Kaum lugt der Frühling zaghaft um die Ecke, habe ich einen Platten. Kurz vor der Neuen Großen Bergstraße – nicht fern von jener Stelle, wo ich und mein Rad einst von einem Auto teilzerlegt wurden – stelle ich plötzlich einen unheilvollen Rollwiderstand fest. Natürlich versuche ich das Problem zunächst mit simplem Aufpumpen zu beheben, liege aber hundert Meter weiter schon wieder lahm.
Interessanterweise ist von solchen Schäden stets das für mich irreparable Hinterrad betroffen. Mein Fahrrad hat sieben Gänge plus Rücktritt, und dieses heillose Gewirr von Ketten, Speichen und Zahnrädern dort hinten sieht aus, als bräuchte man ein Vordiplom zum Schlauchwechsel. Wahrscheinlich war es damals einfacher, Apollo auf den Mond zu schaffen, als heutzutage einen Siebengangrücktritthinterreifen zu wechseln.
Fazit: Ich brauche Hilfe. Von unerschrockenen Fachleuten. Da meine bisherige Stammwerkstatt in Ottensen nach den empörenden Vorfällen vom Oktober für immer und ewig plus drei Tage tabu ist, folge ich Andreas’ Tipp und bringe es zu Rad und Tat.
Dort stellt man mir unbürokratische Hilfe in Aussicht und hält Wort. Heute, als ich das Rad wieder abholen will, ist der Schlauchschaden behoben. Allerdings informiert man mich über eine „unvollständige Schaltung“. Mit Verwunderung frage ich nach, denn die Schaltung war unmittelbar vor dem Platten keineswegs unvollständig. Ich benutzte sie munter, schaltete rauf und schaltete runter; nur der siebte Gang ging nicht, wie ich gegenüber Rad und Tat einräumen muss.
Gegenüber meinen Argumenten zeigt man sich indes hartleibig und führt mir das Problem vor Augen: Die sogenannte Klickbox ist weg. Das ist quasi die Kommandozentrale für jeden Schaltvorgang. Die Klickbox ist fürs Schalten so wichtig wie die Großhirnrinde fürs Denken. Und jetzt ist sie weg.
Ich versichere, sie sei noch dagewesen, als ich das Rad vorbeibrachte. Kann nicht sein, erwidert man, und beharrt auf der Sprachregelung „unvollständige Schaltung“. Ob denn das Rad die ganze Zeit vorm Laden auf dem Hof gestanden hätte, frage ich listig. Man bejaht. Ob dann nicht vielleicht jemand unbemerkt seine Klickboxsammlung hätte vervollständigen können, frage ich. Man verneint. „Haben Sie etwa die ganze Zeit, ununterbrochen, ständig, immer den Hof im Blick vom Laden aus?“, schieße ich mit wohldosierter Schärfe eine gerichtsthrillertaugliche Fangfrage ab. Aber ja, erwidert man festen Blicks und wiederholt mit Vehemenz die mir allmählich auf den Senkel gehende Theorie von der bereits angelieferten unvollständigen Schaltung.
Unser Diskurs dreht sich inzwischen im Kreis; zumindest in diesem Punkt muss ich dem Verkäufer, der es als erster bemerkt, Recht geben. Zugleich wird die Stimmung zwischen uns immer eisiger. Aber es steht halt Aussage gegen Aussage, These gegen These, und keiner von uns wird je beweisen können, wie es wirklich war – zumal mir einfällt, dass mein Rad ja noch den ganzen Tag über platt nahe der Redaktion geparkt hatte. Vielleicht vervollständigte wirklich jemand tagsüber seine Klickboxsammlung auf Kosten meines Rads, und ich schob es abends Richtung Werkstatt, ohne den Verlust zu bemerken.
Durch diese selbstzweiflerischen Überlegungen sehe ich meine Position entscheidend geschwächt. Also verzichte ich auf den ganz großen Terz und versuche zähneknirschend dem schließlich ausgehandelten Kompromiss etwas Positives abzugewinnen: Ich werde die Klickbox und ein paar notwendige Kleinigkeiten bezahlen (insgesamt FÜNFUNDVIERZIG Euro!), dafür berechnet man nichts für die Montage.
Dennoch: In diesem Leben werde ich kein Freund mehr von Fahrradläden. Doch wie ohne sie auskommen? Ich könnte eine alte Lieblingsidee von mir, die sich auf Schirme bezog, in die Sphäre der Drahtesel übertragen. Hier der Vorschlag, und ich bitte um zustimmende Handzeichen:
Fahrräder gelten ab sofort als sozialisiert, als Gemeingut. Wer eins benötigt, schwingt sich einfach aufs nächstbeste und stellt es am Ziel wieder ab, natürlich genauso unverschlossen und ungesichert, wie er es am Start vorfand. Dir gehören also alle Räder und keins. Und wenn eins kaputt geht, findest du sicher binnen Minuten ein intaktes – schau dich einfach um, eine Welt ohne Bügelschlösser ist voller Möglichkeiten.
