„3000 Plattenkritiken“ | „Die Frankensaga – Vollfettstufe“ | RSS-Feed | In memoriam | mattwagner {at} web.de |
12 Juli 2011
Grenzerfahrung in der Hafencity
Vor zwei Jahren nahm ich schon einmal das spezifische Flohmarktsortiment in der Hafencity unter die Lupe und kam zu interessanten soziologischen Erkenntnissen. Am Sonntag waren wir mal wieder da, um erneut die Anwohner von Magellanterrassen und Sandtorkai beim Ausmisten zu beobachten.
Diesmal auffällig oft vertreten: Nippes, den man von Flugreisen übrigbehält. Also Schirmmützen der Lufthansa, Rucksäcke von Condor, Einwegschlappen aus Luxushotels – sowie ein zauberhafter Strohhut mit der Banderolenaufschrift „Sheraton-Grande Lacuna Beach Phuket“, den ich augenblicks erstehen musste (aus Gründen), und zwar für faire drei Euro. Der Herr in den besten Jahren, der ihn mir verkaufte, begründete seine Entscheidung damit, sein Kopf sei mittlerweile „zu groß geworden“.
Ich fand das merkwürdig, weil gemeinhin mit dem Alter eher Körperpartien wie Bauch, Hüfte oder Oberschenkel dazu neigen, Lebensjahre kongenial in Speckzuwachs umzusetzen, doch vielleicht unterscheidet ja gerade das die Hafencitybewohner essenziell von Kiezianern oder Eimsbüttlern.
Gleichwohl verstörte mich etwas anderes weitaus mehr, nämlich das Cover der abgebildeten Vinylsingle.
Klar, die Popgeschichte ist überreich an ästhetischen Verirrungen, ja Vollkatastrophen, doch dieses Exemplar einer gewissen Claudia Phillips, die den Begriff „Brustimplantat“ auf bestürzende Weise neu interpretiert und dazu grellstens grimassiert, als schöbe man ihr gerade einen Skorpion ins Rektum, gehört in seiner Scheußlichkeit sicherlich zu den herausragenden Beispielen.
Es ist also völlig nachvollziehbar, weshalb ein Hafencitybewohner sich lieber vorgestern als übermorgen von der dreiköpfig mutierten Frau Phillips trennen möchte. Die entscheidende Frage aber lautet doch: Wie ist er überhaupt in den Besitz dieser Platte gelangt? Wurde er irgendwo auf der Welt, vielleicht im Folterkeller des Sheraton-Grande Lacuna Beach Phuket, unter Androhung roher körperlicher Gewalt zum Kauf gezwungen?
Ich habe mich nicht getraut zu fragen. Schließlich gibt es Grenzen.
11 Juli 2011
Sex sells, aber nicht immer
Die Koberer an der Reeperbahn erkennen mich immer noch nicht. Liegt es an meinem Durchschnittsgesicht oder an ihrer (berufsbedingten) Amnesie? Keine Ahnung.
„Darf ich Ihnen mal zeigen, den versauten Stall?“, umgarnt mich einer, dem ich im Lauf der Jahre schon circa achthundertmal mangelndes Interesse signalisiert habe. „Noch sindse frisch geduscht, noch riechense gut!“
Danke, trotzdem nicht. Sollte er mich demnächst mal wieder nach Mitternacht ankobern, werde ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen – und die Ablehnung seiner Offerte mit „olfaktorischer Vorsicht“ begründen.
Auf der anderen Seite der Reeperbahn muss ich an der Fußgängerampel gegenüber der Davidwache Grün abwarten und gerate in den Radar einer großen blonden Hure, die mich immerhin nicht anfasst, was ich ihr innerlich hoch anrechne.
„Was hast’n noch vor heute Abend?“, flötet sie. „Ich will jetzt nach Hause, zu meiner Frau.“ Hat sie anscheinend schon mal gehört, diese Ausrede (wobei das gar keine Ausrede ist – für den Fall, dass Ms. Columbo hier mitliest). Jedenfalls antwortet sie sofort: „Kannste doch auch noch in ner halben Stunde! Du bist halt im Verkehr steckengeblieben. 30 Euro – für’n kleinen Abstecher …?“
Verdammt, woher kennt diese Frau meine heillose Schwäche für Kalauer? „Nicht schlecht: im Verkehr steckengeblieben; Abstecher“, lobe ich sie mit kursivierter Betonung und anerkennendem Nicken, ehe ich ihr noch einen schönen Abend wünsche.
Übrigens erlischt nur eins auf dieser Welt schneller als eine Kerze im Schneesturm: das Interesse einer Reeperbahnhure, die keine Erfolgschance mehr sieht. Schlagartig vereisende Gesichtszüge, Abdrehen, Weggehen: Das ist gleichsam eine einzige homogene Aktion, deren behende Eleganz man durchaus heimlich bewundern darf.
Wer von Ihnen übrigens bereits nach der Preisangabe elektrisiert abgeschaltet hat, dem sei vorsichtshalber gesagt: 30 Euro ist nach Angaben gewöhnlich gut informierter Kreise nur ein lachhafter Lockvogelfantasiepreis, für den die gute Frau auf dem Zimmer nicht mal das T-Shirt lüftet.
Und für die unweigerlich beginnenden Nachverhandlungen auf ihrem ureigenen Territorium sind gewiss nur die wenigsten Menschen auf der Welt gerüstet. Debütierende Freier schon mal gar nicht.
