Heute flohen wir vorm einsetzenden Regen auf einen Tee bzw. Espresso in ein Kneipencafé in der Markstraße.
Hinterm Holztresen empfing uns eine desinteressierte Schnepfe mit der typischen Schnute einer Soziologiestudentin, die diesen Scheißbedienungsjob nun mal tun MUSS, weil Papa nicht genug Kohle springen lässt für bedingungsloses Rumstudieren.
Ms. Columbo nahm die den Raum füllende Muffelaura indes mit erheblich mehr Gleichmut hin, als es eigentlich logisch gewesen wäre. Denn so was hat auch Vorteile. Statt sofort von einer überaufmerksamen Bedienung bereits beim Ablegen der triefenden Mäntel mit einem Bestellaufnahmewunsch behelligt zu werden, durften wir in aller Ruhe ablegen, die Getränkekarte in Augenschein nehmen, den ranzigen Muff der Inneneinrichtung beschnuppern und die – kaum dass wir Platz genommen hatten – plötzlich durchs Fenster hereinflutenden Sonnenstrahlen genießen.
Als die Tresentrulla dann schließlich unwillig herbeigeschlurft kam und mit ins Nirgendwo schweifendem Blick unsere Tee-, Espresso- und Kuchenwünsche entgegennahm, waren die Mäntel schon wieder trocken.
Vorgestern hatten wir bereits ein Erlebnis, welches durch das gemeinsame Band des Desinteresses auf wundersame Weise verknpüft ist mit der Marktstraßenschnepfe. Wir waren am Fuß der Wexstraße auf ein Brot- und Brötchendepot gestoßen, welches für auf Straßen herumliegende Lebensmittel eine erstaunliche Güte und Unversehrtheit aufwies. Die Körnerlaibe hatten sogar noch unbeschädigte Banderolen, wie auf dem Beweisfoto oben gut zu erkennen ist.
Warum sich aber nicht schon längst Abertausende von Tauben heiß und innig für diese unverhoffte Ladung Manna interessierten, kann mit einem unterfinanzierten Soziologiestudium wohl kaum hinreichend erklärt werden.
Jahrzehntelang währt nun schon meine Karriere als Stadionbesucher, doch am Samstag erlebte ich ein Debüt. Beim Spiel des HSV gegen Hertha BSC nämlich geschah Folgendes:
Der Stadionsprecher nannte mit mühsam gespielter Euphorie den jeweiligen Vornamen der aus- und eingewechselten HSV-Spieler – und die ungefähr 40.000 Anhänger auf den Rängen blieben die übliche Nachnamenergänzung einfach schuldig. Sie schwiegen, konsterniert und gelähmt von diesem neuerlichen 0:3.
Allmählich muss sich die Stadt wohl wirklich an den Gedanken gewöhnen, erstmals seit 1962 ohne Erstligisten auskommen zu müssen. „Es sei denn, St. Pauli und der HSV spielen in der Relegation gegeneinander“, malt Hertha-Fan A. ein für Hamburg schier apokalyptisches Szenario an die Wand.
Dann, liebe Leute, wäre die ganze Stadt ein Gefahrengebiet, nicht nur der Kiez. Und wollen wir das? Freilich wollen wir das.
Mensch, hier passiert ja gar nichts mehr, denken Sie sich sicherlich. Und das haben Sie richtig beobachtet. Nach den Krawallen zwischen den Jahren ist nämlich Ruhe eingekehrt auf dem Kiez.
Praktisch alle Evakuierten der Esso-Häuser sollen inzwischen in vergleichbar billigen Wohnungen untergekommen sein – ein Erfolg für die Protestler, wenn ich das richtig sehe, und damit eigentlich ein Grund zum Feiern. Man hört nur nix davon.
Insofern illustriert das Foto gut die derzeitige Lage auf St. Pauli: Irgendwie ist die Luft raus, und deshalb gibt es erste gute Gründe für ein schiefes Grinsen nach der Krise.
Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass immer, wenn man den Boden rund um die Reeperbahn fotografiert, unweigerlich Kippen mit aufs Bild kommen?
Bestimmt noch nie.
Manchmal, Kiez, bist du echt soooo berechenbar.
Gefunden in der Seilerstraße.
Der ebenso hochsympathische wie -fürsorgliche Hamburger Autor Richard Kähler machte mich per Mail auf ein sehr schönes US-amerikanisches Pareidolieblog aufmerksam, welches geneigte Interessenten hier ansteuern können.
Die geradezu weltmeisterlichen Beispiele ebenda bewogen mich, diese traditionsreiche Serie auch hier mal wieder fortzusetzen – mit einem Kinderfahrradsitz, welcher die vorherrschende Stimmungslage seines Passagiers aufs Deutlichste zu resümieren scheint.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
Spontan dachte ich ja beim Anblick dieses auf dem Schlachthofflohmarkt entdeckten Schildes, bei „Polover“ handele es sich um einen mir bisher unbekannten und besonders zärtlichen Kosenamen für Schwule.
Auch wenn ich schließlich begriff, wie profan der wahre Sachverhalt war, so plädiere ich hiermit doch dafür, den „Polover“ von nun an in den Kanon der Schwulenkosenamen aufzunehmen.
Duden, übernehmen Sie!
Was auf den Straßen von St. Pauli so herumliegt, vermag Wesen und Wirken des Stadtteils gemeinhin ganz gut zu charakterisieren. Und ich meine nicht nur die Hundekacke.
