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16 Dezember 2010
15 Dezember 2010
Erwischtwerden macht glücklich
Eine sogenannte CC-Karte berechtigt in Hamburg zur Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb des gewählten Bereichs, nur weder vor 9 noch zwischen 16 und 18 Uhr.
So eine CC-Karte habe ich im Abonnement. Allerdings bleibt sie meist ungenutzt, da ich praktisch das ganze Jahr über Fahrrad fahre. Nur vor Regen schrecke ich zurück. Und vor Glatteis.
Wenn ich also mal wetterbedingt ohne Fahrrad unterwegs bin und um 17 Uhr das Büro verlasse, müsste ich eigentlich Bahn oder Bus in Anspruch nehmen; allerdings befinde ich mich dann mitten in der Tabuzeit.
Der Kauf einer Kurzstreckenkarte für 1,30 enthöbe mich dieses Problems, doch davor scheue ich zurück, da mein Monatsabo bereits bezahlt ist, aber dank meiner Fahrradphilie sowieso viel zu selten genutzt wird. Ein Dilemma, geboren aus Relikten einer protestantisch-askestischen Erziehung und selbsterworbenem Geiz.
Neulich verfiel ich auf den Gedanken, die Stunde, die meine CC-Karte nach Feierabend noch ausgesetzt ist, bei ein, zwei Bier im Aurel abzubummeln, um so den Kauf der Kurzstreckenkarte zu vermeiden. Eine Kosten-Nutzen-Abwägung beider Varianten ergab allerdings eine insgesamt betrübliche Gesamtbilanz.
Wenn es richtig schüttet, kaufe ich also meist die elende Kurzstreckenkarte. Gestern nun war ich morgens mit dem Fahrrad ins Büro gefahren, musste nachmittags aber feststellen, dass Hamburg inzwischen zu einem komplett radeluntauglichen Wintermärchen verkommen war, mit Glatteis, verunglückten Autos, unästhetisch herumeiernden Taumlern und allem Drum und Dran.
Kein Fahrradwetter, oh nein! Also schob ich das Gefährt zum Bahnhof Altona, löste eine blödsinnige Kurzstreckenkarte und fuhr nach Hause. Am Ausgang des Bahnhofs Reeperbahn stoppte mich eine Phalanx blauuniformierter HVV-Männer.
Ich zeigte müde meine Kurzstreckenkarte vor und begehrte Durchlass, als einer von ihnen sagte: „Wir haben ein Problem: das Fahrrad.“
In Sekundenbruchteilen ersetzte mein Lymphsystem das kursierende Feierabenddopamin komplett durch eine volle Dröhnung Adrenalin – denn der Mann hatte verdammt recht: In der CC-Tabuzeit darf man auf gar keinen Fall Fahrräder mit in die Bahn nehmen.
Ausladende Drilliingskinderwagen mit 48 Reifen, Anhängerkupplung und aufgepflanztem Baukran: jederzeit erlaubt. Aber keine Fahrräder. Lebensgefahr durch Glatteis reicht aus blauuniformierter Sicht als Entschuldigung nicht aus, denn ich hätte das Rad ja auch in Altona anketten können.
Knurrend überreichte ich dem fein lächelnden Kontrolleur den verlangten 10-Euro-Schein. „Wenn es Sie tröstet“, sagte er, „das ist eine unserer niedrigsten Strafgebühren überhaupt.“
Komischerweise tat es das wirklich. Ich schlitterte nach Hause mit dem recht beschwingten Gefühl, ein Schnäppchen gemacht zu haben.
Versteh einer die Kapriolen der Körperchemie.
14 Dezember 2010
Fundstücke (119)
Ein sagenhafter Flohmarktfang vom Wochenende!
Ehe ich den Preis verrate: Hat irgendjemand eine Ahnung, was dieser Wein auf dem freien Markt wert sein könnte? Die Füllhöhe ist im Lauf des halben Jahrhunderts natürlich zurückgegangen, etwa bis auf Schulterhöhe.
Übrigens wird dieser Tropfen keinesfalls das kommende Wochenende überstehen. Entweder er wird verkostet oder entsorgt.
Und zwar mit Dr. K., das ist ja klar.
Ehe ich den Preis verrate: Hat irgendjemand eine Ahnung, was dieser Wein auf dem freien Markt wert sein könnte? Die Füllhöhe ist im Lauf des halben Jahrhunderts natürlich zurückgegangen, etwa bis auf Schulterhöhe.
Übrigens wird dieser Tropfen keinesfalls das kommende Wochenende überstehen. Entweder er wird verkostet oder entsorgt.
Und zwar mit Dr. K., das ist ja klar.
13 Dezember 2010
„Denkst du, ich bin Sozialamt?“
Auf dem Fischmarkt morgens um zehn. Das ist die Zeit, um tabula rasa zu machen.
Alles muss raus, definitiv, und wer jetzt noch hier herumläuft, weil er auf Ausverkaufspreise spekuliert, der ist garantiert Kiezianer.
Die Busladungen Touristen, die um fünf Uhr im Halbschlaf hierhergekarrt wurden, sind dagegen längst wieder zurück im Hotel. Sie haben den überteuerten Nippes und den Aal für 30 Euro das Kilo in ihren Zimmern abgeladen und sitzen jetzt zerschlagen im Frühstückssaal, mit den Augen auf Halbmast.