Die Entsorgung der Wracks übernimmt praktischerweise die Stadtreinigung. Und die Kosten? Nun, mit rund einem abgezwackten Promille von der 2007 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung lässt sich eine Vollversorgung mit sozialisierten Fahrrädern sicher finanzieren.
Hauptsache, ich brauche nie, nie mehr eine Werkstatt aufzusuchen.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Radelbezug
1. „Small price of a bicycle“ von The Icicle Works
2. „Girl on a bicycle“ von Ralph McTell
3. „Bike“ von Pink Floyd
Von wegen sozialisiert. Das ist rein kommunistisches Gedankengut!
AntwortenLöschenUnd wer repariert die ganzen Platten? Es gibt doch kaum noch Plattenläden.
Klasse Idee und im theoretischen Ansatz ebenso gut wie die von Marx und Engels :)
AntwortenLöschenEs hakt allerdings daran, daß es sicherlich schon bald die ersten geben wird, die Gerichte bemühen, um eine adäquate Auswahl von Fahrrädern morgendlich vor der Haustüre vorzufinden. Weiterhin wird es "die geniale Geschäftsidee" geben, die Fahrräder gegen ein geringes Entgelt zu reparieren und somit zu horten.
Weiterhin wird die Stadt dann zentrale Parkplätze für Fahrräder einrichten, gebührenpflichtig natürlich.
Und es wird wie immer die heimlichen Fahrrad-Sammler geben, die das Prinzip nicht verstanden haben.
Die Gier und die Macht des Menschen sind scheinbar genetisch bedingt und zerstören jegliches soziale Prinzip, das dagegen arbeitet.
Allgemeingut gilt als hochgradig gefährdet.
Meine Erfahrung: Im Allgemeinen sind es Fahrrad"Läden". Die wollen Neuware verkaufen. Reparieren, oder Inspektion, nix da.
AntwortenLöschenWas war ich froh, als ich anfing, mehr oder minder erfolgreich MTB-Rennen zu fahren von meinem Sponsor (eine Fahrrad"werkstatt") meinen eigenen Techniker zu bekommen...
Wie? Fahrräder ohne Schloss sind kein Allgmeingut?
AntwortenLöschenSeit langem frage ich mich, warum immer das Hinterrad platt wird. Im Leben habe ich schon Dutzende Hinterreifen geflickt, aber nur einmal ein Vorderrad. Ich hab hier noch zwei mit Platten stehen. Das eine kriege ich noch allein hin. Beim anderen bräuchte ich mindestens noch einen dritten Arm, weil ich allein die Kette nicht gespannt kriege.
AntwortenLöschenMein neues Rad ist übrigens mit einem HiTech-nie-mehr-plattgeh-und-nicht-durchstechbaren Mantel ausgestattet. Mal schauen, wie lange der hält.
ihren vorschlag hatten wir bereits als jugendliche verinnerlicht, allerdings auf dem land, da dort bis heute kaum fahrradschlößer benutzt werden. so tauschten für gewöhnlich und meist an wochenenden diverse fahrräder ihren standort; mit fahrrad A hin, mit B oder C zurück. leider ist die sache mit der stadtreinigung auch nicht von ungefähr, ich erinnere mich an einmal, als der gute c. mich mit seinem fahrrad besuchte und leider zu fuß zurück mußte, da in der zwischenzeit die sperrmüllabfuhr sein rad einfach mitentsorgt hat...
AntwortenLöschenIch stehe ja in der Regel Vergesellschaftungs-Ideen sehr nahe, allerdings muss ich sagen, dass cekado recht hat. Es gibt sogar einen Präzedenzfall: Im Amsterdam der Achtziger wurde die Idee ausprobiert, ein Großteil der Räder wurde schlicht geklaut; ein anderer Teil wurde zwar ordnungsgemäß abgestellt, nur leider in Gegenden, wo die Nachfrage eher gering war, das heißt, es entstanden Radballungen; ein dritter Teil ging schlicht kaputt. Aber die Idee war schön. Und Queens "Bicycle Race" gehört eigentlich ebenfalls auf die Liste.
AntwortenLöschenDas Wort „Radballungen“ hoffe ich in meinen aktiven Wortschatz überführen zu können, sehr schön.
AntwortenLöschen„Klauen“ geht doch eigentlich gar nicht bei diesem Prinzip, oder?