PS: Das heutige Motiv aus der Talstraße hat nur lose mit den geschilderten Ereignissen zu tun, das gebe ich zu.
10 Juli 2011
Pareidolie (8): Bernds mondäne Schwester
09 Juli 2011
Fundstücke (142)
07 Juli 2011
Ringo und der Blowjob
Kann mir bitte mal ein Mensch plausibel erklären, wieso der Ex-Beatle Ringo Starr, der heute 71 wurde, keinen Tag älter aussieht als 45?
Früher mussten solche Leute – ich denke da an Typen wie Ahasver oder Melmoth – alle paar Jahrzehnte umziehen, weil ihre Alterlosigkeit den Nachbarn verdächtig wurde. Heute sind sie Popstars und keiner sagt was.
An den Landungsbrücken jedenfalls feierte Ringo mittags um 12 ein wenig Geburtstag, rief gutgelaunt „Peace and love!“ in die Sommerluft und war ganz generell agil wie ein Iltis. Wir sangen ihm ein kleines Geburtstagsständchen und sahen ihn abends im Stadtpark wieder, wo er „What’s my name?“ rief und auf das tausendfache „Ringo!“-Echo wartete.
Ein echt netter Kerl, der Mann, aber wie hat einer wie er, der mit 71 aussieht wie 45, eigentlich ausgesehen, als er 30 war – wie minus 15 …? Nein, irgendwas stimmt da nicht mit Ringo, was übrigens in ähnlichem Maße auch für seine Frau Barbara Bach gilt (64 <-> 44).
Auf dem Heimweg schlenderten wir über die Reeperbahn und sahen an einer Hauswand einige Obdachlose lagern. Eine Frau mit Bandanakopftuch lag halb über dem Schoß eines auf dem Gehweg sitzenden Mannes, ihr Kopf bewegte sich auf und ab.
Hm, dachte ich.
Im Vorübergehen riskierte ich einen Seitenblick – und sah, dass dem Mann etwas Fleischfarbenes aus der Hose wuchs und in ihrem Mund verschwand.
„Hast du das gesehen?“, fragte ich Ms. Columbo im Weitergehen. Selbst auf dem Kiez ist dieses Verhalten eher ungewöhnlich; normalerweise muss man für einen solchen Anblick den Gehweg verlassen. „Was denn?“, fragte sie. Ich erzählte es ihr. „Echt?“, sagte sie. „Ich sehe ja so was nie.“
Und genau deshalb habe ich ein Blog und sie nicht. Dafür hat sie aber andere ganz tolle Sachen.
->
Früher mussten solche Leute – ich denke da an Typen wie Ahasver oder Melmoth – alle paar Jahrzehnte umziehen, weil ihre Alterlosigkeit den Nachbarn verdächtig wurde. Heute sind sie Popstars und keiner sagt was.
An den Landungsbrücken jedenfalls feierte Ringo mittags um 12 ein wenig Geburtstag, rief gutgelaunt „Peace and love!“ in die Sommerluft und war ganz generell agil wie ein Iltis. Wir sangen ihm ein kleines Geburtstagsständchen und sahen ihn abends im Stadtpark wieder, wo er „What’s my name?“ rief und auf das tausendfache „Ringo!“-Echo wartete.
Ein echt netter Kerl, der Mann, aber wie hat einer wie er, der mit 71 aussieht wie 45, eigentlich ausgesehen, als er 30 war – wie minus 15 …? Nein, irgendwas stimmt da nicht mit Ringo, was übrigens in ähnlichem Maße auch für seine Frau Barbara Bach gilt (64 <-> 44).
Auf dem Heimweg schlenderten wir über die Reeperbahn und sahen an einer Hauswand einige Obdachlose lagern. Eine Frau mit Bandanakopftuch lag halb über dem Schoß eines auf dem Gehweg sitzenden Mannes, ihr Kopf bewegte sich auf und ab.
Hm, dachte ich.
Im Vorübergehen riskierte ich einen Seitenblick – und sah, dass dem Mann etwas Fleischfarbenes aus der Hose wuchs und in ihrem Mund verschwand.
„Hast du das gesehen?“, fragte ich Ms. Columbo im Weitergehen. Selbst auf dem Kiez ist dieses Verhalten eher ungewöhnlich; normalerweise muss man für einen solchen Anblick den Gehweg verlassen. „Was denn?“, fragte sie. Ich erzählte es ihr. „Echt?“, sagte sie. „Ich sehe ja so was nie.“
Und genau deshalb habe ich ein Blog und sie nicht. Dafür hat sie aber andere ganz tolle Sachen.
->
Labels:
ms. columbo,
musik,
promis,
reeperbahn,
sex,
typen
Ein bisschen (viel) Schwund ist immer
Klar, die Deutsche Post ist schon lange keine Behörde mehr, doch manches Relikt aus jenen glorios seriösen Jahrzehnten steckt ihr noch immer tief in den Genen. Ich werde weiter unten auf diese These zurückkommen.
Seit der Privatisierung hat sich bei der Post, wahrscheinlich durch Lohndrückerei, eine Selbstbedienungsmentalität breit gemacht, die einst, als Schwarz-Schilling noch Postminister war, niemals denkbar gewesen wäre. Die Quote der Umschläge mit CDs und DVDs, die an unsere Redaktion adressiert sind und „verschwinden“, beträgt fünf bis zehn Prozent, mit deutlichen Spitzen in der Vorweihnachtszeit.
In der Regel verdunstet das ganze Zeug spurlos, und da es fast immer als einfache Briefsendung verschickt wird, ist die Post stets auf der sicheren Seite. Sie kann schließlich nur Einschreiben und Pakete zurückverfolgen, tja.