Hier auf dem Fischmarkt aber hat die Marktleitung inzwischen schon dreimal die Beschicker per Lautsprecherdurchsage zum sofortigen Schließen ihrer Stände aufgefordert. Allmählich wird es also ernst. Und das ist eine Situation wie gemalt für Schnäppchenjäger, die sich mit Wochenrationen an Obst und Gemüse eindecken wollen. Für Leute wie mich.
Händler (brüllt heiser): „KISTE SECHS MANGO NUR DREI E-URO! SECHS MANGO NUR DREI E-URO!“Die Diskussion erscheint mir irgendwie festgefahren. Deshalb verstaue ich verschreckt meine sechs Mangos und trolle mich Richtung Seilerstraße.
Matt: „In dieser Kiste liegen sieben, können wir …“
Händler (sofort aufgebracht): „DENKST DU, ICH BIN SOZIALAMT? DENKST DU?“
Matt: „Na ja, ich dachte, ich frage …“
Händler: „Du denkst, ich BIN Sozialamt!“
Matt: „Na gut, also … ich nehme die sechs für drei.“ (reicht 10-Euro-Schein rüber)
Händler (nimmt den Schein und pfeffert ihn zu Boden): „WAS REDEST DU FÜR SCHEISSE! WIR MÜSSE AUCH LEBE!“
Matt: „Das bezweifle ich keineswegs. Aber sieben statt sechs, jetzt kurz vor Ende …“
Händler (gibt mir mit verächtlicher Geste sieben Euro zurück): „So ein Scheiße redest du! Du denkst, ich bin SOZIALAMT!“
Falls du das hier also liest, lieber Fischmarkthändler: Nein, ich glaube nicht, dass du Sozialamt bist, echt nicht.
Nur für den Fall, dass es mir heute Morgen nicht gelungen ist, dies hinreichend zu verdeutlichen.
12 Dezember 2010
Die mutierte Ananas
Als es noch keine Codenummern für Waren gab, ist es bestimmt niemals vorgekommen, dass eine Ananas als MP3-Soundsystem auf dem Kassenbon landete.
Andererseits gab es in jenen seligen Zeiten auch noch gar keine MP3-Soundsysteme. Und wahrscheinlich nicht mal Ananas, sondern nur Melonen im Netz.
Na ja, jedenfalls bongte die Aldifrau heute statt der Ananasnummer versehentlich eine MP3-Soundsystem-Nummer ein. Der Preisunterschied lag bei knapp 79 Euro, was zuerst mich stutzig machte und dann auch die Aldifrau.
Nach einem hochkomplexen deduktiven Verfahren (Kassiererin verliest postenweise den Kassenbon, Ms. Columbo separiert die aufgerufenen Waren im Einkaufswagen) konnte die Südfrucht schließlich als Schuldige identifiziert werden. „Ist nur eine Ziffer Unterschied“, grinste die Aldifrau schief.
Bald darauf eilte eine Vorgesetzte mit Schlüssel herbei. „Die Ananas“, rief ihr die Kassiererin kreuzfidel zu, „ist ein MP3-Soundsystem!“ Ganz guter Witz eigentlich, im Rahmen eines Alditages. Frau Vorgesetzte lachte aber kein bisschen, sondern schaute aus der Wäsche, als sei so ein Tippfehler bei Aldi ein kapitaler Kündigungsgrund.
Also mal schauen, ob die Kassiererin nächste Woche überhaupt noch da ist. Wenn nicht, dann werde ich mich aus Protest an den Gitterwagen ketten, wo immer die MP3-Soundsysteme drin sind, und antikapitalistische Slogans brüllen. (Wenn diese Drohung der Kassiererin den Job nicht rettet, dann weiß ich auch nicht.)
Zurzeit habe ich ja Rücken, und deshalb ist mein temporär bester Freund ein extralanger Schuhlöffel mit Schlaufe oben dran. Das sage ich vor allem deshalb, um das heutige Foto zu rechtfertigen, aber auch aus tief empfundener Dankbarkeit gegenüber dem menschlichen Erfindungsgeist.
Ja, wir haben das Rad erfunden, die Raumfähre, den Kassenbon und den extralangen Schuhlöffel mit Schlaufe oben dran. Eigentlich sind wir bestens qualifiziert, die Welt zu retten, daran habe ich überhaupt keine Zweifel mehr, seit ich Rücken habe.
10 Dezember 2010
Fundstücke (118)
Die Lockmethoden auf St. Pauli sind von schillernder, durchaus auch widersprüchlicher Vielfalt, und es ist nicht auszuschließen, dass sich jemand ausgerechnet von den Verheißungen dieses Schildes zum Betreten der verantwortlichen Spelunke hinreißen lässt.
Wobei vorsorglich noch zu klären wäre, ob man selbst einen Tritt ausführen oder nur einen einstecken darf. Im Gegensatz zu den schlampigen Bedienungen ist diese Sache jedenfalls ein Alleinstellungsmerkmal auf St. Pauli (soweit ich informiert bin).
Entdeckt an einer Kneipenfassade in der Talstraße.
