27 April 2006

Der Franke ist überall

Neulich bei der Aldi-Flanage faselte der Franke plötzlich etwas von einem „Karaoke-Sender“, und ich dachte sofort an eine Radiostation mit Instrumentalversionen gängiger Hits. Eine Horrorvorstellung, offen gesagt. Ich konnte mir auch nicht recht vorstellen, was der eigentlich für seinen zwar hoffnungslos verengten, doch akzeptablen Musikgeschmack (Giant Sand Calexico, Prince, und das war's) bekannte Franke an einem solchen Nullniveausender wohl finden könnte.

Wie immer aber war es optisch ganz anders, als es sich akustisch dargestellt hatte. Denn als ich mich umdrehte, stand der Mann vor einem großräumig verpackten HiFi-Gerät, welches in Großbuchstaben seine Funktionalität auf folgenden Punkt brachte: „Karaoke-Center“.

Warum falle ich immer wieder rein auf seine milieubedingten Zungenunfälle? Eigentlich müsste ich doch allmählich über ein eingebautes Übersetzungsprogramm verfügen, welches die verhunzten Silben, die tagtäglich aus des Franken Mund taumeln wie ein Schwarm betrunkener Dörrobstmotten, in verständliches Deutsch übersetzen. Das ist aber nicht der Fall.

Auch in meiner Abwesenheit hören die Unfälle nicht auf (warum auch?), wie mir der lebende Konsonantenverweichlicher unlängst berichtete. Diesmal stieß er allerdings an seine sprachlichen Grenzen, obwohl er sich sogar tapfer darum bemüht hatte, Weltläufigkeit zu simulieren. Wie so oft war die bedauernswerte Verkäuferin einer Konditorei im Mittelpunkt des Geschehens.

Die erstaunte Frau wurde konfrontiert mit folgender Frankenfrage: „Haben Sie Nuhgattgrosohngs?“ So weit, so viertelverständlich. Doch nicht das eigenwillig verfränkischte Französisch stieß bei der hanseatischen Verkäuferin auf Nichtbegreifen: Sie kannte das Produkt einfach nicht.


Schließlich klärte sich – mithilfe deskriptiver Annäherung und Gebärdensprache – die Sache auf. Hier in Hamburg nämlich heißt das Süßgebäck nicht Nougatcroissant, sondern angeblich Nusskipferl. Klingt zwar eher bayerisch, aber so erzählt’s der Franke. Und so verengt auch sein Musikgeschmack ist, so unverfälscht vermag er doch die kleinen Dramen seines Alltags wiederzugeben; deshalb will ich ihm mal glauben.

Selbst als wir vergangenes Wochenende in Berlin waren, gemahnte manches an das urige Redaktionsoriginal. Beispielsweise durchschritten wir schmunzelnd und seiner eingedenk eine gewisse Frankenstraße. Und wie hieß die Kneipe ebenda? Frankeneck. Wir fühlten uns gleich wie zu Hause, obwohl dies in Berlin, während man an einen nach Hamburg exportierten Würzburger denken muss, recht schräg anmutet.

Die Kneipe hatte übrigens noch nicht auf, sonst hätten wir uns dort Kaltgetränke einverleibt und gegenseitig „Dang-ge!“ zugerufen. Nächstes Mal.

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land

25 April 2006

Im Zelt mit den Red Hot Chili Peppers

Sonst spielen die Red Hot Chili Peppers vor 60 000 Leuten, heute nur vor 600. Ins Zirkuszelt an der Glacischaussee werden 200 Fans und 400 Gäste eingelassen, und der Promigehalt ist so hoch wie der Fettanteil in Gorgonzola.

