Viele denken ja, der tiefe Fall des Uli Hoeneß, gegen den seit gestern wegen Steuerhinterziehung prozessiert wird, sei der einzige dunkle Fleck auf der Weste des strahlenden Weltvereins FC Bayern München.
Doch das ist ein Trugschluss.
Denn eine erschreckend hohe Zahl von Angestellten des FCB ist im Lauf der Jahrzehnte in einen existenzgefährdenden Abwärtsstrudel gerissen worden. Uli H. ist beileibe kein Einzelfall, sondern nur ein Name auf einer langen Liste des Leidens, auch wenn dieser Name gleich dreimal drauf vorkommt.
Und hier kommt sie – die Liste, die beweist, was der FC Bayern München aus vorher völlig unbescholtenen jungen Männern macht:
– Sie zünden Häuser an (Breno)
– Sie fangen an zu saufen (G. Müller)
– Sie werden depressiv (Deisler)
– Sie reden dummes Zeug (Effenberg, Thon, Kahn, Breitner etc. pp.)
– Sie reden saudummes Zeug (Matthäus)
– Sie schlagen ihre Freundin (Lell)
– Sie verlernen die deutsche Sprache (Maier)
– Sie werden größenwahnsinnig (Beckenbauer)
– Sie wählen CSU (Hoeneß)
– Sie werden dick (Hoeneß)
– Sie hinterziehen Steuern (Hoeneß)
– Sie schmuggeln Uhren (Rummenigge)
– Sie haben Sex mit Minderjährigen (Ribery)
– Sie stellen Buddhastatuen auf (Klinsmann)
– Sie steigen ab (Ottl, Rensing)
Gut, sie werden zwischendurch auch alle mal Meister, zugegeben.
Aber um welchen Preis, Leute!
Anders als vorgestern nassforsch prognostiziert, wurde Alexander Meier in der 68. Minute nicht zum Siegtorschützen für die Frankfurter Eintracht, sondern ausgewechselt. So viel zu meinen Fähigkeiten als Augur.
Die Bundesligaverweildaueruhr tickte derweil unerbittlich weiter. Direkt daneben ein Banner mit der unfreiwillig komischen Aufschrift „Not for sale“, denn zumindest seinen Stadionnamen hat der HSV in den vergangenen Jahren fast so oft verkauft, wie er seine Trainer feuerte.
Die beiden Tore zum 1:1 fielen übrigens immer dann, wenn Mr. Goodman sich gerade erhoben hatte, um Flüssignachschub zu besorgen. Noch sind zwei Treffer eine zu kleine Grundgesamtheit, um von einer signifikanten Korrelation sprechen zu können, doch ich werde die Sache weiter beobachten.
Allmählich habe ich den schlimmen, schlimmen Verdacht, die erste Liga sei auf Abschiedstour in Hamburg. Die Indizien dafür sind jedenfalls erdrückend.
Der HSV tut alles, um endlich auch mal die kathartische Erfahrung eines Abstiegs in seine Annalen eintragen zu dürfen, und der FC St. Pauli wird es wieder mal nicht packen aufzusteigen – schon haben wir den Salat, nämlich weder BV- noch FCB mehr in der Stadt.
Stattdessen Ingolstadt oder Sandhausen, und das gleich zweimal pro Saison.
Nichts gegen Ingolstadt oder Sandhausen, aber das sind schon bittere Aussichten: das Tor zur Welt ohne Erstligatore. Keine Chance mehr, einfach mal spontan mit der S-Bahn nach Stellingen rauszufahren und dort Leverkusen, Wolfsburg, Bremen oder Mainz den üblichen Auswärtssieg einfahren zu sehen.
Deshalb verspüre ich schon seit einigen Wochen das progressiv wachsende Bedürfnis, bevor die Lichter ausgehen noch so oft es geht den Glanz und Glamour der Bundesliga zu schauen. Morgen tue ich es wieder.