Unlängst stieß ich in der Seilerstraße binnen kurzem auf zwei sehr unterschiedliche Gegenstände, welche durchaus dazu geeignet sind, die Extrempole des kompletten Kiezspektrums abzudecken.
Zum einen handelte es sich um eine Reclamausgabe von Schillers Stück „Wilhelm Tell“, zum andern um die Verpackung eines sogenannten „Super Dick Sleeve“. Der Inhalt war bereits entfernt und womöglich gerade in Gebrauch.
Was man aber auch findet auf den Straßen von St. Pauli: Daneben liegen immer ein Kronenkorken und ein Zigarettenstummel.
Das ist ein Naturgesetz.
Kommentare in der Mopo sind oftmals recht lesenswert. Heute empört sich ein der Rechtschreibung nicht hunderprozentig sicherer Kommentator namens herring über die Kissenschlacht von gestern Abend auf dem Spielbudenplatz und fragt recht suggestiv: „und wer macht die sauerrei wieder weg?“
Nun, dafür, lieber herring, haben wir hier in Hamburg eine recht nützliche Einrichtung. Ich weiß nicht, ob so etwas auch in anderen Kommunen schon bekannt ist; hier jedenfalls heißt sie ziemlich schnörkellos „Stadtreinigung“.
Dabei handelt es sich um lustig gekleidete Herren mit Spezialfahrzeugen, die überall herumwieseln und mit großer Akkuratesse einsammeln, was allem Anschein nach keiner mehr haben will. Zum Beispiel Federn aus Kissenschlachten.
Das Schöne: Vor allem der Kiez stellt auf geradezu rührende Weise die Arbeitsplätze dieser Menschen sicher. Derart zuverlässig nämlich sorgt er, der Kiez, für die stete Zufuhr wegräumenswerten Nachschubs, dass die lustig gekleideten Herren gleich mehrfach täglich durch unsere Straßen wuseln dürfen.
Eine Kissenschlacht ist letztlich also nur eine empathische Investition in die Zukunft der Hamburger Stadtreinigung, und entsprechend gutgelaunt präsentierte sich heute Morgen das abgebildete Team.
Es wurde gejuchzt und gescherzt, zwei schippten, zwei schauten zu, und immer wieder umtanzten kleine aufgewirbelte Federflockenwölkchen das gesellige Quartett.
Friede, Freude, Federkissen: Könnt es doch immer so sein.
Wahrlich: Es wäre ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem Gebaren, welches zuletzt hier in unserer Straße an den Tag gelegt wurde, wenn die Unzufriedenen hinfort nur noch mit Klobürsten und Federkissen statt mit Wackersteinen würfen. Also Gaga statt Gewalt.
Das wäre genau jene Art relativer Deeskalation, welche den Hardlinern auf der anderen Seite nicht schmecken dürfte, uns Anwohnern aber umso mehr. Genau dort – auf der Ebene des Satirischen – sollte dieser eskalierte Konflikt ausgetragen werden. Von daher plädiere auch ich hiermit von Herzen für den erweiterten Klobürsten- und Federkisseneinsatz im Bereich zwischen Schanze und Reeperbahn, der vom Gefahrengebiet inzwischen wieder gesundgeschrumpft ist zur Region mit zwei übriggebliebenen Gefahreninseln.
Der FC St. Pauli hat heute übrigens ebenfalls seine Meinung zu den Vorfällen auf dem Kiez, bei denen Vereinsparolen skandiert wurden, bekanntgegeben:
„Die Eskalation der letzten Wochen, gewalttätige Auseinandersetzungen, viele Verletzte, massive Sachbeschädigungen, die Ausrufung eines Gefahrengebiets – all das verhindert die vernünftige Diskussion von politischen Themen, die für den Stadtteil von großer Bedeutung sind.
Das Präsidium des FC St. Pauli spricht sich klar gegen Gewalt in jeglicher Form aus und appelliert an alle beteiligten Parteien, Deeskalation zu betreiben, Gewalt zu unterlassen und zu versuchen, wieder in den Dialog zu treten. Zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Stadtteils.“
Zurück zu den Klobürsten: Auf ganz St. Pauli soll dieses inzwischen so bedeutsame Utensil inzwischen ausverkauft sein. Somit steigt unweigerlich die Gefahr, dass man alsbald verstärkt auf Ersatz zurückgreift – nämlich gebrauchte. Und das wäre das Gegenteil von Deeskalation.
Also bitte nicht.
PS: Das Motiv oben kursiert zurzeit im Internet. Die Urheberschaft ist leider nicht festzustellen. Eine Quellenangabe reiche ich selbstverständlich gerne nach – oder entferne das Bild auch, wenn die Abbildung hier im Blog dem Schöpfer oder der Schöpferin nicht genehm sein sollte.
Die brennenden Barrikaden neulich in der Seilerstraße waren doch zu etwas gut, und zwar zu einer belastbaren, wenngleich höchst flüchtigen Pareidolie.
Selbst meinem geübten Blick entging sie indes zunächst, doch dann manifestierte sie sich plötzlich umso heftiger.
Oder erkennt irgendjemand in diesem Feuer etwa nicht das Profil eines bärtigen älteren Herrn mit hoher Stirn und tiefliegenden Augen, der viel sanftmütiger lächelt, als es der Anlass eigentlich nahelegt?