Der Kontaminator
Es verbessert die durch einen grippalen Infekt eh angespannte Gesamtlage keineswegs, sondern – im Gegenteil – macht sie vollends entwürdigend, wenn man dazu auch noch Rücken hat.
Wie ich.
Ein sogenannter Wärmegürtel linderte heute die schlimmsten Qualen, doch allein schon in den Räumen einer Apotheke die Beratung des einschlägig erfahrenen Franken in Anspruch nehmen zu müssen, vergällt rückblickend die ganze Woche.
„Ich weiß, wie das ist“, feixt der Franke Mitleid. Immerhin springt er nicht beiseite, als ich mich – beim Aufstehen wieder mal von Thors Blitz durchzuckt – entsetzt auf seiner Schulter abstützen muss. Braver Franke.
Neulich aber war er nicht brav. Während einer gemeinsamen mittäglichen Flanage durch den Pennymarkt in Ottensen hatte ich vier Tafeln „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ erstanden. Zurück im Büro stand bereits nach wenigen Minuten Kramer in der Tür.
Er habe aus gewöhnlich zuverlässiger Quelle gehört, hub er an, ich hätte fünf Tafeln „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ in egoistischer Verwahrung. „Franke, ich verfluche dich und deine Nachkommen bis in die siebte Generation!“, wollte ich gerade brüllen, doch da stand Kramer schon vorm Bisley und nestelte gierig wie ein Zombie an den Schubladen.
„Vier! Es waren nur vier!“, schrie ich, während ich verzweifelt mit ihm rang, doch er glaubte mir kein Wort und wollte, wie jeder stinknormale Mafiaboss, seinen Anteil. Wie es mir freilich im Verlauf unseres Kampfes um die territoriale Unversehrtheit meiner Bisleyschubladen gelang, ihn von der Schokolade abzulenken und seine Aufmerksamkeit stattdessen mit Mentholbonbons von Ricola zu fesseln, vermag ich nicht mehr stichhaltig zu rekonstruieren.
Tatsache jedenfalls ist: Beim ungelenken Herausschütteln aus der Dose fielen mir versehentlich gleich drei Bonbons in seine geöffnete Handfläche. Eine Katastrophe, denn damit waren sie alle schlagartig Kramer-kontaminiert, und wer diesen vierschrötigen Allesbegrabscher je in manueller Aktion erlebt hat, weiß, wovon ich spreche.
Er bestand darauf, die zwei Mentholbonbons zurück in die Dose zu befördern, ich verweigerte das mit brutalstmöglicher Verbissenheit. Aus Rache betatschte er daraufhin minutenlang wahllos alle erreichbaren Gegenstände im Zimmer, er kontaminierte buchstäblich handstreichartig Nachschlagewerke, Monitor, Tastatur, Terminkalender, Teppichboden (!) und die Oberfläche meines Schreibtisches.
Den Griff der Bürotür natürlich auch – wie sollte ich nun je wieder aus meinem Büro hinauskommen!? Und an allem war natürlich nur einer schuld: der Franke.
Ich sollte ihn mit einem Wärmegürtel knebeln.
Einen habe ich ja noch übrig.
Wie ich.
Ein sogenannter Wärmegürtel linderte heute die schlimmsten Qualen, doch allein schon in den Räumen einer Apotheke die Beratung des einschlägig erfahrenen Franken in Anspruch nehmen zu müssen, vergällt rückblickend die ganze Woche.
„Ich weiß, wie das ist“, feixt der Franke Mitleid. Immerhin springt er nicht beiseite, als ich mich – beim Aufstehen wieder mal von Thors Blitz durchzuckt – entsetzt auf seiner Schulter abstützen muss. Braver Franke.
Neulich aber war er nicht brav. Während einer gemeinsamen mittäglichen Flanage durch den Pennymarkt in Ottensen hatte ich vier Tafeln „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ erstanden. Zurück im Büro stand bereits nach wenigen Minuten Kramer in der Tür.
Er habe aus gewöhnlich zuverlässiger Quelle gehört, hub er an, ich hätte fünf Tafeln „Ritter Sport Dunkle Voll-Nuss“ in egoistischer Verwahrung. „Franke, ich verfluche dich und deine Nachkommen bis in die siebte Generation!“, wollte ich gerade brüllen, doch da stand Kramer schon vorm Bisley und nestelte gierig wie ein Zombie an den Schubladen.
„Vier! Es waren nur vier!“, schrie ich, während ich verzweifelt mit ihm rang, doch er glaubte mir kein Wort und wollte, wie jeder stinknormale Mafiaboss, seinen Anteil. Wie es mir freilich im Verlauf unseres Kampfes um die territoriale Unversehrtheit meiner Bisleyschubladen gelang, ihn von der Schokolade abzulenken und seine Aufmerksamkeit stattdessen mit Mentholbonbons von Ricola zu fesseln, vermag ich nicht mehr stichhaltig zu rekonstruieren.
Tatsache jedenfalls ist: Beim ungelenken Herausschütteln aus der Dose fielen mir versehentlich gleich drei Bonbons in seine geöffnete Handfläche. Eine Katastrophe, denn damit waren sie alle schlagartig Kramer-kontaminiert, und wer diesen vierschrötigen Allesbegrabscher je in manueller Aktion erlebt hat, weiß, wovon ich spreche.