HSV gegen Frankfurt: Mr. Goodman und ich werden es uns mit Mützen, Bier und Sonnenbrillen auf der Osttribüne gemütlich machen und Alexander Meiers Siegtor in der 68. Minute mit jener wehmütigen Euphorie würdigen, die nur eine Erstliagabschiedstour auszulösen vermag.
Aber vielleicht steigt der FC St. Pauli ja doch noch auf.
Zurzeit haben wir einige ungebetene Gäste im Haus. Zum einen Silberfischchen.
Seit ich neulich versehentlich einen Artikel darüber las, wie putzig, harmlos, ja geradezu nützlich diese „lebenden Fossilien“ seien in ihrer Gier nach allem, was uns tagtäglich so vom Körper rieselt, fühle ich mich zunehmend unwohl in meiner tradierten Rolle als Silberfischchenterminator.
Beschämendes Ergebnis: Ich expediere die Tierchen neuerdings mit Hilfe einer Postkarte, die mir Dr. K. in den 90ern geschickt hat, vorsichtig in ein Schnapsglas (Foto) und kippe sie mit einem gemurmelten Lebwohl über die Balkonbrüstung.
Ähnliches wäre mit der anderen Spezies ungebetener Gäste im Haus weniger gut zu machen, nicht nur, weil sie sich bevorzugt im Erdgeschoss aufhalten: Junkies.
Irgendwie schaffen sie es immer wieder, das Haus zu entern. Eine wirksame Methode ist wahlloses Betätigen der Klingeltafel; irgendein Bewohner wird im Tran schon auf den Summer drücken. Ein Kalkül, das immer noch derart oft aufgeht, dass die mahnenden hausinteren Rundmails inzwischen bevorzugt in Versalien verfasst werden.
Die andere Methode ihres Eindringens scheint von noch weniger Raffinesse geprägt und stattdessen eine brachiale zu sein, wie am Zustand des Schließblechs an der Haustür leicht abzulesen ist.
Sobald diese armen Gestalten drin sind, verkriechen sie sich in unseren heimelig verwinkelten Mülleimerabstellraum und tun, was Junkies gemeinhin tun. Manchmal bleiben sie zu diesem Zweck auch einfach dumpf auf der erstbesten Stufe im Treppenhaus sitzen und lassen sich widerspruchslos rauswerfen.
Jedenfalls scheint unser Heim zum Geheimtipp der Drogen- und Berberszene geworden zu sein, nachdem es bisher nur in der Rangliste Vorshauskotzen/-pinkeln/-kacken sowie in der Disziplin Haustürscheibeeinschlagen ganz weit oben rangierte.
Na ja, irgendwas muss man für die gestiegene Miete ja auch geboten bekommen, was Castrop-Rauxel nicht zu bieten hat.
Silberfischchen haben sie da schließlich auch.
Heute flohen wir vorm einsetzenden Regen auf einen Tee bzw. Espresso in ein Kneipencafé in der Markstraße.
Hinterm Holztresen empfing uns eine desinteressierte Schnepfe mit der typischen Schnute einer Soziologiestudentin, die diesen Scheißbedienungsjob nun mal tun MUSS, weil Papa nicht genug Kohle springen lässt für bedingungsloses Rumstudieren.
Ms. Columbo nahm die den Raum füllende Muffelaura indes mit erheblich mehr Gleichmut hin, als es eigentlich logisch gewesen wäre. Denn so was hat auch Vorteile. Statt sofort von einer überaufmerksamen Bedienung bereits beim Ablegen der triefenden Mäntel mit einem Bestellaufnahmewunsch behelligt zu werden, durften wir in aller Ruhe ablegen, die Getränkekarte in Augenschein nehmen, den ranzigen Muff der Inneneinrichtung beschnuppern und die – kaum dass wir Platz genommen hatten – plötzlich durchs Fenster hereinflutenden Sonnenstrahlen genießen.