Enttarnt wird der Schwund meist erst durch telefonische Nachfragen der Absender bei mir. Manchmal schicken sie eine Platte dreimal, ehe die Post endlich so gnädig ist, sie bis zu uns durchzuwinken.
Doch zurück zum eingangs erwähnten Gen, welches sich als Relikt hie und da noch bemerkbar macht. Neulich war es mal wieder so weit: Ich fand das oben abgebildete Objekt in meinem Postfach. Es handelt sich dabei um einen unverhohlen grobmotorisch aufgerissenen DIN-A5-Umschlag in einer Plastikhülle.
Nachdem Herr Werauchimmer die CD entnommen hatte – und jetzt wird’s bürokratisch –, steckte er den zerstörten Umschlag in eine Klarsichttasche, verschweißte sie sorgfältig und gab dieses völlig nutzlose Ensemble dann wie zum Hohn doch noch in die Zustellung.
Mal ehrlich, Post: Dann doch lieber einfach stillschweigend einsacken. Der aufgedruckte Text – „Die Sendung wurde leider beschädigt und deshalb von der Deutschen Post mit Kunststoffhülle versehen“ – düpiert mich nämlich mehr als eine vorerst unbekannt gebliebene Mopserei. Zumal dieser Text zu allem Überfluss auch noch Dankbarkeit einfordert – für eine Fürsorge, die gar nicht nötig gewesen wäre, hätte man diesen Umschlag einfach ordnungsgemäß zugestellt, statt ihn zu flöhen.
Übrigens ist die Verzweiflung auch auf Absenderseite groß. Da die Labels sich das Porto für Einschreiben nicht leisten können (weil Sie alle, meine Damen und Herren, wild downloaden, jawohl), versuchen sie es mit bisweilen rührenden kleinen Tricks. Promo-CDs von besonders begehrten Künstlern etwa tragen immer seltener den wahren Namen. Statt Eric Clapton steht dann zum Beispiel „Ian Snodgrass“ drauf (schon erlebt), in der Hoffnung, Herr Werauchimmer kratzte sich darob ratlos am Kopf und ließe unwissentlich den Clapton passieren.
Übrigens möchte ich meine obigen Ausführungen hiermit in aller Deutlichkeit als spekulativ klassifizieren; alle angedeuteten Beschuldigungen sind lediglich stilistisch und rhetorisch motiviert.
Einschreiben und Pakete verschwinden übrigens nie. Doch dafür gibt es bestimmt eine ganz einfache Erklärung. Die mir nur gerade nicht einfällt.
Nachtrag vom 11.8.2011: Die Sendung „Kerner“ dokumentierte heute Abend einen Test mit Bargeldsendungen. Ergebnis: 30 Prozent aller Briefe werden von Postdieben geöffnet, gefleddert und teils leer weitergeschickt.
06 Juli 2011
Fundstücke (141)
05 Juli 2011
Fundstücke (140)
04 Juli 2011
Von Rolltreppen und anderen Defekten
Es ist der Sonntag des Halbmarathons (Foto). 15 Minuten auf der Reeperbahn zum Brötchenholen reichen mal wieder, um sich mit einer kompletten Wochenration an schrägen Typen zu versorgen.
An der S-Bahn Reeperbahn nähert sich ein ungefähr 50-jähriges Kiezoriginal – lange Haare, Schiebermütze, Schnauzbart, Lederklamotten und ein Bauch wie Otti Fischer – einem Polizistenquartett. „Wie komm ich da rübä?“, fragt der Mann zwischen zwei Zügen an der Selbstgedrehten.
Er möchte die Reeperbahn überqueren, doch die ist gesperrt, wegen des Halbmarathons. „Durch die Unterführung“, sagt einer der Polizisten. „Was, ächt?“, staunt der Schnauzbart. „Aber die Rollträbbee is doch kaputt!“ Die Polizisten zucken mit den Schultern. Sie haben andere Prioritäten.
Das Kiezoriginal sieht, dass es hier nicht weiterkommt, und stakst hinter mir die Treppe runter – unablässig „So’n Scheiß!“ fluchend angesichts der Gewissheit, dass es drüben seine Ottifischerwampe auf unzumutbare Weise wieder auf Reeperbahnniveau hochwuchten muss, ausschließlich mit Hilfe von Willens- und Körperkraft statt einer Rollträbbee.
Drüben steht ein Mann im Kurzarmhemd schwankend auf dem Gehweg vor zwei leeren Bierflaschen. Eine willkommene Gelegenheit für das Kiezorginial, Kontakt aufzunehmen. „Na, bissdu übägeblieben von lättser Nacht, sach mal?“ Die Antwort fällt anscheinend zufriedenstellend aus, denn es entspinnt sich sofort ein trautes Zwiegespräch.
Wenige Meter weiter, am Hamburger Berg, steigt eine knapp 70-jährige Berufsjugendliche in schwarzen Lederhosen und rosa Jäckchen aus einem Taxi. Ihr blondierter Kurzhaarschnitt ist forsch, die Bierflasche in ihrer Hand halbgefüllt. „Fahr los, du Arschloch!“, ruft sie dem Fahrer zu, während sie mit Karacho die Taxitür zuschlägt. Der Fahrer beugt sich rüber und brüllt „Hau bloß ab!“ oder so ähnlich; seine Stimme dringt nur gedämpft aus dem geschlossenen Wagen.