Wusst ich’s doch.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
Wenn ich sonntagsmorgens zum Brötchenholen auf dem Kiez unterwegs bin, dann muss mir niemand erzählen, dass ich mich in einem Gefahrengebiet befinde. Denn was da an Überresten der letzten Nacht vorüberschlurft, sieht aus, als wäre es beim „Walking Dead“-Statistencasting nur knapp gescheitert. Und deshalb sauer.
Doch auch offiziell, generell und auf unbestimmte Zeit ist St. Pauli seit dem Wochenende „Gefahrengebiet“, eine Reaktion auf die Überfälle auf Polizeistationen in der Schanze und auf dem Kiez (zumindest letzterer ist inzwischen umstritten).
Dieser Status ermöglicht der Polizei, ohne konkreten Anlass nach Ausweisdokumenten zu fragen oder Platzverweise zu erteilen. Wohin sie Ms. Columbo und mich allerdings im Bedarfsfall verweisen wollte, bleibt vorerst ungeklärt.
Allmählich jedenfalls avanciert ganz Hamburg zum Gefahrengebiet, zumindest für den Bürgermeister Olaf Scholz, wie Spiegel online treffend feststellt. Falls was passiert (gestern war ich z. B. versehentlich ohne Ausweis unterwegs, das war knapp!), halte ich Sie auf dem Laufenden.
Bis dahin bilden Sie bitte eine Luftbrücke.
Trotz aller Bemühungen, an denen ich Sie in der Vergangenheit regen Anteil nehmen ließ, verfügen wir immer noch über Restbestände an Büchern. Manchmal verschlechtert sich die Lage sogar – vor allem, wenn ich Weihnachten bei meinem Eltern verbringe und den Fehler begehe, auf den Speicher hinaufzusteigen.
Dort lagern weiterhin mehrere Zentner Druckwerke aus der ersten Hälfte meines Lebens, doch meinen Eltern wäre es lieber, wenn dieser Zustand sich allmählich und endgültig änderte. Also kehrten wir vom Weihnachtsbesuch mit einer Tasche Bücher zurück, deren Onlineauktionseignung ich in Hamburg zu überprüfen gedachte.
Darunter befand sich auch ein altes Buch mit hessischen Volksliedern, voll mit erbaulichen Moralballaden, die am Ende meist betonen, wie hilfreich unbedingtes Gottvertrauen sich gemeinhin aufs weitere Leben auswirkt. Das Buch ist eine Erstauflage von 1894, gut erhalten, mit immer noch stabil verklebten Buchdeckeln, ohne lose Seiten und bei Amazon mit beeindruckenden 40 Euro im Angebot.
Flugs stellte ich mein Exemplar zum gleichen Preis wie das billigste Konkurrenzangebot dazu und harrte der Dinge. Fast ebenso flugs wurde ich um einen Cent unterboten. Ich zog umstandslos gleich. Der Konkurrent ging erneut einen Cent drunter, ich blieb milde gestimmt und zog wieder gleich; schließlich hatte ich kein Interesse an einem ruinösen Dumpingwettbewerb.
So ging das eine ganze Weile hin und her, bis mir dämmerte, dass die jeweils prompte Reaktion meines Duellanten nur botgesteuert möglich sein konnte. Anscheinend hatte er ein hirnrissiges Tool im Einsatz, das automatisch das niedrigste Angebot um einen Cent unterbot – ohne zu bedenken, was unvermeidlicherweise geschähe, wenn sich auch irgendein anderer jenes Instruments bediente: Der Preis sänke – sofern kein heimlich festgelegter Mindestbetrag die fatale Entwicklung stoppte – binnen kurzem gen null.
Also beschloss ich den dumpfen Bot zu überrumpeln und senkte den Preis meiner erbaulichen hessischen Volkslieder schlagartig auf zwei Cent. Diese Aktion war freilich nicht ohne Risiko, denn jeder volkskundlich Interessierte musste sich augenblicklich alle zehn Finger nach diesem Schnäppchen lecken und zuschlagen. Inklusive Versandkosten erwürbe er die Rarität für 3,02 Euro, und das ist nun wirklich zu wenig für den Lobpreis unbedingten Gottvertrauens aus dem späten 19. Jahrhundert.
Doch es klappte: Der rumpeldumme Bietautomat des Konkurrenten brauchte nur fünf Minuten, um sein Angebot auf einen Cent runterzuprügeln. Natürlich kaufte ich sein Buch sofort.
Seither dämmert mein Exemplar friedvoll und unbehelligt einem interessierten Käufer entgegen. Die 39 Euro, die er dafür zahlen müsste, wären für Genreliebhaber immer noch ein echtes Schnäppchen.
Übrigens nahm ich an, dass der von mir und seinem eigenen Bot ausgetrickste Konkurrent mich anmailen und die Unauffindbarkeit seines Exemplars heucheln würde, um ein Storno zu erwirken. Doch nichts da: Heute hat er’s schon verschickt. Angeblich.
Bald werde ich, der eigentlich weltweit größte Bücherabschaffer von ganz St. Pauli, also doppelt so viele Exemplare dieses historischen Meisterstücks zu Hause verwahren dürfen. Und wahrscheinlich werde ich keins der beiden je wieder los.
Ich meine: Wer interessiert sich schon für hessische Volkslieder von 1894? Also ich nicht.
Ach ja, hier der alljährliche, mit einem tiefen fatalistischen Seufzen vorgebrachte Rat:
Bitte sprengen Sie sich in den kommenden Stunden nichts weg, verzichten Sie auf Selbstentbeinung, lassen Sie nirgendwo Amputate herumliegen.