Als die Tresentrulla dann schließlich unwillig herbeigeschlurft kam und mit ins Nirgendwo schweifendem Blick unsere Tee-, Espresso- und Kuchenwünsche entgegennahm, waren die Mäntel schon wieder trocken.
Vorgestern hatten wir bereits ein Erlebnis, welches durch das gemeinsame Band des Desinteresses auf wundersame Weise verknpüft ist mit der Marktstraßenschnepfe. Wir waren am Fuß der Wexstraße auf ein Brot- und Brötchendepot gestoßen, welches für auf Straßen herumliegende Lebensmittel eine erstaunliche Güte und Unversehrtheit aufwies. Die Körnerlaibe hatten sogar noch unbeschädigte Banderolen, wie auf dem Beweisfoto oben gut zu erkennen ist.
Warum sich aber nicht schon längst Abertausende von Tauben heiß und innig für diese unverhoffte Ladung Manna interessierten, kann mit einem unterfinanzierten Soziologiestudium wohl kaum hinreichend erklärt werden.
Jahrzehntelang währt nun schon meine Karriere als Stadionbesucher, doch am Samstag erlebte ich ein Debüt. Beim Spiel des HSV gegen Hertha BSC nämlich geschah Folgendes:
Der Stadionsprecher nannte mit mühsam gespielter Euphorie den jeweiligen Vornamen der aus- und eingewechselten HSV-Spieler – und die ungefähr 40.000 Anhänger auf den Rängen blieben die übliche Nachnamenergänzung einfach schuldig. Sie schwiegen, konsterniert und gelähmt von diesem neuerlichen 0:3.
Allmählich muss sich die Stadt wohl wirklich an den Gedanken gewöhnen, erstmals seit 1962 ohne Erstligisten auskommen zu müssen. „Es sei denn, St. Pauli und der HSV spielen in der Relegation gegeneinander“, malt Hertha-Fan A. ein für Hamburg schier apokalyptisches Szenario an die Wand.
Dann, liebe Leute, wäre die ganze Stadt ein Gefahrengebiet, nicht nur der Kiez. Und wollen wir das? Freilich wollen wir das.
Mensch, hier passiert ja gar nichts mehr, denken Sie sich sicherlich. Und das haben Sie richtig beobachtet. Nach den Krawallen zwischen den Jahren ist nämlich Ruhe eingekehrt auf dem Kiez.
Praktisch alle Evakuierten der Esso-Häuser sollen inzwischen in vergleichbar billigen Wohnungen untergekommen sein – ein Erfolg für die Protestler, wenn ich das richtig sehe, und damit eigentlich ein Grund zum Feiern. Man hört nur nix davon.
Insofern illustriert das Foto gut die derzeitige Lage auf St. Pauli: Irgendwie ist die Luft raus, und deshalb gibt es erste gute Gründe für ein schiefes Grinsen nach der Krise.
Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass immer, wenn man den Boden rund um die Reeperbahn fotografiert, unweigerlich Kippen mit aufs Bild kommen?
Bestimmt noch nie.
Manchmal, Kiez, bist du echt soooo berechenbar.
Gefunden in der Seilerstraße.
Der ebenso hochsympathische wie -fürsorgliche Hamburger Autor Richard Kähler machte mich per Mail auf ein sehr schönes US-amerikanisches Pareidolieblog aufmerksam, welches geneigte Interessenten hier ansteuern können.
Die geradezu weltmeisterlichen Beispiele ebenda bewogen mich, diese traditionsreiche Serie auch hier mal wieder fortzusetzen – mit einem Kinderfahrradsitz, welcher die vorherrschende Stimmungslage seines Passagiers aufs Deutlichste zu resümieren scheint.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
Spontan dachte ich ja beim Anblick dieses auf dem Schlachthofflohmarkt entdeckten Schildes, bei „Polover“ handele es sich um einen mir bisher unbekannten und besonders zärtlichen Kosenamen für Schwule.