Sie wankt davon, 70 und noch immer auf Krawall gebürstet. Als ich vom Brötchenholen zurückkomme, steht sie vor einer Stripbar an der Reeperbahn. Plötzlich springt sie behende auf ein Frauentrio zu. Alle tragen einen schwarzen Tschador, der ihre Haare verbirgt, offenbar Moslems.
„Kinderficken gut?“, ruft die Alte mit pseudodevoter Verbeugung und dem typisch schiefen Lächeln der Betrunkenen. „Ja“, sagt eine der Frauen; bedingungslose Affirmation als automatischer Abwehrreflex. Alle drei lächeln freundlich und beeilen sich, an der merkwürdigen Rentnerin vorbeizukommen. „Gut!“, jubiliert die Alte und tänzelt bierflaschenschwenkend zurück zum Eingang der Stripbar. Irgendeinem Pflegeheim in der Umgebung stehen bald lustige Zeiten bevor, das ist schon mal sicher.
An der Postfiliale ist ein multikulturelles Trüppchen unterwegs. „Sag, Achmed“, spricht ein augenscheinlich afrikanischstämmiger Brocken seinen Kumpel an, „warum du nicht auch Marathon? Du immer Arbeit, Arbeit, Arbeit!“
Achmed bleibt gelassen. „Laufe, laufe, laufe“, antwortet er, „isse auch Arbeit, Arbeit, Arbeit.“
Und dann bin ich wieder zu Hause. Sonst wäre das noch ewig so weitergegangen.
An der S-Bahn Reeperbahn nähert sich ein ungefähr 50-jähriges Kiezoriginal – lange Haare, Schiebermütze, Schnauzbart, Lederklamotten und ein Bauch wie Otti Fischer – einem Polizistenquartett. „Wie komm ich da rübä?“, fragt der Mann zwischen zwei Zügen an der Selbstgedrehten.
Er möchte die Reeperbahn überqueren, doch die ist gesperrt, wegen des Halbmarathons. „Durch die Unterführung“, sagt einer der Polizisten. „Was, ächt?“, staunt der Schnauzbart. „Aber die Rollträbbee is doch kaputt!“ Die Polizisten zucken mit den Schultern. Sie haben andere Prioritäten.
Das Kiezoriginal sieht, dass es hier nicht weiterkommt, und stakst hinter mir die Treppe runter – unablässig „So’n Scheiß!“ fluchend angesichts der Gewissheit, dass es drüben seine Ottifischerwampe auf unzumutbare Weise wieder auf Reeperbahnniveau hochwuchten muss, ausschließlich mit Hilfe von Willens- und Körperkraft statt einer Rollträbbee.
Drüben steht ein Mann im Kurzarmhemd schwankend auf dem Gehweg vor zwei leeren Bierflaschen. Eine willkommene Gelegenheit für das Kiezorginial, Kontakt aufzunehmen. „Na, bissdu übägeblieben von lättser Nacht, sach mal?“ Die Antwort fällt anscheinend zufriedenstellend aus, denn es entspinnt sich sofort ein trautes Zwiegespräch.
Wenige Meter weiter, am Hamburger Berg, steigt eine knapp 70-jährige Berufsjugendliche in schwarzen Lederhosen und rosa Jäckchen aus einem Taxi. Ihr blondierter Kurzhaarschnitt ist forsch, die Bierflasche in ihrer Hand halbgefüllt. „Fahr los, du Arschloch!“, ruft sie dem Fahrer zu, während sie mit Karacho die Taxitür zuschlägt. Der Fahrer beugt sich rüber und brüllt „Hau bloß ab!“ oder so ähnlich; seine Stimme dringt nur gedämpft aus dem geschlossenen Wagen.
Sie wankt davon, 70 und noch immer auf Krawall gebürstet. Als ich vom Brötchenholen zurückkomme, steht sie vor einer Stripbar an der Reeperbahn. Plötzlich springt sie behende auf ein Frauentrio zu. Alle tragen einen schwarzen Tschador, der ihre Haare verbirgt, offenbar Moslems.
„Kinderficken gut?“, ruft die Alte mit pseudodevoter Verbeugung und dem typisch schiefen Lächeln der Betrunkenen. „Ja“, sagt eine der Frauen; bedingungslose Affirmation als automatischer Abwehrreflex. Alle drei lächeln freundlich und beeilen sich, an der merkwürdigen Rentnerin vorbeizukommen. „Gut!“, jubiliert die Alte und tänzelt bierflaschenschwenkend zurück zum Eingang der Stripbar. Irgendeinem Pflegeheim in der Umgebung stehen bald lustige Zeiten bevor, das ist schon mal sicher.
An der Postfiliale ist ein multikulturelles Trüppchen unterwegs. „Sag, Achmed“, spricht ein augenscheinlich afrikanischstämmiger Brocken seinen Kumpel an, „warum du nicht auch Marathon? Du immer Arbeit, Arbeit, Arbeit!“
Achmed bleibt gelassen. „Laufe, laufe, laufe“, antwortet er, „isse auch Arbeit, Arbeit, Arbeit.“
Und dann bin ich wieder zu Hause. Sonst wäre das noch ewig so weitergegangen.
03 Juli 2011
Das Wetter spielte mit
02 Juli 2011
Justitia statt Titten
Das Nightlife in der Großen Freiheit scheint im Lauf der Jahre überaus betrübliche Erfahrungen mit seinen Gästen gemacht zu haben. Anders ist die Vielzahl an Verhaltensvorschriften, mit denen wir bereits vorm Betreten der Erotikbar konfrontiert werden, kaum zu erklären. Das klingt eher nach engem Korsett als nach großer Freiheit.