Er bestand darauf, die zwei Mentholbonbons zurück in die Dose zu befördern, ich verweigerte das mit brutalstmöglicher Verbissenheit. Aus Rache betatschte er daraufhin minutenlang wahllos alle erreichbaren Gegenstände im Zimmer, er kontaminierte buchstäblich handstreichartig Nachschlagewerke, Monitor, Tastatur, Terminkalender, Teppichboden (!) und die Oberfläche meines Schreibtisches.
Den Griff der Bürotür natürlich auch – wie sollte ich nun je wieder aus meinem Büro hinauskommen!? Und an allem war natürlich nur einer schuld: der Franke.
Ich sollte ihn mit einem Wärmegürtel knebeln.
Einen habe ich ja noch übrig.
09 Dezember 2010
Fundstücke (117): … und cut!
Selbst wenn man dringend einen Relaunch seines Schädelbewuchses nötig hätte: Nach dem Anblick dieser hinreißend gestalteten schildgewordenen Verlockung flöhe man wahrscheinlich augenblicks zur Konkurrenz – oder verabschiedete sich sogar komplett von diesem überholten Konzept namens „Frisur“.
Gut, dass ich solche Sorgen nicht mehr habe. Wobei mir allerdings schon das fehlende Genitiv-s gereicht hätte, um beim „Hair Image“ auch auf anderen Gebieten heillos waltenden Dilettantismus zu vermuten.
Entdeckt in der Großen Bergstraße.
08 Dezember 2010
Der Tag, an dem John Lennon starb
Es war heute vor 30 Jahren. Wir saßen gerade am Mittagstisch, meine Eltern und ich. Das Radio lief, die Nachrichten begannen, und die erste Meldung war die von John Lennons Ermordung.
Mich traf das wie eine Dampframme. Lennon war immer dagewesen. Zwar hatte ich die Beatles durch die Gnade der späten Geburt erst nach ihrer Auflösung kennengelernt, doch seither gehörten sie unverrückbar zur Belegschaft meines persönlichen Olymps. Und Lennon war ich – im Gegensatz zu McCartney – auch nach dem Ende der Beatles treu geblieben.
Songs wie „Mother“ oder „God“ gehörten (und gehören) fest zum Kanon meiner Lieblingslieder, von Lennon lernte ich, was Entzugserscheinung auf Englisch heißt („Cold turkey“) und wie man mit pseudonaiven Slogans („Give peace a chance“) derart die Welt rocken kann, dass sich sogar der Geheimdienst für einen interessiert.
Sicher, die Welt erschien mir ziemlich trübe Ende der 70er, doch so lange Lennon da war, war sie zumindest ein kleines bisschen besser als völlig schlecht. Und plötzlich sagt irgend so ein dahergelaufener Nachrichtensprecher, John Lennon sei erschossen worden.
Meine Eltern aßen weiter, als sei nichts passiert. Für sie war ja auch nichts passiert. Der mit diesem „Yeah, yeah, yeah!“, das sie immer so verachtet hatten, war jetzt tot. Ihr ungerührtes Weiteressen war ein einziges „so what?“, während ich dasaß und mit einem Gefühlswirrwarr aus Schockstarre und der Empörung über fehlende elterliche Schockstarre zurechtkommen musste.
Die innerfamiliäre Entfremdung begann zwar nicht erst an jenem 8. Dezember 1980, doch im fernen New York City hatte sie ein Psychopath namens Mark Chapman gerade nicht unwesentlich beschleunigt.
16 Jahre später zog ich dorthin, wo John Lennon sich das Handwerkszeug zum Superstar geholt hatte: nach Hamburg St. Pauli. Heute, an seinem 30. Todestag, würde ich liebend gerne sagen können, dass es da einen Zusammenhang gibt.
Und deswegen sage ich es einfach mal.
Nachtrag vom 8. 12. 2010, 19:27 Uhr: Man hat mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Szene am Küchentisch nur am 9. Dezember 1980 stattgefunden haben kann, und das stimmt. Die Tat geschah am 8. Dezember abends nach New Yorker Zeit, da war bei uns schon Mitternacht vorbei.
07 Dezember 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (38): Unser Treppenhaus
06 Dezember 2010
Ein narrensicheres Geschäftsmodell
„Wir sind gleich für Sie da“, flötet mir die lenorgespülte Frauenstimme der Alice-Hotline ins Ohr, und ich übe mich mit der mir eigenen buddhaesken Gelassenheit in Geduld.
Wie oft wiederholt sich diese Vertröstungsflöterei eigentlich im Lauf von drei Minuten? Dummerweise habe ich nicht mitgezählt, aber jetzt würde es mich interessieren.
Plötzlich etwas Überraschendes: ein Freizeichen! Wie aus dem Nichts ist eine Frau Orff oder so dran, die mir augenblicklich erklärt, wegen Wartungsarbeiten könne sie gerade meine Daten nicht aufrufen, ich möge mich doch zu einem späteren Zeitpunkt wieder melden – und klick! legt die Orff auf.
Vielleicht handelte es nicht mal um eine reale Frau, sondern um eine weitere Stimme vom Band, doch das ist nicht weiter wichtig. Denn das dahintersteckende Geschäftsmodell ist einfach elektrisierend. Hier das Szenario.