Auch wenn ich schließlich begriff, wie profan der wahre Sachverhalt war, so plädiere ich hiermit doch dafür, den „Polover“ von nun an in den Kanon der Schwulenkosenamen aufzunehmen.
Duden, übernehmen Sie!
Was auf den Straßen von St. Pauli so herumliegt, vermag Wesen und Wirken des Stadtteils gemeinhin ganz gut zu charakterisieren. Und ich meine nicht nur die Hundekacke.
Unlängst stieß ich in der Seilerstraße binnen kurzem auf zwei sehr unterschiedliche Gegenstände, welche durchaus dazu geeignet sind, die Extrempole des kompletten Kiezspektrums abzudecken.
Zum einen handelte es sich um eine Reclamausgabe von Schillers Stück „Wilhelm Tell“, zum andern um die Verpackung eines sogenannten „Super Dick Sleeve“. Der Inhalt war bereits entfernt und womöglich gerade in Gebrauch.
Was man aber auch findet auf den Straßen von St. Pauli: Daneben liegen immer ein Kronenkorken und ein Zigarettenstummel.
Das ist ein Naturgesetz.
Kommentare in der Mopo sind oftmals recht lesenswert. Heute empört sich ein der Rechtschreibung nicht hunderprozentig sicherer Kommentator namens herring über die Kissenschlacht von gestern Abend auf dem Spielbudenplatz und fragt recht suggestiv: „und wer macht die sauerrei wieder weg?“
Nun, dafür, lieber herring, haben wir hier in Hamburg eine recht nützliche Einrichtung. Ich weiß nicht, ob so etwas auch in anderen Kommunen schon bekannt ist; hier jedenfalls heißt sie ziemlich schnörkellos „Stadtreinigung“.
Dabei handelt es sich um lustig gekleidete Herren mit Spezialfahrzeugen, die überall herumwieseln und mit großer Akkuratesse einsammeln, was allem Anschein nach keiner mehr haben will. Zum Beispiel Federn aus Kissenschlachten.
Das Schöne: Vor allem der Kiez stellt auf geradezu rührende Weise die Arbeitsplätze dieser Menschen sicher. Derart zuverlässig nämlich sorgt er, der Kiez, für die stete Zufuhr wegräumenswerten Nachschubs, dass die lustig gekleideten Herren gleich mehrfach täglich durch unsere Straßen wuseln dürfen.
Eine Kissenschlacht ist letztlich also nur eine empathische Investition in die Zukunft der Hamburger Stadtreinigung, und entsprechend gutgelaunt präsentierte sich heute Morgen das abgebildete Team.
Es wurde gejuchzt und gescherzt, zwei schippten, zwei schauten zu, und immer wieder umtanzten kleine aufgewirbelte Federflockenwölkchen das gesellige Quartett.
Friede, Freude, Federkissen: Könnt es doch immer so sein.
Wahrlich: Es wäre ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem Gebaren, welches zuletzt hier in unserer Straße an den Tag gelegt wurde, wenn die Unzufriedenen hinfort nur noch mit Klobürsten und Federkissen statt mit Wackersteinen würfen. Also Gaga statt Gewalt.
Das wäre genau jene Art relativer Deeskalation, welche den Hardlinern auf der anderen Seite nicht schmecken dürfte, uns Anwohnern aber umso mehr. Genau dort – auf der Ebene des Satirischen – sollte dieser eskalierte Konflikt ausgetragen werden. Von daher plädiere auch ich hiermit von Herzen für den erweiterten Klobürsten- und Federkisseneinsatz im Bereich zwischen Schanze und Reeperbahn, der vom Gefahrengebiet inzwischen wieder gesundgeschrumpft ist zur Region mit zwei übriggebliebenen Gefahreninseln.