„Wir bitten Sie, bei einer Bestellung vorher unsere Getränke-Karte genau einzusehen!“, mahnt uns das Nightlife links vom Hintern der Pferdeschwanz- und Schlaghosenblondine, und es ist überdeutlich zu spüren, wie mühsam sich der Texter das Wörtchen „bitte“ abgerungen haben muss (der Deppenbindestrich fiel ihm mit Sicherheit erheblich leichter).
Darunter aber wird’s noch mal eine Runde schärfer. „Ihre Bestellung ist im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches ein Auftrag, der Sie zur Zahlung verpflichtet“, droht man bereits vor der Aufnahme jeglicher Geschäftsbeziehung mit Justitia, diesmal immerhin ohne Ausrufezeichen. Aber zur Sicherheit unten drunter auch noch mal auf Englisch.
Auf der Karte links daneben geht es ähnlich weiter. Bestellungen dürfen wir „nur persönlich beim Kellner aufgeben“, und das „Personal ist berechtigt sofort zu kassieren“. (Ein Komma hätte ich bei Bedarf übrigens noch in der Schublade.)
Mensch, da will man einfach nur mal ordentlich Titten gucken gehen, und was tut das Nightlife? Empfängt uns in einem Tonfall, der ans Grundsatzprogramm der chinesischen KP erinnert.
Derart liebreizend umworben erfreut sich wohl mancher potenzielle Gast einfach nur kurz am Wagemut der angedeuteten Doppelpenetration des Graffitos und zieht dann eingeschüchtert weiter. Zu groß das Risiko, das Bürgerliche Gesetzbuch über den Schädel gezogen zu bekommen, nur weil der Kellner bei der Bestellung statt „Red Bull“ (8 Euro) „Roederer“ (630 Euro) verstanden hat.
Und es ist ja nicht so, dass es hier keine Alternativen gäbe.
01 Juli 2011
Pareidolie (7) oder Am Hang des Ahnungslosen
Die heutige Pareidolie steuert Ms. Columbos uralter Radiorekorder bei. Er scheint zu schielen, während er aufgeregt wirres Zahlenzeug daherplappert.
Diese Einleitung taugt zwar als Fortsetzung der zuletzt etwas vernachlässigten Pareidolieserie, ist aber gleichwohl nur ein billiger Trick, um zu kaschieren, dass ich keine adäquate Bebilderung für die Geschichte parat habe, die jetzt folgt.
Sie handelt von meinem Freund C. Er lebt in der Schwalm. Das Haus, in dem er das Erdgeschoss bewohnt, liegt an einem Hang. Darauf wachsen Bäume, und je mehr Blätter sie bekommen, desto schlechter wird sein Fernsehempfang.
Das ist ein schleichender Prozess. Jetzt, mitten im Sommer, hat C. überhaupt kein Bild mehr. Nur ein Flimmern wie im Film „Poltergeist“.
Irgendwann werden sich die Bätter am Hang vor seinem Haus wieder anfangen zu verfärben und schließlich abfallen. Nach und nach wird sich aus dem weißen Rauschen seines Bildschirms wieder etwas Erkennbares herauskristallisieren. Und dann, im Winter, kann er wieder Fernsehen gucken. Vielleicht sogar schon im Spätherbst. Aber das Programm soll ja in den kalten Jahreszeiten eh besser sein.
Mein Freund C. hat übrigens auch keinen Computer, kein Smartphone, kein Internet. Er wird dadurch niemals mit kryptischen Fehlermeldungen konfrontiert. Oder mit dunkel drohenden Sätzen wie diesen (sic), mit denen mich heute Amazon vor eine Entscheidung zu stellen versuchte:
„Sind Sie sicher? Wenn Sie fortfahren, werden alle Änderungen, die Sie vornehmen, nicht übernommen. Bitte drücken Sie 'OK' um Ihre Änderungen nicht zu übernehmen. Bitte klicken Sie auf 'Abbrechen" um Ihre Änderungen abzuspeichern.“Ich stierte auf diesen Satz und las ihn mir viermal durch, ohne zu verstehen, was ich jetzt warum nicht oder doch tun sollte. Zumal ich nicht mal irgendeine Änderung vorgenommen hatte. Manchmal beneide ich Leute ohne Fernsehen und Internet.
Vielleicht ziehen wir irgendwann in die Schwalm. Und Ms. Columbos uralten Radiorekorder nehmen wir natürlich wieder mit. Wie immer.
30 Juni 2011
Die Zwiespältigkeit von Sattelmützen
Wie Sie bereits wissen, stehe ich Menschen, die mich mit Reklame behelligen, reserviert gegenüber. Neuerdings mache ich allerdings eine Ausnahme: bei Sattelbezügen.
Mit durchaus nicht nur klammheimlicher Freude fand ich vor einigen Wochen meinen Fahrradsitz mit einer Blau.de-Mütze überzogen vor. Gegenüber meiner üblichen Methode – mit Jackenärmeln trockenwischen – schien mir das einfache Abziehen eines durchnässten Bezugs ein deutlicher Fortschritt.
Unschön blieb dennoch die Tatsache, für ein Unternehmen zu werben, welches ich mal im Streit verlassen hatte – übrigens wegen Werbe-SMS, die es mir monatlich aufs Handy schickte, was ich nach einigen unschönen Telefonaten mit einer Kündigung sanktionierte.