Desweiteren verweise ich auf
die Einträge aus sämtlichen Jahren seit 2006, die ebenfalls alle nichts
genützt haben.
Foto: anschlaege.de
Traurig, aber wahr: Das ist der Bauch von Boris Becker, und zwar vor der Weihnachtsvöllerei.
Gute Nacht.
PS: Eine ganze Pareidoliegalerie gibt es bei der Pareidolie-Tante.
Bitte stellen Sie sich mal vor, jede politische Gruppierung, die es nicht geschafft hat, eine Mehrheit für ihre Position zu organisieren, würde sich so verhalten wie der schwarze Block am vergangenen Wochenende auf dem Kiez (s. hier).
Dann hätten wir plötzlich überall im Land steinewerfende, zündelnde, krakeelende Grüppchen – Autonome, Nazis, Veganer, Pädophile, Kurden, Windkraftgegner, Flughafenausbaukritisierer, Jungliberale.
Alle zögen sie marodierend durch die Städte, nur weil ihre Position in der Gesellschaft, in der sie leben, aus irgendwelchen Gründen keine Mehrheit gefunden hat.
Wer jedenfalls – wie der schwarze Block am vergangenen Wochenende auf dem Kiez – denkt, dieses Verhalten sei auch in einer parlamentarischen Demokratie eine legitime Methode, seine Position zu vertreten, der muss sie logischerweise auch anderen Minderheiten ohne Mehrheit zugestehen.
Zum Beispiel Nazis.
Oder fällt irgendwem ein nachvollziehbares Argument ein, mit dem der schwarze Block dem braunen Mob die Legitimation zum Abfackeln von Asylbewerberheimen absprechen könnte?
Entweder man akzeptiert ein durch die demokratische Mehrheitsgesellschaft legitimiertes Gewaltmonopol der Exekutive oder nicht. Wenn nicht, dann muss man auch so tolerant sein zu sagen: Ja, jeder darf schlagen und morden, der das für richtig hält.
Manche Leute glauben ja, die Randalierer vom Wochenende seien größtenteils Leute, die einem verqueren Spieltrieb folgen. Das ist eine wohlwollende Interpretation. Ich glaube allerdings, es ist schlimmer. Natürlich gibt es auch die Fraktion derjenigen, die Party machen wollen, und sei es mit Pflastersteinen. Aber dabei sind wahrscheinlich auch solche, die ernsthaft davon überzeugt sind, es sei ein legitimes Mittel der Politik, Postfilialen, Polizeiwachen, Autos oder Wohnhäuser zu zerstören.
Diese Leute müssen ernstlich glauben, dass all dies – sofern sie damit Erfolg hätten – zu einem Staat führen würde, in dem es sich mehr zu leben lohnt als in dem, den wir zurzeit haben.
Klar, es ist unschön, sich einem Mehrheitsentscheid beugen zu müssen, der einige Jahre lang Leute wie Pofalla oder Nahles an die Macht spült. Aber wollte man sie wirklich austauschen gegen jene, die nachts durch die Straßen streunen und kiloschwere Wackersteine auf Gebäude und Menschen werfen?
Was wäre dann zu erwarten, wenn sie das Sagen, wenn sie das Gewaltmonopol inne hätten? Wie würden sie das Land regieren? Was wäre das für ein Staat? Und wie würde er mit jenen Minderheiten umgehen, die es nicht geschafft haben, eine Mehrheit für ihre Position zu organisieren, und deshalb marodierend durch die Städte zögen?
Und eins noch, bevor hier wieder das große Wehklagen von den Wasserwerfern etc. losbricht: Wenn die Polizei Gesetze bricht, dann gehört sie angezeigt. Wenn ein Gericht diese Rechtsbrüche nicht ahndet, dann geht man in Berufung. Und da wir nicht im Iran, in Nordkorea oder Russland leben, gibt es die Chance, dass Verbrecher in Uniform verknackt werden. Ja, das ist schon passiert.
Diesem Schweinesystem traue ich im Bedarfsfall nämlich sogar Gerechtigkeit zu. Den Steinewerfern vom vergangenen Wochenende eher weniger.
PS: Eine recht fruchtbare Diskussion zum Thema gibt es auch bei Don Alphonso.
PPS vom 31. Dezember 2013: Ein Spiegel-online-Artikel, der die Konfliktlinien sachlich beschreibt und einstuft: http://bit.ly/1kYsgxt
Gestern Abend, als die ersten schwarzvermummten Stoßtrupps unter unserem Balkon durchmarodierten, mitten auf der Straße irgendwelche Haufen aufschichteten und sie anzündeten, da war noch nirgendwo Polizei zu sehen.
Auch nicht, als die liebenswerten Freunde der Roten Flora wahllos Mülltonnen auf die Straße zogen und sie dort umwarfen. Nicht, als sie die Scheiben der Postfiliale zerdepperten. Und auch nicht, als sie unser Nachbarhaus, welches das bittere Schicksal der späten Geburt schultern muss (Gentrifzierung! Hohe Miete!), mit Gegenständen bewarfen.
Währenddessen: nirgends Polizei.
Keinerlei Staatsmacht.
Niemand, der die Marodeure provoziert hätte.
Nur St. Paulianer, die sich selbst auf ihren Balkonen nicht mehr sicher fühlen konnten.
PS: Und hier noch ein paar Argumente, wieso man auch Nazis und anderen Minderheiten Gewaltausübung zugestehen müsste.