Bassmann Flea (Foto) kann dem frischen Boxweltmeister Wladimir Klitschko praktischerweise persönlich gratulieren, Reinhold Beckmann hält glückselig und graumeliert Hof am Springbrunnen, als wüsste er genau, dass jeder, der sich an ihm vorbeidrängt, ihn um seine WM-Finalkarten beneidet. So ist es ja auch, verdammt …

Neben mir steht Sergej Barbarez und knipst mit seinem supertollen Fotohandy die Chilis, obwohl er von der Plattenfirma bestimmt sogar einen Mitschnitt auf DVD bekäme, bäte er nur darum. Einen Augenblick lang überlege ich, auf Barbarez mit den Worten zuzugehen: „Entschuldigen Sie, wissen Sie eigentlich, dass sie Sergej Barbarez verblüffend ähnlich sehen? Sie könnten Geld damit machen!“

Doch Peppers-Gitarrist John Frusciante lenkt mich ab, weil er sich obenrum gerade frei macht. Der Mann sieht aus wie ein Jesusfreak von 1970, und er ist die einzige Hühnerbrust unter lauter Testosteronbomben. Flea, Anthony Kiedis und Drummer Chad Smith müssen mindestens so viel Zeit mit Bankdrücken wie mit Komponieren verbringen, sonst kämen sie kaum auf diese gewaltig pulsierenden Muskelstränge unter den geschmacklosen Tätowierungen.

Im Garten, wo ich am zweiten Chardonnay des Abends nippe, tauscht Mousse T. gerade Handynummern mit einer jungen Frau, die garantiert nicht seine Gattin ist. Dietmar Beiersdorfer, das wird auf den ersten Blick klar, müsste mal zum Friseur. Aber Kiedis und Frusciante auch, ehrlich gesagt. Letzterer covert kurz vor Schluss den Bee-Gees-Heuler „How deep is your love“ – offenbar ein Konter gegen Fleas Soloversion von Neil Youngs „The needle and the damage done“, die Ex-Junkie Frusciante wohl persönlich genommen hat.

Der Bretterboden schwingt im Takt der Drums, man fühlt sich leicht, man schwebt, und plötzlich ist Kalifornien überall. Inzwischen bin ich so weit chardonnayisiert, dass ich meinen Barbarez-Ulk doch noch an den Mann bringen will, doch ich stoße nur immer wieder auf Beckmann. Er hat Finalkarten, verdammt …

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Neil Young
1. „Hurricane“
2. „On the beach“
3. „Out on the weekend“

24 April 2006

Der Suffkopp und Olaf

Alberto Giacomettis schwarzer zwölfseitiger unregelmäßiger Kubus, den er einem Gemälde von Albrecht Dürer entnahm und verkörperlichte, hat eine dunkle Aura, die dich zum Zittern bringt. Wenn man davorsteht, fühlt man sich wie ein Australopithecus vorm geheimnisvollen Monolithen in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“.

Der Kubus ist Bestandteil der grandiosen Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn“, die wir am Wochenende in der Berliner Neuen Nationalgalerie besuchten. Auf dem Rückweg pulverisierte allerdings das Profane rasch jedes erhabene Gefühl. Vor einem Krankenhaus zog ein volltrunkener Berliner seine immer engeren Kreise, bis er schließlich rücklings aufs Pflaster fiel. Sein vegetatives Nervensystem war offenbar gelähmt von einer alkoholischen Springflut, die ihm durch alle Adern jagte. Er flüsterte, alle Extremitäten von sich gestreckt: „… Hilfe …“

Wir gingen weiter; immerhin war er gerade aus dem Krankenhaus getaumelt, dort hatte man sicherlich die Lage unter Kontrolle. Hatte man nicht: Als wir uns umblickten, stand der arme Wicht plötzlich schwankend auf der vierspurigen Straße und verschwand dann stürzend zwischen geparkten Wagen. Okay, die Lage war ernst. Am nächsten Tag in der BZ lesen zu müssen, in Schöneberg sei ein Mann mit der Rekordmarke von 5,8 Promille vor einen Laster getaumelt und plattgemacht worden, schien mir wenig verlockend, selbst wenn mein Seelenheil mir nicht das Wichtigste ist auf der Welt.

Als ich zurückkam zum Krankenhausempfang, um mal wieder einen Anruf bei der Polizei zu erbitten, war der Pförtner bereits in dieser Sache tätig, allerdings ohne rechte Überzeugung. „Ach“, winkte er ab, „die fahren ihn sowieso nur bis zur nächsten Ecke und werfen ihn wieder raus.“ Meine Glaube an solch nützliche Einrichtungen wie Ausnüchterungszellen erschien mir plötzlich romantisch und naiv. Aber vielleicht hatte der Pförtner ja auch Unrecht. Wenig später jedenfalls kam uns ein Streifenwagen entgegen.