Ich könnte – die Basisfinanzierung vorausgesetzt – Alice mitsamt Kundenstamm aufkaufen und ein automatisiertes Callcenter ohne Beschäftigte aufbauen. Computer mit lenorgespülten Vertröstungsflöten hielten jeden Anrufer drei Minuten in der Warteschleife (= 42 Cent Gesamtertrag pro Anruf), ehe sie ihn bitten, später noch einmal anzurufen – und auflegen.
Eine todsichere Sache. Wenn ich unzufrieden wäre mit der Höhe der monatlichen Erlöse, verlängerte ich die Warteschleife einfach auf fünf Minuten (= 70 Cent). Da ich bei diesem genialen Modell nur Server-, aber keinerlei Personalkosten hätte, dürfte innerhalb weniger Monate ein hübsches Sümmchen rumkommen.
Sobald der unweigerliche Flamewar gegen diese Methode in den einschlägigen Foren allzu sehr hochkochte, würde ich Alice schnell weiterverkaufen, zum Beispiel an Vodafone.
Zurück zur Realität, in der jemand anderes dieses Geschäftsmodell bereits praktiziert, nämlich Alice. Vorher hatte ich versucht, mein Problem per Mail zu lösen. Es dauerte nur eine Woche bis zur Antwort. Sie lautete: „Besuchen Sie unseren FAQ-Bereich im Internet.“
Na ja, es gibt sowieso schönere Dinge im Leben als den „Dialog“ mit Telefonunternehmen. Zum Beispiel St. Pauli im Winter. Im Vordergrund: der mitleiderregendste Schneemann der Welt.
04 Dezember 2010
Fundstücke (116): Lose Zusammengekehrtes
1. So einen Chart wie heute Nachmittag sieht man selten. Und zudem höchst ungern.
2. Laut Spiegel online hat die Nasa in den unendlichen Weiten des Weltraums einen Landeplatz entdeckt. Wenn das doch Cpt. Kirk noch erlebt hätte!
3. Kaum wird’s Advent, orientieren sich all meine Blogstatistiken an der Zahl 666. Ist vielleicht jemand hier, der einen ordentlichen Webzorzismus durchführen kann?
4. Vielleicht macht Herr Glaser der Frau Kopetz gerade ein Kompliment, vielleicht ist er aber auch nur hämisch. Die Dialektik der Gefällt-mir-Kultur. Die Schizophrenie der Likelakaien.
5. Eine Pflicht-URL für Ihre Lesezeichenliste: http://213.251.145.96/.
03 Dezember 2010
Auf der Reeperbahn nachts im Schneeweiß
Unterm knusprigen Knirschen des Pulverschnees verschwindet der ganze Siff von St. Pauli.
Die unbeschreiblichen Flecken auf dem Pflaster der Reeperbahn, das Urinodeur, welches die Sockel der Häuser unablässig ausdünsten, die eingetrockneten Pfützen von letzter Samstagnacht: alles versteckt unterm großen Weiß. Und sogar die Tabledanceschuppen ragen harmlos und gemütlich aus dem Schnee.
Ein Koberer, an dem ich heute so rasch wie elegant vorbeischlittern wollte, trat mit den jahreszeitlich kompatiblen Worten „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ und wildem Raufen seiner Wollmütze an mich heran, was mich zum Lachen brachte.
„Danke, ich habe einen Termin“, sagte ich vollkommen wahrheitsgemäß, noch ehe er seine zweifellos originelle Einleitung mit haltlosen Versprechungen aufhübschen konnte. Inzwischen lief er allerdings hoffnungsfroh neben mir her. „Du bist nur schüchtern!“, theoretisierte er nassforsch. Mittlerweile waren wir aber beim Paradise angelangt, und das ist Konkurrenzrevier – ich war ihn augenblicklich los.
Im Beatlemania, meinem Ziel, spielte heute Abend die Bochumer Nachwuchsband Frida Gold, die bestimmt mal ganz groß wird in den Charts, so wie Silbermond zum Beispiel, zumal sie demnächst im Vorprogramm von Kylie Minogue gebucht ist.
Songzeilen wie „Komm zu mir nach Haus/dort sieht es gut aus“ sind zwar noch nicht der Weisheit letzter Schluss, dafür aber hundertprozentig der Hintern der Sängerin, den sie zu unser aller Freude in eine krampfaderngefährdende Latexhose gezwängt hatte.
Auf dem Heimweg knirschte der Pulverschnee noch knuspriger als vorhin, und all die Koberer, die sich auf dem Hinweg noch auf mich gestürzt hatten wie die Tauben auf dampfende Dönerreste, ließen mich jetzt in Ruhe.
Vielleicht haben diese Menschen doch so etwas wie ein Gedächtnis.
02 Dezember 2010
Kein Kind dank Kegel
Am Bahnhof Jungfernstieg versucht man übermütige Jugendliche mit einer besonderen Maßnahme von Rutschpartien zwischen den Rolltreppen abzuhalten.
Keine Ahnung, wie die in regelmäßigem Abstand drapierten Kegel (siehe Bildmitte) in der Fachsprache heißen, aber sollten sie noch keinen speziellen Namen haben, plädiere ich für Kastrationsdildo.