PPS vom 31. Dezember 2013: Ein Spiegel-online-Artikel, der die Konfliktlinien sachlich beschreibt und einstuft: http://bit.ly/1kYsgxt
Eigentlich wollte ich bei den Hamburger Wasserwerken am Ballindamm nur eine Probenflasche zum Testen unserer Bleiwerte abholen, aber um die Ecke liegt nun mal eine Saturn-Filiale.
Nach Hause kam ich demzufolge nicht nur mit der Probenflasche von Hamburg Wasser, sondern auch mit einem 47PFL7008K/12. Das ist ein 3D-Fernseher.
Was hier beim Darniederschreiben so unverhofft und plötzlich klingt, war allerdings das spontane grande Finale eines über Monate gereiften Entscheidungsprozesses. Der alte Plasmatrumm zu Hause tat’s schon länger nicht mehr richtig; außerdem verantwortete er gefühlte acht Prozent des jährlichen deutschen Energieverbrauchs. Anders gesagt: Eine Heizung brauchten wir im Wohnzimmer eigentlich nicht mehr, wenn der Plasma rötelte.
Jetzt stand ich jedenfalls unversehens mit einem 47PFL7008K/12 vorm Lager von Saturn und wartete auf das Taxi, das ihn und mich nach St. Pauli karren sollte. Ihm entstieg – nach 20 statt der telefonisch angekündigten sieben Minuten – ein grauhaariger Pole mit Schnauzer und dem kaiserlichen Namen Cezary, der mich nach dem Hineinwuchten des 47PFL7008K/12 umstandslos über die Dummheit der Leute im Advent aufklärte.
„Läutä sind dumm“, kommentierte er mit großer Ernsthaftigkeit das Wuseln und Treiben da draußen, „jäddes Jahr Gleiche! Jäddes Jahr!“ Stumm nickte ich, während ich verstohlen das Taxameter im Auge behielt. „Helfen Sie mir für einen Fünfer extra den Fernseher in den zweiten Stock tragen?“, fragte ich ihn vorm Haus.
Ich hatte mit einem dank zusätzlicher Verdienstaussichten freudigen Aufblitzen in Cezarys Augen gerechnet, doch sie wurden skeptisch und schmal. „Nur mit Pausän“, grummelte er. „Klar“, versicherte ich. „Aber Sie müssen auch nicht.“ „Doch, ist ägal“, winkte er unwirsch ab und schälte sich aus dem Wagen.
So richtig gut beeinander wirkte er in der Tat nicht mehr. Der sitzende Beruf und generell zu wenig Bewegung, deren fatalen Effekt auf seinen Energiehaushalt er augenscheinlich mit zu vielen Pirogi zu potenzieren versucht hatte – all das führte dazu, dass Cezary über Gebühr ächzte beim Weg nach oben.
Und als auf der vorletzten Stufe der 47PFL7008K/12 auch noch durch den Karton brach, weil das verfluchte Saturn ihn auf der Unterseite nur liederlichst verklebt hatte, und wir das Gerät im letzten Moment mit vereinten Kräften vorm Absturz durchs Treppenhaus bewahren mussten, da spürte ich, wie Cezary nicht nur mich, sondern auch den Fünfer verfluchte, den er so leichtfertig angenommen hatte.
Mein Dank, der ihm treppab folgte, war deshalb weniger überschwänglich als schamgeschwängert, zumal ich sein Keuchen und Röcheln noch eine ganze Weile verebbend mitanhören musste. Nicht, dass ich ungewollt noch zu Cezarys Brutus werde.
Der 47PFL7008K/12 jedenfalls hat alles unbeschadet überstanden. Ich sollte einen Teil der Anschaffungskosten auf Hamburg Wasser abwälzen. Mal schauen, wie wohlwollend sie dieser Idee gegenüberstehen, wenn ich morgen die Probe abgebe. Scherz!
Des Franken neue Freundin zieht es unverständlicherweise zu ihm in den Norden. Also brauchte er Leute, die beim Umzug helfen.
Kramer und ich waren leider nicht schnell genug auf den Bäumen, also wurden wir vom Fleck weg dienstverpflichtet. Um die trübe Lage zu beschönigen, versprach uns der Franke das Blaue vom Himmel herunter, nämlich:
1. selbstgemachte Frikadellen à la Schömel, die in Form und Größe in die Hand passen wie die Brüste einer Frau
2. trockenes Wetter
3. eine pipisimple Einlagerung des Krimskrams per Aufzug
Statt aufs Blaue vom Himmel lief es am Ende aber – wie natürlich a priori abzusehen – volle Lotte aufs Graue vom Toten Meer hinaus:
1. Chili con Carne
2. Nieselnässe
3. vielfaches Besteigen eines vierstöckigen Treppenhauses
4. Muskelkater am Tag danach
Immerhin mundete das Chili con Carne vorzüglich, und an sedierendem Abschlussbier ließ es der Franke ethnisch bedingt ebenfalls nicht mangeln. Auch der Zwischengang vorm Umzug (Weißwürste mit Brezen und Händlmaiers süßem Senf) schien zunächst zu seinen Gunsten zu sprechen, doch zu diesem Zeitpunkt wussten wir auch noch nichts von den vier Stockwerken.
Beim nächsten Mal hab ich a priori Rücken, aber so was von.