Die Berliner Merkwürdigkeiten rissen indes nicht ab. Wir kamen zum Beispiel an einer Kneipe vorbei, die den bizarren Namen „Tüsselbrand’s Malustra“ trug. Und abends, auf dem Bahnsteig im Bahnhof Zoo, schlurfte der Ex-SPD-Generalsekretär Olaf Scholz erhobenen Kinns an uns vorbei Richtung 1. Klasse. Das kam mir komisch vor. Sollte Scholz – immerhin Altonas (und somit auch unser) Abgeordneter im Bundestag – nicht sonntagsabends von Hamburg nach Berlin unterwegs sein statt umgekehrt? Oder habe ich jetzt – ups – etwas enttarnt, was Scholz tunlichst vor Münte zu verbergen erpicht war?

Andererseits trug er zwar das Kinn hoch, aber nicht mal eine Sonnenbrille.

Ex cathedra: Die Top 3 der Suffsongs
1. „Down drinking at the bar“ von Loudon Wainwright III
2. „One Bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Streams of whiskey“ von The Pogues

23 April 2006

Die Evolution und Berlin

Berlin ist schon merkwürdig. Im Bus am Bahnhof Zoo lösen wir Tickets und werden von einem gelben Kasten zum Entwerten derselben aufgefordert. Allerdings ist der Schlitz schmaler als die Tickets breit sind. Sie passen einfach nicht rein.

Wir erwägen Experimente wie Falten der Fahrkarten oder gewaltsames Verbreitern des Entwertungsschlitzes, beschließen aber am Ende doch, die Sache stillschweigend hinzunehmen und eventuelle Kontrolleure in kampfeslustige Diskussionen über die Detailschwächen des Berliner Nahverkehrssystems zu verwickeln.

Die Fahrt allerdings verläuft ohne Zwischenfälle, und an der Zielhaltestelle erweist sich sogar die archaisch anmutende Wegbeschreibung von Dr. K. („ ... über große Straße Richtung Osten ...“) als nicht komplett undechiffrierbar. Denn unter Reaktivierung bestimmter Steinzeitgene identifiziere ich trotz dichter Wolkendecke die korrekte Himmelsrichtung.

Ich bin stolz wie Oskar, Ms. Columbo hält mich für einen Helden. Und mir wird plötzlich klar, wie unsere Spezies es schaffen konnte, zur dominierenden auf diesem Planeten zu werden.

Mehr über die Evolution und Berlin nach unserer Rückkehr.

21 April 2006

Das Päckchen

Nehmen wir mal an, du hast eine neue tödliche Waffe erfunden, vielleicht groß wie eine Tafel Schokolade, und du willst sie einem interessierten Forscherkollegen postalisch zukommen lassen. Dann musst du natürlich Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.

Zum Beispiel musst du sichergehen, dass nur er, der Kollege, die tödliche Waffe erhält. Schließlich könnte eine Katastrophe geschehen, wenn sie in falsche Hände geriete.

Ganz wichtig also: Auf dem Päckchen sollte, für den Zusteller deutlich sichtbar, jedwede Nachbarschaftszustellung ausgeschlossen sein.


Heute bekam ich so ein Päckchen.

Und was könnte nicht alles geschehen, wenn der Adressat nach Erhalt die tödliche Waffe verliehe oder verschenkte? Nicht auszudenken!

Also musst du den Adressaten eindringlich und unter Androhung hoher Strafen dazu verpflichten, die tödliche Waffe niemals (in Worten: NIEMALS) ohne deine Supervision aus der Hand zu geben.

Auf einem Zettel, der dem Päckchen, das ich heute erhielt, beilag, war genau das unzweideutig festgelegt.

Und dabei will ich doch einfach nur jungen Männern in kurzen Hosen dabei zuschauen, wie sie gegen einen Ball treten. Männo.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Postbezug
1. „The letter“ von The Box Tops
2. „Please Mr. Postman“ von The Beatles
3. „Dead flowers“ von The Rolling Stones

20 April 2006

Das muss jetzt mal raus

Die Grundausstattung von Großstädten verdient ohne Zweifel Lob. Ob Kneipen, Kinos, Clubs oder käuflicher Sex: alles da, und zwar nah und unmittelbar. Was an Städten jedoch meist stört und aus meiner Sicht sehr verzichtbar ist, sind – Menschen. (Ja, ich bin mir der Paradoxie dieser Aussage bewusst.)