Der FC St. Pauli hat heute übrigens ebenfalls seine Meinung zu den Vorfällen auf dem Kiez, bei denen Vereinsparolen skandiert wurden, bekanntgegeben:
„Die Eskalation der letzten Wochen, gewalttätige Auseinandersetzungen, viele Verletzte, massive Sachbeschädigungen, die Ausrufung eines Gefahrengebiets – all das verhindert die vernünftige Diskussion von politischen Themen, die für den Stadtteil von großer Bedeutung sind.
Das Präsidium des FC St. Pauli spricht sich klar gegen Gewalt in jeglicher Form aus und appelliert an alle beteiligten Parteien, Deeskalation zu betreiben, Gewalt zu unterlassen und zu versuchen, wieder in den Dialog zu treten. Zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Stadtteils.“
Zurück zu den Klobürsten: Auf ganz St. Pauli soll dieses inzwischen so bedeutsame Utensil inzwischen ausverkauft sein. Somit steigt unweigerlich die Gefahr, dass man alsbald verstärkt auf Ersatz zurückgreift – nämlich gebrauchte. Und das wäre das Gegenteil von Deeskalation.
Also bitte nicht.
PS: Das Motiv oben kursiert zurzeit im Internet. Die Urheberschaft ist leider nicht festzustellen. Eine Quellenangabe reiche ich selbstverständlich gerne nach – oder entferne das Bild auch, wenn die Abbildung hier im Blog dem Schöpfer oder der Schöpferin nicht genehm sein sollte.
Die brennenden Barrikaden neulich in der Seilerstraße waren doch zu etwas gut, und zwar zu einer belastbaren, wenngleich höchst flüchtigen Pareidolie.
Selbst meinem geübten Blick entging sie indes zunächst, doch dann manifestierte sie sich plötzlich umso heftiger.
Oder erkennt irgendjemand in diesem Feuer etwa nicht das Profil eines bärtigen älteren Herrn mit hoher Stirn und tiefliegenden Augen, der viel sanftmütiger lächelt, als es der Anlass eigentlich nahelegt?
Wusst ich’s doch.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
Wenn ich sonntagsmorgens zum Brötchenholen auf dem Kiez unterwegs bin, dann muss mir niemand erzählen, dass ich mich in einem Gefahrengebiet befinde. Denn was da an Überresten der letzten Nacht vorüberschlurft, sieht aus, als wäre es beim „Walking Dead“-Statistencasting nur knapp gescheitert. Und deshalb sauer.
Doch auch offiziell, generell und auf unbestimmte Zeit ist St. Pauli seit dem Wochenende „Gefahrengebiet“, eine Reaktion auf die Überfälle auf Polizeistationen in der Schanze und auf dem Kiez (zumindest letzterer ist inzwischen umstritten).
Dieser Status ermöglicht der Polizei, ohne konkreten Anlass nach Ausweisdokumenten zu fragen oder Platzverweise zu erteilen. Wohin sie Ms. Columbo und mich allerdings im Bedarfsfall verweisen wollte, bleibt vorerst ungeklärt.
Allmählich jedenfalls avanciert ganz Hamburg zum Gefahrengebiet, zumindest für den Bürgermeister Olaf Scholz, wie Spiegel online treffend feststellt. Falls was passiert (gestern war ich z. B. versehentlich ohne Ausweis unterwegs, das war knapp!), halte ich Sie auf dem Laufenden.
Bis dahin bilden Sie bitte eine Luftbrücke.
Trotz aller Bemühungen, an denen ich Sie in der Vergangenheit regen Anteil nehmen ließ, verfügen wir immer noch über Restbestände an Büchern. Manchmal verschlechtert sich die Lage sogar – vor allem, wenn ich Weihnachten bei meinem Eltern verbringe und den Fehler begehe, auf den Speicher hinaufzusteigen.
Dort lagern weiterhin mehrere Zentner Druckwerke aus der ersten Hälfte meines Lebens, doch meinen Eltern wäre es lieber, wenn dieser Zustand sich allmählich und endgültig änderte. Also kehrten wir vom Weihnachtsbesuch mit einer Tasche Bücher zurück, deren Onlineauktionseignung ich in Hamburg zu überprüfen gedachte.