PS: Das abgebildete Sofa dient nur der beispielhaften Illustration. Jenes, das wir transportieren mussten, war in erheblich desolaterem Zustand – ein Anblick, den ich Ihnen allen nicht zumuten wollte.
Käpt’n Angelo Basilikos sitzt bei null Grad Außentemperatur Beim Grünen Jäger und versucht seine Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen. Das klappt natürlich nicht, und deshalb will er auch gleich den Betrieb einstellen.
Vorher aber gestattet der altehrwürdige Grieche mir noch mitzufilmen (s. unten), wie er den Pavarottis gibt. „Meine Stimme hat neun Oktaven!“, behauptet er kühn und nicht ohne Stolz. Nun, das wären ungefähr dreimal so viele wie Mariah Carey, aber Käpt’n Angelo hat ja auch ein paar Jährchen länger geübt.
Seit 40 Jahren lebt er auf dem Kiez, „habe Kinder gemacht auch“; ein alter Seebär, den es in seiner Jugend nach San Francisco verschlagen hatte, weshalb er nach seiner Rückkehr nach Athen, wo er mit einer Sängerin und Orchester in Musikclubs auftrat, als „der Amerikaner“ galt.
Zuletzt aber lief es echt schlecht. „Ich habe ein Jahr an Krückenstöcke gelebt“, erzählt Käpt’n Angelo zwischen zwei Songs in seinem wunderbar griechisch gefärbten Baritondeutsch, das ihm jederzeit einen Radiojob verschaffen dürfte, wenn es ihm doch mal zu kalt wird für Straßenmusik.
Schuld an des Käpt’ns Krückenstöckenjahr war ein Unfall, der ihn alles kostete: seine Frau und die beiden Kneipen, die er auf dem Kiez mal führte, wie er erzählt. Eigentlich ein super Grund, um sich willenlos der Altersdepression hinzugeben, doch an so was hat ein Käpt’n Angelo keinerlei Interesse.
Stattdessen blitzen seine 71-jährigen Kapitänsäuglein vor Freude, wenn er über sein bewegtes Leben erzählt, bei null Grad Außentemperatur die Finger an den eisigen Stahlsaiten seiner Bouzouki warmzuspielen versucht und vergnügt den Pavarottis gibt.
Wegen solcher Typen liebe ich St. Pauli. Sie wiegen tausend Eckenpinkler auf.
Na gut: 500.
Nach fast 3.500 Seemeilen – das ist ein Sechstel des Erdumfangs – sind wir zurück von der Schiffsreise, und Hamburg feiert dieses Ereignis standesgemäß: mit Orkan und Sturmflut. Wir fühlen uns geschmeichelt – aber auch ein wenig fröstelig.
Vergangene Woche noch schwitzten wir bei 29 Grad am Rand der Negevwüste, jetzt glaubt der Kiez uns mit Nieselregen nahe null bezirzen zu können. Aber das funktioniert nicht, Kiez! Immerhin bleiben uns schöne Erinnerungen, die uns niemand mehr nehmen kann. Zum Beispiel unser Vierertisch beim Abendessen.
Unsere kleine Runde nämlich wurde von einem wunderbaren älteren Ehepaar komplettiert, das ausgerechnet woher kam? Aus FRANKEN! Die beiden aus einem Dörfchen nahe Schweinfurt unterhielten uns knapp zwei Wochen lang mit Anekdoten und Tragödien, mit Wärme, Witz und Bratenrezepten; es war das reinste Vergnügen. Und beim Abschied fanden die beiden uns ebenfalls „Subber! Gans subber!“
In Izmir erstaunte uns die geringe Kopftuchquote, die uns niedriger schien als in Hamburg; für Erdogan gibt es also noch viel zu tun. Ein Händler in der Altstadt rief uns zu: „Wir habbe eine Lade mit Originalkopie! Lederjacke, alles!“ So wird das schon rein urheberrechtlich schwer mit dem EU-Beitritt, liebe Izmirer, Ankararer etc.
In Athen hatte es am Tag vor unserem Besuch geschüttet wie verrückt, Land und Luft waren blitzeblankgespült, und somit erblickten wir von der Akropolis aus etwas, was man sonst von dort aus niemals sieht: Athen!
In Rom war es so unglaublich kalt (16 Grad!), dass die Gladiatorendarsteller vorm Kolosseum Socken trugen. „Wenigstens schwarze“, versuchte Ms. Columbo das empörend Unhistorische dieser Situation zu beschönigen. In einer Kaffeebar dort tranken wir den teuersten Espresso unseres Lebens (3,30 Euro für eine extrakleine Pfütze) und versuchten uns zu rächen, indem wir keinen Cent Trinkgeld gaben, aber es wollte sich keinerlei Genugtuung einstellen.
In Jerusalem focht ich einen zähen Kampf mit einem Busfahrer aus. Er fuhr die Klimaanlage trotz meiner Interventionen immer wieder auf eisige 18 Grad runter, was eine deutlich zu große Differenz zu den tropischen Außentemperaturen darstellte, als dass ich mir keine Klimaanlagenerkältung hätte zuziehen können. Und so kam es, wie es kommen musste: Erst musste ich mich dem Busfahrer beugen und bereits am nächsten Tag dem Schnupfen.
Tja, und in Tel Aviv schwebte ein Baum in der Luft.
Oh Mann, wer hätte gedacht, dass ich mitten im Garten Gethsemane, wo Judas Jesus einst den römischen Häschern auslieferte, an die Reeperbahn erinnert werde …?!