Fakt ist: Großstadtmenschen nerven. Sie sind im Weg. Sie errichten Hindernisse. Immer. Heute etwa radle ich verbotenerweise über den engen Gehweg am Mercadoparkhaus, als sich plötzlich die Tür eines parkenden Autos öffnet und die ganze Breite des Weges barriereartig blockiert. Schuld: ein Mensch.

Oder abends, in der Fußgängerzone der Neuen Großen Bergstraße (Foto): Eine ältere Dame mit Dackel als Appendix gibt der kackbraunen Fußhupe so viel Gummiband, wie sie nur haben möchte. Und sie möchte viel, oh ja. Die Fußgängerzone ist dort zwar sehr, sehr breit, das Gummiband aber auch sehr, sehr lang.

Eine Dame mit Dackel reicht aus, um der Neuen Großen Bergstraße eine Vollsperrung zu verpassen. Wüsste das der Hamburger Verkehrssenator, er könnte depressiven Hundebesitzern pipileicht wieder Lebenssinn vermitteln, indem er sie an Bau- oder Unfallstellen als hochflexible Absperrgitter einsetzte. Doch das passiert ja nicht. Stattdessen beanspruchen diese Menschen in freier Wildbahn ungeheure Freiflächen, die für Fußgänger und Radfahrer augenblicklich nicht mehr nutzbar, ja sogar gefährlich sind.

Doch heute ging es noch mal gut, Dackel und Dame waren letztlich dank meiner schier übermenschlichen Radelroutine knapp zu umfahren. Meine Grundthese aber sah ich erneut belegt: Großstadtmenschen nerven. Vor allem und besonders auch auf Radwegen, wo sie, wenn ich vorbeikomme, meist träumerisch herumstehen – bereit, im entscheidenden Moment einen unmotiviert anarchischen Schritt zur Seite zu tun, damit ich sie säuberlichst über den Haufen fahren kann.

Warum schauen sie sich nicht um, bevor sie dumme Dinge tun? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eins: Großstadtmenschen nerven. Ihre Sinne scheinen unterm Dauerfeuer urbaner Reize und Ausscheidungen komplett abzustumpfen. Sie sehen nichts, sie hören nichts. Sie leben – obgleich umwogt von Hundertausenden anderer – in einer hermetischen Egoblase.

Auch der Radler, der heute in Ottensen auf die tolle Idee kam, den Gehweg zu verlassen und dumpffröhlich quer über die Bahrenfelder Straße zu rollen, obwohl ich dort gerade mit beträchtlicher Geschwindigkteit von meinem Vorfahrtsrecht Gebrauch zu machen gedachte. Wir stiegen beide in die Eisen wie ein Schmuckstraßenfreier, der versehentlich eine Transe gebucht hat. Gerade so vermieden wir den Crash, doch eins wurde mir mal wieder klar: In einer Großstadt ohne Menschen wäre diese Situation erst gar nicht entstanden.

Vielleicht würde ich es sogar akzeptieren, mich täglich ins Gewimmel dieser Gefahrguttransporter auf zwei Beinen stürzen zu müssen, wenn sie mir garantierten, von den ihnen zur Verfügung stehenden Sinnen auch Gebrauch zu machen. Davon kann aber nicht die geringste Rede sein.

Neulich sah ich einen Menschen halb im Laufschritt auf mich zukommen und dabei aus unerfindlichen Gründen hinter sich blicken. Er übertrug gleichsam mir, der ich meine Sinne adäquat in Betrieb hatte, die Verantwortung, den Weg zu räumen und auszuweichen. Doch mich überkam eine kleine sardonische Lust auf Konfrontation, und ich ließ es drauf ankommen.

Rumms, machte es. Schulter gegen Schulter. Er drehte sich um mit jenem erschreckten Staunen im Gesicht, als wäre er davon ausgegangen, in einer Großstadt ohne Menschen unterwegs zu sein.