Darunter befand sich auch ein altes Buch mit hessischen Volksliedern, voll mit erbaulichen Moralballaden, die am Ende meist betonen, wie hilfreich unbedingtes Gottvertrauen sich gemeinhin aufs weitere Leben auswirkt. Das Buch ist eine Erstauflage von 1894, gut erhalten, mit immer noch stabil verklebten Buchdeckeln, ohne lose Seiten und bei Amazon mit beeindruckenden 40 Euro im Angebot.
Flugs stellte ich mein Exemplar zum gleichen Preis wie das billigste Konkurrenzangebot dazu und harrte der Dinge. Fast ebenso flugs wurde ich um einen Cent unterboten. Ich zog umstandslos gleich. Der Konkurrent ging erneut einen Cent drunter, ich blieb milde gestimmt und zog wieder gleich; schließlich hatte ich kein Interesse an einem ruinösen Dumpingwettbewerb.
So ging das eine ganze Weile hin und her, bis mir dämmerte, dass die jeweils prompte Reaktion meines Duellanten nur botgesteuert möglich sein konnte. Anscheinend hatte er ein hirnrissiges Tool im Einsatz, das automatisch das niedrigste Angebot um einen Cent unterbot – ohne zu bedenken, was unvermeidlicherweise geschähe, wenn sich auch irgendein anderer jenes Instruments bediente: Der Preis sänke – sofern kein heimlich festgelegter Mindestbetrag die fatale Entwicklung stoppte – binnen kurzem gen null.
Also beschloss ich den dumpfen Bot zu überrumpeln und senkte den Preis meiner erbaulichen hessischen Volkslieder schlagartig auf zwei Cent. Diese Aktion war freilich nicht ohne Risiko, denn jeder volkskundlich Interessierte musste sich augenblicklich alle zehn Finger nach diesem Schnäppchen lecken und zuschlagen. Inklusive Versandkosten erwürbe er die Rarität für 3,02 Euro, und das ist nun wirklich zu wenig für den Lobpreis unbedingten Gottvertrauens aus dem späten 19. Jahrhundert.
Doch es klappte: Der rumpeldumme Bietautomat des Konkurrenten brauchte nur fünf Minuten, um sein Angebot auf einen Cent runterzuprügeln. Natürlich kaufte ich sein Buch sofort.
Seither dämmert mein Exemplar friedvoll und unbehelligt einem interessierten Käufer entgegen. Die 39 Euro, die er dafür zahlen müsste, wären für Genreliebhaber immer noch ein echtes Schnäppchen.
Übrigens nahm ich an, dass der von mir und seinem eigenen Bot ausgetrickste Konkurrent mich anmailen und die Unauffindbarkeit seines Exemplars heucheln würde, um ein Storno zu erwirken. Doch nichts da: Heute hat er’s schon verschickt. Angeblich.
Bald werde ich, der eigentlich weltweit größte Bücherabschaffer von ganz St. Pauli, also doppelt so viele Exemplare dieses historischen Meisterstücks zu Hause verwahren dürfen. Und wahrscheinlich werde ich keins der beiden je wieder los.
Ich meine: Wer interessiert sich schon für hessische Volkslieder von 1894? Also ich nicht.
Ach ja, hier der alljährliche, mit einem tiefen fatalistischen Seufzen vorgebrachte Rat:
Bitte sprengen Sie sich in den kommenden Stunden nichts weg, verzichten Sie auf Selbstentbeinung, lassen Sie nirgendwo Amputate herumliegen.
Desweiteren verweise ich auf
die Einträge aus sämtlichen Jahren seit 2006, die ebenfalls alle nichts
genützt haben.
Foto: anschlaege.de
Traurig, aber wahr: Das ist der Bauch von Boris Becker, und zwar vor der Weihnachtsvöllerei.
Gute Nacht.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.