In Gethsemane jedenfalls ist noch mehr verboten als auf dem Kiez, sogar Essen, Rauchen, Gassigehen, Sommerkleidung und Fahrradfahren. Dafür stuft man – im Gegensatz zu St. Pauli – Messer, Baseballschläger und Pfefferspray offensichtlich als unbedenklich ein.
Israel ist sowieso reich an Kuriosiäten, vor allem kulinarisch. An Meeresgetier zum Beispiel wird nur das verzehrt, was Schuppen hat. Ein Riesenglücksfall für Krabben, Hummer, Tintenfische oder Aale. An Landtieren hingegen kommt dem Israeli nur das auf den Tisch, was wiederkäut. Alle anderen haben Schwein gehabt.
Niemals dürfen zudem Milch- und Fleischprodukte zusammen gegessen werden. Ein Käse-Schinken-Sandwich? Der Horror! In israelischen McDonald’s-Filialen gibt es selbstverständlich keine Cheeseburger. Somit darf auch die vielköpfige Zielgruppe der Orthodoxen dort essen – weil sie sicher sein kann, kein Besteck vorgesetzt zu bekommen, das irgendwann mal mit Milch UND Fleisch in Berührung gekommen ist. Das wäre dann nämlich nicht mehr koscher, und eine Nutzung würde ihr ewiges Seelenheil gefährden.
Diese Verzehrvorschriften sind durchaus nicht nur unter gläubigen Juden verbreitet, sondern gleichsam zur allgemeinen Esskultur geworden.
Wenn sich also am Ende aller Tage herausstellen sollte, dass dummerweise doch der Gott der Juden der einzig wahre war, dann sind alle am Arsch, die mal einen Toast Hawaii gegessen haben. Willkommen im Club, meine Lieben.
Und damit zurück ins gute, alte Europa.
An der Klagemauer werden die Betenden nach Geschlechtern getrennt. Männer links, Frauen rechts – inoffizielle Begründung: damit die Schläfenlockenträger beim Gebet nicht hormonell herausgefordert werden.
So etwas entlarvt auf hübsche Weise, für wie wenig kraftspendend die Gläubigen letztlich ihren Schöpfer halten, der ja auch ihre Hormone schuf. Überhaupt wirkt Jerusalem, obwohl es bis obenhin vollgestopft ist mit monotheistischem Religionsoverkill, wie eine gewaltige Säkularisierungsmaschine.
Denn der Kitsch allenthalben ist zum Weglaufen. An der Stelle in der Grabeskirche, wo Jesus gekreuzigt worden sein soll, glimmt und glitzert es wie am Wochenende in Las Vegas. „Sieht aus wie ein Lampengeschäft“, kommentiert Ms. Columbo das große Baumeln von der Decke.
Alle halten ihre Handys und Tablets hoch, um zu fotografieren, manche kriechen untern Steintisch, der vorm Kreuz steht, um knieend zu beten. Andere breiten ihre PVC-Rosenkränze und strassbesetzten Plastikkreuze auf der Platte aus, wo ihr Heiland angeblich vor der Beerdigung präpariert wurde, und küssen und streicheln den Stein.
Wer nicht spätestens hier begreift, dass Religionen nur mehr oder weniger geschickt konzipierte Produkte verkaufen, während sie parallel Ängste schüren, vor denen ebenjene Produkte die zitternden Kunden dann wieder erlösen sollen, der begreift es nimmermehr.
In einem christlichen Nippesladen in Bethlehem, den wir vorher besucht hatten, verkaufen sie ein sehr europäisch wirkendes Jesusbaby aus Holz oder Plastik, das anscheinend bereits betend dem Mutterleib entschlüpft ist. Kitsch as Kitsch can.
Dennoch duschen die jahrtausendealten Jerusalemer Mauern und Steine uns mit einem wahren Aurawasserfall. Schließlich hätte sich ein Großteil der orientalischen und abendländischen Politik, Geschichte und Kultur ohne diese Stadt und die Region komplett anders entwickelt.
Was hier gedacht und getan wurde, beeinflusst weltweit Milliarden Menschen in ihrem Denken und Tun. Abermillionen wurden im Lauf von rund fünf Jahrtausenden gefoltert, getötet, verachtet, geschnitten und vertrieben, nur weil hier ein paar Mythen mit Moral ausgetüftelt und von zwölf Göttern elf gestrichen wurden. Eine unfassbar langlebige, uns dadurch durchweg alle betreffende und beeinflussende Wirkungsgeschichte – und genau deshalb so faszinierend.
All das steckt in den Steinen von Jerusalem. Am Sockel der Klagemauer ist das sogar sichtbar. Bis in ungefähr 1,80 Meter Höhe hat die Patina von zweitausend Jahren ihn dunkel eingefärbt. Es ist das hinterlassene Körperfett von fast hundert Generationen von Menschen, die mit ihren Köpfen und Händen die Mauer berührten.
Auch ich fasse sie an – und erwäge sogar, irgendetwas (genauer gesagt: meine Visitenkarte, weil ich sonst überhaupt nichts Zettelähnliches dabeihabe) in eine der Ritzen zu stopfen. Zugleich bekämpfe ich mühsam den Impuls, zum Ausgleich eine der zahlreichen bereits dort steckenden Botschaften an mich zu nehmen.