Wahre Verstöße gegen die Radvergesellschaftung wären das Wegschließen oder mutwillige Anketten. So etwas müsste dann natürlich mit einem angemessen langen Teilnahmeverbot am Rädchenwechseldichspiel geahndet werden. Um Berechtigte und Unberechtigte voneinander unterscheiden zu können, wären allerdings wieder spezielle fälschungssichere Ausweise nötig – ach, Mensch … Es ist alles komplizierter, als man denkt.
Marios Theorie muss ich teilweise entkräften. Es gibt sogar Läden die nichts verkaufen wollen. Jedenfalls keine Ersatzteile (wenn man sie so nennen möchte).
AntwortenLöschenEinst wollte ich mir nämlich ein Mountainbike komplett selbst zusammenstellen und -bauen. Einen Rahmen konnte ich günstig über den Versand erwerben. Den Rest (im Wert von mal eben um die 1000 Euro) gedachte ich allerdings im Laden zu kaufen. Da es natürlich beträchtliche Preisunterschiede geben kann, fragte ich überall nach Preisen um zu vergleichen. Einer allerdings rückte seine Preise nicht raus, denn ich würde ja "sowieso woanders kaufen", und er hätte dann die ganze Arbeit (Preise raussuchen) gehabt.
Man stelle sich folgendes Gespräch bei MeyerAldiEdeka vor:
- Was kostet die Milch?
- Sag' ich ihnen nicht, sonst kaufen sie woanders.
Der Vollständigkeit halber: Ich habe nicht beim billigsten Anbieter gekauft, sondern bei "ja, wir schreiben das schon mal alles auf, dann kannst du das mitnehmen, vergleichen, und wenn du wiederkommst, dann haben wir schon 'ne Liste".
Wirklich skurril! Amüsiert mich sehr. ;-)
AntwortenLöschenIhr Blog, Thommi, ist aber enorm GELB …
Mögen Sie kein GELB?
AntwortenLöschenIch dachte, wenn die Sonne schon nicht strahlt, dann doch wenigstens das Blog ;-)
Nein, in wirklich ist das eine ganze andere Geschichte...aber nicht jetzt und hier.
Ach, wie traurig, dass auch mein gut gemeinter Tipp keine Lösung des ewigen Fahrradladenproblems gebracht hat (wobei ja durchaus die Möglichkeit besteht, dass der Rad-und-Tat-Mann vollkommen unschuldig war!). Meine Besuche dort sind übrigens deutlich seltener geworden durch die schon von Trilian erwähnte Anschaffung eines maximal gepanzerten Mantel für das HINTERRAD. Kann ich definitiv empfehlen.
AntwortenLöschenUnbedingt sollte hier noch der Song "My White Bicycle" der britischen Psychedelic-Band Tomorrow (der u. a. der spätere Yes-Gitarrist Steve Howe angehörte) aus dem Jahr 1967 erwähnt werden, bezieht er sich doch auf eine frühe Erscheinungsform des von Matthias geforderten Fahrradnetzwerkes in Amsterdam. Mehr dazu gibt z. B. hier: http://members.tripod.com/pink_fairies/tomorrow.html.
Die Geschichte mit dem Panzermantel ist mir völlig neu. Scheint ein Tipp zu sein, der mein Leben verändern könnte.
AntwortenLöschenIch freunde mich ja gern mit Menschen an, die Fahrräder reparieren können und Wände streichen und so. Die können meistens weder kochen noch ihre Knöpfe wieder an den Hemden befestigen, dann passt es wieder.
AntwortenLöschenTaktisch Freundschaften zu schließen scheint mir zwar ein klitzekleines bisschen ehrenrührig zu sein, aber praktisch ist es schon. Ich kenne leider nur Kopfarbeiter …
AntwortenLöschenAls Fahrer eines dieser Räder mit Carbonfaserrahmen und Titanfelgen mit eingebautem Staubsauger und elektrisch verstellbarem Sattel bin ich nicht so sehr für eine Vergesellschaftung.
AntwortenLöschenIch bin vielmehr auf einer Suche nach eine Vorrichtung, die im Falle einer unbefugten Benutzung nach der 13. Kurbelumdrehung ein Stilett nach oben durch den Sattel schiebt, weil bereits meiner 6 Fahrräder "vergesellschaftet" wurden.
In der Tat müssen Sie sich, verehrter fellow passenger, in unserer Neuen Gesellschaftsordnung so ein Bonzenrad schleunigst abschminken. Mir schwebt als Grundversorgung eher das schmucklos-funktionale Volksmodell „Mao Tse-Dong“ vor. Stellen Sie sich lieber schon mal drauf ein, als sich bourgeoisen Rachefantasien hinzugeben!
AntwortenLöschenIch hab mal geschaut. Der Unplattbare (sic!) ist bei Schwalbe zu bekommen und nennt sich Marathon.
AntwortenLöschenMan nutze den Link durch meinem Namen. Oder man suche selbst unter schwalbe.de