jawohl, Herr Beck!) und unsere Bereitschaft zur praktischen Hilfe.

    Ihre Biografien sind so vielfältig wie das Leben selbst und ich halte es für müßig, nach der Schuldfrage für das persönliche Schicksal des Einzelnen zu suchen.

    Daß Maßnahmen wie Hartz IV und die Wohnungspolitik die Anzahl dieses Personenkreises beeinflussen, das sollte uns dagegen schon interessieren.

    Ihr instinktives Verhalten aufgrund der dermatologischen Absonderlichkeiten, Herr Matt, ist völlig in Ordnung, es geht mir nicht anders. Ich denke auch nicht, daß der Alte umarmt werden möchte. Umso mehr bewundere ich die professionelle Hilfe von Menschen wie diesen.

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  11. Lieber Olaf, schön beschrieben !
    Kann ich nur bestätigen.
    Ihre Scham, Herr Matt verstehe ich,doch es ist nicht nötig, denn es ist so.
    Vor 15 Jahren hätte ich dasselbe gegenüber mir selbst getan.
    Denn vor 15 Jahren war mein Zuhause der Park am Main in Frankfurt am Main.So wie der Boden, so meine Klamotten.....
    Nein,heute sieht man mir das nicht mehr an. Heute bin ich Landwirtin nach einem verdammtlangen Weg zurück.
    Leider hat nicht jeder das Glück, den Mut, die Power, die Kraft....
    siehe die Geschichte von Herrn Matt über den Reeperbahnbewohner der bei einem Unfalltod Frau und Kinder verlor.....

    Grüße vom Vogelsberg
    Petra

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  12. Wieder ein Tag ohne Blog? Man macht sich Sorgen. (8.4.08)

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  13. Der Tag ist ja noch nicht zu Ende, nicht wahr?

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  14. Petra, es ist großartig, wenn man den verdammt langen Weg zurück schafft – und das freut mich ganz aufrichtig außerordentlich für Sie!

    Es wäre interesant zu erfahren, ob der Absturz und das wieder auf die Beine Kommen geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist. Obdachlose Frauen sehe ich zumindest kaum auf der Reeperbahn.

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  15. wh, Ihr Kommentar ist mir zu kryptisch, um ihn sinnvoll beantworten zu können.

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  16. Frau Petra,
    vielen Dank und beste Wünsche und Grüße auf den Vogelsberg.

    Herr Matt,
    bisher habe ich auch nur sehr wenige obdachlose Frauen wahrgenommen (gefühlte zwei Prozent. Eine [der mindestens der linke Schneidezahn fehlt] sitzt meist in Ihrer Nähe an der Bushaltestelle Davidstraße bzw. vor dem Casino gegenüber von KFC).
    Na ja - der Fachmann in Statistik bin ich nicht, aber das würde mich auch interessieren, wie diese Anteile sich zueinander verhalten. Obwohl ich für mein Leben nichts damit anzufangen wüßte.

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  17. Zu den Biografien:
    Dr. St. zum Beispiel war Oberarzt in einem südddeutschen Krankenhaus.
    Chirurg, erfolgreich und ungeheuer beliebt.
    Als seine Frau mit einem anderen Arzt durchbrannte,
    landete er auf der Strasse. Jahre lang fanden wir ihn
    in seinem eigenen Kot liegend auf. (siehe Müllsack)
    Soziale Dienste erklärten sich für nicht zuständig.
    Letztendlich gründete die Belegschaft des KKH , die
    von den Lebensumständen des Dr.St. ohne unsere
    Initiative keine Ahnung gehabt hätte, einen Hilfskreis,
    der Herrn Dr. St. seit 1992 den Aufenthalt in einem
    beschützenden Heim ermöglichte.
    Die Geschichten der anderen Personen (und weiterer
    Menschen von ganz unten) werden ein eigenes Kapitel
    in der Hühnermütze bilden.(noch ferne Zukunft)

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  18. Dr. St. zum Beispiel war Oberarzt in einem südddeutschen Krankenhaus. ..............

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  19. Dieses Thema schlummert zwar schon seit zwei Tagen, aber causa colorandi noch dieses:

    http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=1397008

    Und da soll der Mensch noch Elan entwickeln. Bei solch intensiver Wertschätzung.
    Geht es einem schon lausig, dann muß das wohl auch noch sein.
    Ich glaube, "der Gesetzgeber" meinte etwas anders, zumindest hoffe ich das.
    Bei einer Einzimmerwohnung könnten sie einem dann ja einen großen Spanplattenblock in die Wohnung stellen, um die Nutzfläche auf den "erlaubten" Stand zu bringen.
    Damit dann auch alles in Ordnung ist.

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