Egal: Meine Blau.de-Sattelmützenbiografie war eh schon nach dem ersten richtigen Regenguss wieder am Ende. Ich hatte den triefenden Schutz abgezogen und ihn, wie ich glaubte, recht sicher unter den Gepäckträger geklemmt. Doch als ich zu Hause ankam, war er verschwunden. Wo bist du, kleiner Blau.de-Sattelbezug?
Meine Trauer um dieses so nützliche Accessoire war wie weggeblasen, als vergangene Woche sämtliche Fahrradsättel der Seilerstraße in leuchtendem Rot erstrahlten, darunter auch meiner. Es handelte sich um einen weiteren Bezug für lau, den arme Lohnsklaven anscheinend in nächtlicher Friemelarbeit hundertfach übergezogen hatten. (Jetzt können sie problemlos nach Uganda gehen und dort der ländlichen Bevölkerung die Handhabung von Kondomen vorführen, ich schwör.)
Eine feine Sache, das neue Teil, doch am beworbenen Produkt habe ich seither schwer zu schlucken. Ich, der ich mir gerade sämtliche Terrence-Malick-Filme auf DVD zugelegt habe, fahre nun also Werbung für den neuen „Werner“-Film. Für Bölkstoff statt Filmkunst.
Das ist außergewöhnlich unschön, lässt sich durch ein Umdrehen des Bezugs aber halbwegs kaschieren. Der Schriftzug schimmert trotzdem noch durch, wenigstens spiegelverkehrt. Allerdings protestiert das Ding, welches sich in seiner Reklamefunktion offenbar beeinträchtigt sieht, gegen diese Behandlung, indem es an den Nähten hämisch auszufransen beginnt. Irgendwas ist halt immer.
Hiermit fordere ich daher die Werbeindustrie auf, Fahrräder auf St. Pauli grundsätzlich nur mit Sattelmützen in neutralen Farben und ohne jegliche Aufschrift zu versehen, gerne auch nächtens von Lohnsklaven, so tolerant muss man schon sein.
Mit Hilfe sozialer Netzwerke (Stichwort: virale Werbung) könnte dann ja das so beworbene Objekt enttarnt werden, vielleicht sogar in Form einer Schnitzeljagd oder ähnlichem Kinderkram, und ich wäre natürlich auch bereit, es hier an dieser Stelle zu nennen. Einmal, ganz kurz.
Übrigens pressiert es ein wenig. Die „Werner“-Mütze franst wirklich ziemlich stark.
29 Juni 2011
Es gibt noch Zeichen und Plunder
Zweifellos, die Apokalypse naht. Beispiele? Sonder Zahl.
Ein einziger Blick gen Himmel offenbarte am Sonntag gleich drei Kondensstreifenkreuze über der Elbe, und wir wissen ja alle, was das bedeutet, nicht wahr?
Nur wenige Stunden später streifte ein Meteorit quasi die Erde. Und am nächsten Tag dann erzählte mir wie zufällig der Einheitskanzler, er besäße ein T-Shirt mit der Aufschrift „333 – Half Evil“. Sörr wötzöch.
All das sind natürlich düstere Mahnungen, wie damals in „Das siebte Zeichen“, und wahrscheinlich kommt gleich Jürgen Prochnow um die Ecke und raunt irgendwas.
Die drei Kondensstreifenkreuze sahen wir übrigens von wo aus? Natürlich Teufelsbrück.
Ein einziger Blick gen Himmel offenbarte am Sonntag gleich drei Kondensstreifenkreuze über der Elbe, und wir wissen ja alle, was das bedeutet, nicht wahr?
Nur wenige Stunden später streifte ein Meteorit quasi die Erde. Und am nächsten Tag dann erzählte mir wie zufällig der Einheitskanzler, er besäße ein T-Shirt mit der Aufschrift „333 – Half Evil“. Sörr wötzöch.
All das sind natürlich düstere Mahnungen, wie damals in „Das siebte Zeichen“, und wahrscheinlich kommt gleich Jürgen Prochnow um die Ecke und raunt irgendwas.
Die drei Kondensstreifenkreuze sahen wir übrigens von wo aus? Natürlich Teufelsbrück.
27 Juni 2011
Von Punk und Plauzen
„Mike Ness“, konstatiert der Einheitskanzler beim ersten Bier des Abends, „hat inzwischen genau so eine Plauze wie ich.“
Kein gutes Vorzeichen für ein Punkrockkonzert mit Ness’ Band Social Distortion, auf das ich mich schon seit Monaten freue und zu dem ich den Einheitskanzler als Begleitschutz engagiert habe. Doch es wird wieder mal so ein Abend, an dem ich die Welt nicht mehr verstehe, was inzwischen beunruhigend oft vorkommt.
Noch während der Vorband nämlich erklärt mir der eigentlich stockkonservative Einheitskanzler, er möge Billy Bragg. In Worten: Billy Bragg.
Klar, Herr Bragg ist nachgewiesenermaßen großartig, aber auch ein unbeirrbarer, störrischer Kommunist, und den darf ein Stahlhelmzyniker wie der Einheitskanzler niemals mögen, sonst ist heute Abend mal wieder so ein Abend, an dem ich die Welt nicht mehr verstehe.
Gleichwohl beharrt der Mann aufs Braggmögen, während er zur Bekräftigung ein Bier ums andere ordert. Selbst mein sinngemäßer Einwand, Bragg passe zu seinem Weltbild wie Senf zu Gummibärchen (eine Kombination, die Dr. K. übrigens liebt), vermag den tätowierten Vierschröter nicht zu beirren.