Gut, dass ich widerstand, denn es hätte sich sowieso nicht gelohnt. Zum einen könnte ich die Sprache nicht lesen, zum andern enthalten diese Zettel mit hoher Wahrscheinlichkeit nur lauter kleine lächerliche egoistische Bitten an eine Schimäre. Die der Männer links, jene der Frauen rechts.
In der Via Dolorosa, dem Kreuzweg, gibt es übrigens seit mindestens zweitausend Jahren kein offenes WLAN. Nicht mal ein verschlüsseltes.
Bereits hunderte Kilometer vor der Ankunft im Hafen von Ashdod (Foto) kommen israelische Grenzer an Bord und nehmen jeden einzelnen Passagier unter die Lupe, selbst wenn er gar nicht vorhat, in Ashdod an Land zu gehen.
Über 3000 Leute müssen also nach und nach zur Gesichtskontrolle. Ms. Columbo und ich haben Massel und werden unbeanstandet durchgewinkt. Puh.
Die Paranoia der Israelis ist nachvollziehbar. Als einzigem Land der Welt wird ihnen unverhohlen mit Auslöschung gedroht (Iran), sie werden von Nachbarn mit Raketen beschossen (Hamas et. al.) und seit Jahrhunderten von Antisemiten aus aller Welt für sämtliche globalen Probleme verantwortlich gemacht. Da kann man (= weiblich, blond, Mitte 20) schon mal Matt Wagners Reisepass aufklappen und ihm tief in die Augen schauen.
Immerhin lässt Israel uns ohne Visum ins Land – aber nur, weil wir nach 1928 geboren sind. Wer bei Kriegsende mindestens 17 war, muss mit einem intensiveren Vergangenheitscheck rechnen, ehe er willkommen geheißen wird. Ein Verfahren, das allerdings über kurz oder lang auch den letzten Rest Relevanz verlieren wird. Die Methode Demjanjuk.
Übrigens drückt Israel uns dankenswerterweise keinen Einreisestempel in den Reisepass, sondern händigt uns eine lose Besuchsgenehmigung aus. Nur so können wir künftig, wenn wir möchten, auch gewisse andere Länder der Region besuchen, die uns mit einem jüdischen Stempel im Pass den Einlass strikt verwehren würden.
Diese israelische Kulanz finde ich rührend, denn eigentlich müsste es ihnen ja egal sein, ob wir irgendwann mal Ärger mit Meschuggen bekommen oder nicht. So aber könnten wir uns auch künftig nach Herzenslust in Teheran oder Damaskus vom Staatsfernsehen mit antisemitischer Propaganda berieseln lassen.
Ja, so eine Demokratie hat schon was für sich. Trotz zweifellos rumpeldummer Siedlungspolitik.
Schon zum zweiten Mal mussten wir den Kurs wegen eines angeblichen „medizinischen Notfalls“ ändern, neulich vor Sizilien und gestern vor der Insel Chios. Jedesmal kam ein kleines Boot herangeeilt und transportierte jemand weg.
In der Hauptstadt der nicht gerade weltallweit berühmten Insel Chios leben 23 000 Menschen, und gerade diese Tatsache weckt Skepsis. „Wahrscheinlich“, raunte Ms. Columbo düster, „handelt es sich gar nicht um medizinische Not-, sondern um Todesfälle.“
In der Tat klingt diese Theorie beunruhigend plausibel. Denn ist es wirklich denkbar, dass eine Insel im ägäischen Meer über eine bessere medizinische Ausrüstung verfügt als ein kleinstadtgroßes Kreuzfahrtschiff? Ist es nicht normalerweise genau umgekehrt, nämlich dass medizinische Notfälle von dünn besiedelten Inseln weg- statt hingebracht werden?
Wie auch immer: Momentan sind zwei Passagiere weniger an Bord als nach der Einschiffung in Savona, und ich wünsche ihnen alles Gute. Andere Mitfahrer tragen ebenfalls ihr Päckchen bzw. unerfüllte Sehnsüchte mit sich herum. Eine ältere Dame offenbarte im Gespräch ihren Lebenstraum: einmal, nur ein einziges Mal Sascha Hehn treffen. Sascha Hehn.
Ob Butler Alan wohl beliebigen Personen links und rechts Watschen verpassen würde, sofern man ihn darum bäte? Es ist bestimmt einen Versuch wert. Schließlich fiebert er Aufträgen entgegen.
Er ist unser Butler.
Griechenland, ouha … Werden wir Blitzableiter spielen müssen für die hiesige Wut auf Merkel?
Ein Taxifahrer soll heute Mitreisenden befohlen haben, nur englisch zu sprechen, weil er ihnen – obzwar des Deutschen mächtig – ansonsten nicht antworten würde. Wir hingegen kamen sowohl in Olympia als auch in Athen (Foto: Akropolis) ungeschoren davon.
Man bediente uns sogar in Bars, der frischgepresste Orangensaft war nicht vergiftet, und in den griechischen Kaffee hatte kein Koch reingepinkelt. Zumindet schmeckte man es nicht raus.
Die gereizte Stimmung im Land spiegelt sich eher in den T-Shirt-Aufdrucken in der Altstadt Plaka wider. „I don’t need sex“, stand auf einem, „the governement fucks me everyday.“ Und damit war mal NICHT Merkel gemeint.
Ein anderes T-Shirt schlug sogar versöhnliche Töne an – und eine Kommunikationsmethode vor, die auch wir als Deutsche sofort unterschreiben können: „OUZO. Connecting people.“
Ab morgen heißt der Ouzo dann Raki: Auf nach Izmir!