Besonders geeignet scheinen sie nämlich für Männer zu sein, die sich eh für eine Sterilisierung entschieden haben – und das Geld für den Chirurgen sparen wollen.
Wie die Dinger hingegen auf Frauen wirken, ist mir ordnungsgemäß völlig schleierhaft.
01 Dezember 2010
Das entscheidende Steak
Im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt sind auf St. Pauli viele Leute nicht gut bei Kasse. Und im Supermarkt wird das manchmal evident.
Neulich bei Edeka steht einer in der Kassenschlange vor mir, der von dem Rechnungsbetrag, den die Kassiererin ihm für seine Einkäufe nennt, nicht sehr erbaut ist. 21,55 Euro? So viel hat er einfach nicht dabei. Höchstens so um die 15.
Der Mann ist ein kleiner südländischer Typ mit Baskenmütze, zwischen Unterlippe und Kinnspitze trägt er einen vertikalen Bartstreifen. Ansonsten guckt er stoisch. In aller Supermarktöffentlichkeit der temporären Zahlungsunfähigkeit überführt zu werden, scheint ihm nicht peinlich zu sein, eher zum innerlichen Seufzen.
Jedenfalls rührt sich nichts in seinem Gesicht. Stattdessen mustert er kurz die Einkäufe und entscheidet sich für einen Fünfkilosack Kartoffeln. Den gibt er zurück. Die Kassiererin storniert den Sack und schüttelt den Kopf.
Der Mann entscheidet sich jetzt für Tomatenketchup, allerdings verfehlt er erneut die Zielvorgabe, die Kassiererin lächelt bedauernd. Nun erwischt es eine Riesenflasche Limonade, doch es ist immer noch zu wenig.
Sei froh, dass du die ungesunde Zuckerplörre los bist, höre ich mich denken. Der Unmut in der Kassenschlange hält sich derweil in Grenzen, obwohl Mr. Vertikalbart den Betrieb auf unzulässige Weise aufhält. Denn mal ehrlich: Mit ein wenig angewandtem Kopfrechnen während des Einkaufs wäre die missliche Lage, welche durch unsere unfreiwillige Zeugenschaft keineswegs verbessert wird, leicht zu vermeiden gewesen.
Doch stillschweigend scheinen alle anstehenden St. Paulianer Verständnis zu hegen für seine Situation. Zu wenig Geld: Das kennen hier viele. Man guckt nur sparsam, man grinst nicht mal, und keiner spricht.
Nach einer kleinen Beratungspause, nach einigem inneren Hin und Her hat sich der Mann nun für ein eingeschweißtes Schweinesteak mit schneeweißen Fettadern entschieden, dessen vermeintliches Schicksal es noch vor wenigen Minuten war, einen Teller mit Kartoffeln und Tomatenketchup zu teilen und mit ungesunder Zuckerplörre hinuntergespült zu werden.
Und endlich klappt es. Er ist unter 15 Euro Gesamtrechnung, sein Budget vermag den Rest der Einkäufe abzudecken. Hätte ich genauer hingeschaut, würde ich jetzt die absoluten Prioritäten der Baskenmütze kennen. Ich wüsste, was wirklich unverzichtbar für ihn ist, wenn es schon das Steak mit den schneeweißen Fettstreifen nicht war.
So aber werden wir es nie erfahren.
30 November 2010
Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli Hamburg (37): Alles Gold, was glänzt
Die Tapete im renovierten Passage-Kino in der Mönckebergstraße ist derart hinreißend, dass ich sie kurzerhand zum formatfüllenden Bildschirmhintergrund meines MacBook Pro gemacht habe.
Welchen Film die Passage zeigt, ist in Anbetracht des Wandschmucks eher zweitrangig – obwohl die meisten der 187 Minuten von „Carlos, der Schakal“ durchaus ihre Reize haben.
28 November 2010
Wieder mal ein Beitrag „gegen Tiere“
Der alte leerstehende Kaufhauskomplex namens Frappant in Altona soll abgerissen werden, weil das Möbelhaus Ikea an gleicher Stelle ein Filialgebäude errichten will. Vorher, heißt es in der jüngsten Mopo am Sonntag, müssten allerdings tierschutzgesetzgemäß die dort nistenden „Taubenbabys“ umgesiedelt werden.
Wie bitte …? Selbst wenn „Taubenbabys“ (vulgo: Küken) wirklich existierten, wäre das eine markerschütternde Nachricht, denn aus diesen kleinen Federknäueln entstünden bei entsprechender Fütterung unweigerlich ausgewachsene und fatalerweise flugfähige Vögel, und diese Biester schlügen irgendwann mit tödlicher Sicherheit hier auf unserem Balkon auf.
Doch es gibt ja zum Glück in Wahrheit gar keine Taubenküken, oder hat irgendjemand von Ihnen schon mal welche gesehen? Na bitte. Ms. Columbo vertritt übrigens die plausible Theorie, Tauben durchliefen alternativ zum Kükenstadium Terrorcamps im Nahen und Fernen Osten und würden nach der Abschlussprüfung direkt nach Hamburg importiert, um die geschilderten Anschläge auf unseren Balkon durchzuführen (leider sind es keine Selbstmordattentate).