Eine der drei Grazien, die im Docks hinter der Theke stehen, perfektioniert diesen eh schon verstörenden Abend dann mühelos. Sie arbeitet schon seit Freitag hier, immer spielen Social Distortion mit Frank Turner als Vorband. Frank Turner, sagt sie, sei unglaublich geil, sie plane sogar dessen eigene Headlinertournee im Dezember definitiv aufzusuchen, dabei möge sie eigentlich nur R’n’B.
Frank Turner, meine Damen und Herren, spielt Folkpunk, aber so was von, da wäre sogar Billy Bragg hin und weg, und warum mag jetzt eine im Docks bedienende R’n’B-Schnepfe im Sommerkleidchen Frank Turner?
Manchmal verstehe ich einfach die Welt nicht mehr.
Mike Ness hat übrigens überhaupt nicht so eine Plauze wie der Einheitskanzler, aber vielleicht habe ich mich auch nur verguckt.
26 Juni 2011
Latte ohne Milch
Heute indignierte mich aus heiterem Himmel mein Espresso, wengleich auf irgendwie kieztypische Weise. Latte ohne Milch, sozusagen.
Dass ich dieses Getränk dennoch ohne zu Zögern und gar mit Behagen verkostete, mag tiefenpsychologisch gesehen eine Bi-Orientierung nahelegen, die mir bislang unbekannt war. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, zumal eine solche Disposition langweiligerweise voll im Trend liegt.
Just heute nämlich erfuhr ich aus der taz von gestern dank eines sachkundig erscheinenden Artikels, die Mehrzahl aller Geschlechtsreifen sei durchaus gewillt, sich im libidinösen Bedarfsfall geschlechtsunabhängig anderen Menschen zuzuwenden.
Vergleichbare Gefühle gegenüber einer Tasse Espresso sind allerdings weniger gut belegt.
25 Juni 2011
Fluchtreflexe, wie jedes Jahr
Eigentlich wollen wir St. Paulianer auch in den kommenden acht Tagen lediglich das tun, wonach wir das ganze Jahr über friedvoll streben: uns behaglich dem neuen Wohnkult auf dem Kiez hingeben. Doch daraus wird nichts. Definitiv nicht.
An diesem Wochenende nämlich rollt ein sonischer Tsunami namens Harley Days röchelnd und öttelnd über uns hinweg, und kommende Woche erfüllt die terroristische Hossa-Hamas ebenso zuverlässig diese Aufgabe, und zwar im Rahmen einer Veranstaltung namens Schlagermove.
Heute las ich übrigens, Osama bin Laden habe erwogen, seine Al-Qaida umzubenennen, wegen ihres „schlechten Images“. Den von mir erfundenen Namen Hossa-Hamas hätte ich ihm aber, falls er mich um Rat gefragt hätte, nicht guten Gewissens als Alternative angeraten; damit wäre das Al-Qaida-Image nämlich keinesfalls aufzupolieren gewesen.
Doch zurück zum Text: Immer, wenn ich zu Ms. Columbo wieder mal „Wie bitte?“ sagen oder die DVD zurückspulen muss, weil der entscheidende Moment, als der Name des Mörders fiel, von einem Zweitakter (= Harley) oder Zweizeller (= Schlagermoveteilnehmer) übertönt wurde, fantasiere ich kurzzeitig von einer festinstallierten Panzerfaust auf dem Balkongeländer. Dabei bin ich Kriegsdienstverweigerer.
Im Ibis-Hotel um die Ecke übrigens stiegen die Preise für ein Doppelzimmer im Verlauf der Woche um rund 50 Euro. Das spiegelt eine Nachfrageentwicklung wider, die sich reziprok proportional zu unseren Fluchtreflexen verhält.
Daraus, legte ich heute Ms. Columbo dar, sollten wir ein Geschäft machen. Das Vermieten unserer zentralst gelegenen Kiezwohnung an Höllenwochenenden müsste, wenn man die Ibis-Maßstäbe zugrundelegt, mehr bringen, als ein zweitägiges Exil an der Ostsee kosten dürfte.
Doch was würden wohl Harley-Hirnis und „Griechischer Wein“-Gröler mit unserer Bude anstellen …?
Na ja, wahrscheinlich gar nichts.
So lange sie dieses Blog nicht kennen.
24 Juni 2011
23 Juni 2011
Und am Abend Morning Glory
Weil St. Pauli ein Ort und vor allem ein Hort der Gegensätze ist, hat hier auch ein Luxushotel wie das in heimelig schummriger Backsteingrobheit gestaltete East seinen Platz – übrigens schräg gegenüber einer Absackerkneipe von geradezu stereotypischer Kiezhaftigkeit.
Ich bin immer wieder gern im East und hatte mich für die sogenannte Küchenparty angemeldet. Hierbei ist den Kunden nicht nur der Gastraum des Restaurants zugänglich, sondern auch das Allerheiligste, die Küche. Man steht also dort herum zwischen Woks und Welsfilets, zwischen Spülmaschinen und Gasflammen, und stört die gleichwohl gutmütig lächelnden Köche bei der Arbeit, was sie nicht davon abhält, uns unablässig Köstlichkeiten zuzuschanzen.
Der Küchenälteste ist Julius, ein jungenhaft wirkender Thailänder von Mitte 50 und handelsüblicher Schmächtig- und Drahtigkeit, dem man irgendwann vor Urzeiten wegen akuter Unaussprechlichkeit seines Originalnamens diesen klangvollen, wellenförmig verlaufenden Dreisilber verpasst hatte. Jetzt ist er sogar auf seiner Küchenschürze eingestickt.
Während Julius Entenstreifen mit einem Gemüse namens Morning Glory kombinierte („Wächst nur in Thailand zwischen 5 und 6 Uhr abends“, erklärte Julius, was immer das bedeuten mag), erzählte er Ms. Columbo und mir von seinen 30 Jahren Küchenhopping quer durch die Republik.
Die in diesem nomadenhaft angelegten Beruf erforderliche Mobilität hielt Julius von jeder festen Bindung fern. „Ich bin Single!“, strahlte er mit der Grundzufriedenheit dessen, der nichts vermisst, so lange er tagein, tagaus Woks mit Morning Glory füllen kann.
Meine Anmeldung bei der Küchenparty bedeutete übrigens Pi mal Daumen 4000 Kalorien Unterschied. Denn eigentlich hatte mich Chris, der Schlächter, im Fitnessstudio erwartet (- 2000); stattdessen empfingen mich freudig Julius & Co. (+ 2000). Das Sushi, welches sie dort kreieren, ist, nebenbei bemerkt, nicht irgendeins, sondern circa das beste der Welt, wenn nicht von ganz St. Pauli – so weit einer wie ich das beurteilen kann, der in Japan noch keins gegessen hat.
Dazu servierten deutsche Winzer Kreszenzen von famoser Passgenauigkeit. Einer hielt gar edelsüße Köstlichkeiten bereit, deren Dessertkompatibilität natürlich unverzüglich getestet werden musste. „Für jede verpasste Trockenbeerenauslese“, ermunterte ich Ms. Columbo in Anlehnung an Harry Rowohlt, der das Ganze allerdings auf Kalauer gemünzt hatte, „wirst du dich nämlich dereinst vor deinem Schöpfer verantworten müssen.“ Immerhin brachte ich sie so zum Nippen.
Übrigens bin ich noch immer nicht in der Lage, mithilfe handelsüblicher Essstäbchen eine befriedigende Relation aus Essmengenzufuhr und Zeitaufwand zu erzielen. Das Sushi führe ich mir daher gerne manuell oder per Besteck zu – bei Gelegenheit auch unter Zuhilfenahme der hier abgebildeten Konstruktion, welche das East dankenswerterweise alternativ parat hielt.
Sie besteht aus zwei erfreulich breiten und verehrungswürdig flachen Stöckchen, die zudem auch noch am Schaft unter Spannung zusammengesteckt sind, so dass man sie bedienen kann wie eine strunzdumme Zange.
Und ehe jetzt irgendjemand glaubt, auf eine bestimmte Idee kommen zu müssen – lassen Sie sie stecken: Ich nenne diese Dinger nämlich selbst so. Deppenstäbchen.
22 Juni 2011
Die turnusmäßige Pannenbeichte
Neulich erzählte mir eine Bekannte, sie müsse dringend ein neues Fahrrad anschaffen, da ihr altes nach jahrelanger Nichtnutzung quasi im Herumstehen verrottet sei und nichts daran mehr funktioniere, weder Gangschaltung noch Bremsen.
Interessant, antwortete ich. Die entscheidende Frage sei aber doch, fuhr ich süffisant fort, warum sie ihr Fahrrad überhaupt dank jahrelanger Nichtnutzung der Verrottung anheimgegeben habe.
Weil ihr Vater, antwortete sie mit leiser Stimme und musste schwer schlucken, jahrelang im Koma gelegen und sie in jeder freien Minute mit dem Auto zum Krankenhaus am Rande der Stadt habe fahren müssen.
Nun gut: Eine solche Falltür kann man praktisch nicht erkennen, bevor man mit Karacho hineintappt, daher mache ich mir letztlich keinen Vorwurf. Und doch war mir das Ganze recht peinlich.
Immerhin bin ich in Übung, denn solche Sachen passieren mir öfter. Die Geschichte mit der schwangeren Bekannten im Winterparka etwa, die ich fragte, wann es denn so weit sei, woraufhin mir der bisher irgendwie unsichtbar danebenstehende Kindsvater vorwurfsvoll das Baby vors Gesicht hielt, ist altgedienten Mitlesern (also seit 2006) längst bekannt, die wärme ich hier also nicht mehr auf.
Eine weitere blieb allerdings bislang noch unerzählt. Sie spielt in einem Restaurant, ich wollte Smalltalk machen und fragte eine mit am Tisch sitzende Frau, die Krücken dabei hatte: „Oh, haben Sie sich verletzt?“ „Nein“, sagte sie, „ich habe nur ein Bein.“
Wenn ich mich recht entsinne, versuchte ich erst gar nicht, die Situation zu retten, sondern guckte hoffentlich einfach nur mitfühlend melancholisch. Vielleicht aber auch wie ein Stück Weißbrot.
Das alles erzähle ich eigentlich gar nicht, um mich mal wieder per Blogbeichte von den wichtigsten Pannen der vergangenen Monate reinzuwaschen, sondern vor allem, um dieses ziemlich neue Foto einer formidablen Fahrradleiche loszuwerden, womit auch der Bogen zum Anfang dieses Eintrages mit beiläufiger Eleganz geschlagen wäre.
Der Kadaver hängt übrigens unterm U-Bahnhof Rödingsmarkt rum, falls ihn jemand weiter fleddern möchte.
Abonnieren
Posts (Atom)