Ich plädiere übrigens schwerstens und ganz generell dafür, Tauben mit aller gebotenen Härte zu Zugvögeln umzuschulen – und den afrikanischen Ländern, in denen sie überwintern, üppige Prämien dafür zu zahlen, dass sie ihnen im Frühling keine Ausreisevisa mehr ausstellen.
Die angebliche Umsiedlung von „Taubenbabys“ in Altona unter Federführung von Ikea ist jedenfalls schon jetzt der schlechteste Witz der gesamten Adventszeit, dabei hat die gerade erst begonnen.
Neben Tauben gibt es übrigens auch Pferde. Sogar alte – und die verfügen erstaunlicherweise über ein Diskussionsforum im Internet. Von dieser Skurrilität hätte ich niemals erfahren, wenn nicht zurzeit eine erkleckliche Zahl Blogbesucher von ebendort auf die Rückseite der Reeperbahn umgeleitet würde.
Kennt irgendwer den Grund? Ich möchte mich ungern selbst dort anmelden, zumal ich nicht mal einen alten Maulesel besitze, geschweige denn einen im Rentenalter.
27 November 2010
Fundstücke (115)
Man könnte dem Verfasser dieses Infozettels natürlich einfach einen Fehlgriff in der Vokabelwahl unterstellen und schmunzelnd zur Tagesordnung übergehen, doch der Zettel hängt nicht in irgendeinem Eiscafé, sondern ausgerechnet in: Poppenbüttel …
Den Rest kann man sich ja wohl denken, nicht wahr.
26 November 2010
„Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“
Hamburg ächzt unter der Last der Schulden, und was tut die Regierung? Rauscht mit dem Mähdrescher durch das eh nicht mehr reich bestellte Feld der hanseatischen Kultur. Was nicht komplett plattgemacht wird, kommt zumindest in den Genuss einer Amputation.
Wie die Hamburger Bücherhallen: weniger Zuschüsse, dafür mehr Personalabbau. Fünf davon sollen sogar ganz dichtgemacht werden.
Das rührt mein Herz, als Bürger dieser Stadt bin ich gefragt, unbürokratische Hilfe ist erforderlich. Und so nutze ich einen Urlaubstag, um zu Hause die Regalwand nach entbehrlicher Lektüre zu durchforsten. Eine großzügige Sachspende soll die Not der hanseatischen Bücherhallen lindern, auf dass ein Teil der wegfallenden Zuschüsse kompensiert werde.
Am Ende der Aussortieraktion beherbergt der größte auffindbare Rollkoffer eine erstaunliche Zahl von Werken u. a. der Weltliteratur. Ich kann ihn kaum mehr anheben; eine Umhängetasche entlastet den Trumm wenigstens soweit, dass ich ihn die Treppen hinabwuchten kann. Danach wird er durch St. Pauli gerollt. Auch kein Spaß, aber machbar.
Als ich nach 20-minütigem Gerumpel leicht erschöpft in der Bücherhalle vorstellig werde, ist meine Vorfreude groß auf die strahlenden Augen, die sie dort gleich machen werden. Hoffentlich fallen mir die Bücherhallenbediensteten nicht vor Freude weinend um den Hals; mit so was kann ich nicht gut umgehen, das weiß ich.
Doch ich nehme mir fest vor, mit souveräner Verlegenheit zu reagieren auf jene umflorte Rührung, die nur Existenzgefährdete aufzubringen wissen, denen in Gefahr und großer Not ein tapferer Altruist zu Hilfe eilt.
Eine ältere Dame tritt zögernd hinterm Tresen hervor und mustert grußlos mein Gepäck. „Guten Tag, ich möchte Ihnen Bücher spenden“, eröffne ich ihr strahlend unter Vermeidung jedes übertriebenen Pathos, während ich den gewaltigen Rollkoffer ächzend auf den Rücken lege.
„Das sind bästimmt viellä“, prognostiziert die Dame. Trotz ihres osteuropäischen Akzents vermag sie eine Skepsis spürbar werden zu lassen, die ich ehrlich gesagt zuallerletzt erwartet hätte. Wo sind die Tränen der Rührung, wo die vorauseilende Dankbarkeit?
Ich öffne den Koffer. Sie schaut, als wollte ich ihr Hedgefondsanteile andrehen. „Da müssen wirrr errst einmal schauän“, murrt sie und beginnt die Bücher in Augenschein zu nehmen. Manche stapelt sie auf den Tresen, andere legt sie zurück in den Koffer.
„Wollen Sie jetzt etwa die Bücher einzeln durchschauen?“, ärgere ich mich. Oh ja, das will sie. „Ich möchte sie aber nicht mehr mitnehmen“, sage ich. „Ich bin schließlich extra hergekommen, um sie zu spenden.“ Die Überbetonung des Verbs ist mein letzter Versuch, doch noch jene Dankbarkeit hervorzurufen, die ich eigentlich als freiwillige (und einzige) Gegenleistung erwartet hatte.
„Dann soll ich brrringen sie zu Altpapier? Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“ Ganz klar: Diese Frau verfügt nicht nur über einen osteuropäischen Akzent, sie ist Stalins kleine Schwester.
„Wie bitte? Da ist kein Müll dabei!“, zische ich mit schneidender Ruhe, unter der hoffentlich das Glosen des Empörungsvulkans hervorscheint. Längst fühle ich mich gekränkt und entwürdigt sowie tief verletzt in meiner Altruistenehre.
Stalin ist davon völlig unbeeindruckt und weiter am Aussortieren. Mao nimmt sie, Lenin verschmäht sie. Mordillo: weg. Kierkegaards „Gott nötig haben ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, gebunden, Furche-Verlag, Berlin, 1939: in ihren Augen Müll. Auch Zola wandert zurück in den Rollkoffer.
Diese postsowjetische Banausin ist offensichtlich noch immer geprägt von der totalitären Willkürherrschaft ihrer Jugendzeit – und hat die ihrer Ansicht nach besten Seiten dieser Methode in die Welt der Bücherhallen hinübergerettet.
Jetzt will sie sogar Mario Puzos „Omerta“ nicht. Meine Güte, Puzo hat „Der Pate“ geschrieben! Alle zehn Finger würde sich die büchervernarrte Kiezjugend lecken nach so einem Fachmann für das auch hier gut organisierte Verbrechen.
„Sie wollen selbst den Puzo nicht?“, frage ich wie erstarrt den Bücherhallendrachen. „Na gutt, könne Sie lägge auf Värschänkdisch“, vernichtet sie mich final. Wie in Trance lege ich den Puzo auf den Värschänkdisch.
Dieser Tag hat eine ganz andere Wendung genommen, als ich erwartet hatte. Die Hamburger Bücherhallen wollen meine Bücher nicht mal geschenkt. Zumindest nicht alle. Ehe ich an Leib und Seele beschädigt wieder hinausrolle mit dem abgelehnten Bücherrest, brumme ich ihr noch ein „Mich sehen Sie nicht wieder“ zu, was die Gulagwärterin mit einem unbeeindruckten „Gutt, gutt!“ abtut.
Ich schmuggle noch heimlich ein Exemplar von Mark Perrymans „1. FC Philosophie. Flach denken – hoch gewinnen“ auf den Värschänkdisch, aus Rache. Denn mein Altruismus ist längst erloschen und hat anderen, dunkleren Gefühlen Platz gemacht.
Auf dem Heimweg drängt es mich aus purer Frustkompensation ins Caffè Latte; einen Trostbrownie gibt’s da für 1,90. Die Hamburger Bücherhallen werden also ausgehungert, sorgen aber im Gegenzug dafür, dass ich dick werde.
Wie nennt man noch mal das Gegenteil einer Win-win-Situation?
25 November 2010
„Halt’s Maul, du Nazi!“
Manchmal will ich gar nicht wissen, welche Geschichten sich hinter den Gesprächsfetzen verbergen, die ich so mitkriege.
Zum Beispiel neulich die im Fitnessclub. Ich kleidete mich wieder einmal zufällig in Sicht- und Hörweite des Hulk um. Diesmal telefonierte er, und zwar ähnlich brachial, wie Inkasso-Henry gewöhnlich trainiert.
„Du, Torben, grüß dich, ne“, rief der Hulk mit seiner dünnen Stimme, die der bergigen Anmutung seiner Physis Hohn spricht. „Du, der Neger hat sich nicht gemeldet, ne. Jetzt haben wir keine Einnahmen, ne.“
Im Nacken hat der Hulk übrigens ein riesiges eisernes Kreuz tätowiert, das ist mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen. Der Hulk arbeitet bestimmt auf St. Pauli, da würde ich meinen letzten Dollhouse-Dollar drauf verwetten.
Apropos St. Pauli: An einer Fußgängerampel nahe der Kneipe Blauer Peter (Foto) bekam ich unlängst ebenfalls anderthalb Gesprächsfetzen mit, deren Hintergrund mich allerdings schon sehr interessiert hätte.
Gegenüber stand eine Gruppe von Leuten. Als die Ampel grün wurde, löste sich ein Mann aus der Gruppe, der auf eine Ron-Wood-artige Weise gesichtsverwittert war. Seine Augen glühten wie zwei Eierbriketts, und er brüllte, ohne sich umzudrehen: „Halt’s Maul, du Nazi!“
Als er die Mitte der Fahrbahn erreicht hat, brüllte er es noch mal auf die gleiche starre, glühende Weise, und in diesem Augenblick lief ein junger Typ von etwa 20 Jahren aus der Gruppe gegenüber hinter Ron Wood her, gab das Vorhaben aber schon nach wenigen Metern wieder auf.
Sein so schnell wieder erschlaffter Verfolgungsimpuls konnte verschiedene Ursachen gehabt haben. Entweder er war Nazi, mochte aber nicht so genannt werden, oder er war keiner – und wollte erst recht nicht so genannt werden.
Jedenfalls kam es zu keiner weiteren Konfrontation, nur ein zweifach gebrülltes empörtes „Halt’s Maul, du Nazi!“ echote noch eine Weile durch die Simon-von-Utrecht-Straße, zumindest vor meinem inneren Ohr.
Der Hulk jedenfalls hätte sich das alles nicht bieten lassen. Von Ron Wood schon mal gar nicht.
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