Und plötzlich fühlte ich mich ihm sogar ein wenig verbunden.

Ex cathedra: Die Top 3 der urbanen Songs
1. „The city sleeps“ von MC 900 Ft. Jesus
2. „Summer in the city“ von Lovin’ Spoonful
3. „Crosstown traffic“ von Jimi Hendrix

19 April 2006

Tannenzapfenzupfen (3)

(Foto via FHS Holztechnik)

Heute gibt es eine weitere Folge mit gruseliger Promoprosa und Pidginpoesie am Rande der Körperverletzung. Alles Blaugefärbte wurde Pressetexten zu neuen CDs entnommen. Ich garantiere für die Echtheit der Zitate; das gilt auch für alle orthografischen Unfälle.


Die heutige Ausgabe widmet sich speziell dem beliebten Genre Denglisch. Wer nur Bahnhof versteht, findet vielleicht beim Anglizismenindex Hilfe und Linderung. Los geht’s:

1. In unserer Media Lounge werden Sie das Thema unserer neuartigen Eventreihe - Road Movie in angesagten Clubs und Off-Locations - bei „drinks for free“ exklusiv erleben können … Ein Highlight auf dem Event werden die kreativen Kurzfilme der MARLBORO Blend 29 Road Movie-Teilnehmer auf den Bildschirmen in den „Screening Corners“ sein … Zusätzlich kann jeder Eventbesucher an interaktiven Voting-Terminals seinen Film-Favoriten wählen.

2. Der Artikel ist als pre-view als pdf datei auf unserer medialounge zum download verfügbar.

3. dreckige lines und pure raps treffen auf hypnotische techno-vibes … tai jason, aufgewachsen in england, liefert einen flüssigen und einschlagenden flow in englischen rhymes ab.

4. DIMI ist der Mann, der die Geschichte vom Traveller lebt. Und sie in seinen Songs erzählt. Seit 8 Jahren ist er on the road – im Sommer mit dem Surfboard den Wellen hinterher, im Winter mit dem Snowboard dem Powder auf der Spur … Upbeat and Downtempo – so ist halt das Leben eines Backpackers.

Ex cathedra: Die Top 3 der ekligsten Bandnamen (2)

1. Mundstuhl
2. Dackelblut
3. Lammkotze

Was bisher geschah

„Tannenzapfenzupfen 2“
„Tannenzapfenzupfen 1“

18 April 2006

Leblos auf der Lincolnstraße

Ich erinnere mich noch an den ersten Kiezbummel unseres Lebens. Es war 1995. Wir schlichen besorgt über die Reeperbahn mit jener Grundverkrampfung, die nun mal aufkommt an Schauplätzen düsterer Legenden.

Alle Geschichten und Warnungen, alle Räuberpistolen und Schmuddelstorys, die wir im Lauf unseres Provinzlebens über die sündige Meile gehört, gelesen und in Film und Fernsehen gesehen hatten, kondensierten in einem Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit. Jürgen Roland, Hans Albers und Klaus Lemke hatten ganze Arbeit geleistet.


Alarmiert und nervös schritten wir sie ab, die berüchtigte Reeperbahn. Wir warteten sekündlich darauf, umstandslos ausgeraubt oder zumindest zu diesem Behufe in ein versifftes Kellerstriplokal gezerrt zu werden.


Zunächst aber geschah nichts. Bis wir die Lincolnstraße passieren wollten. Dort sahen wir in einigen zehn Metern Entfernung ein Bündel Mensch mitten auf der Fahrbahn liegen. Besorgt bogen wir in die Straße ein, als ebendies auch ein Auto tat und uns überholte. Es war ein großer Wagen, ein Mercedes. Kurz vor der reglosen Gestalt stoppte er, und der Fahrer, ein drahtiger junger Bursche, sprang heraus, packte das Bündel am Kragen, zog es humorlos an den Straßenrand, stieg wieder ein und fuhr weiter.


Wir waren fassungslos. Herzlosigkeit live! Die Kiezklischees: Sie waren wahr! Wir eilten hin und fanden eine weitgehend leblose Frau vor. Sie war verwahrlost und korpulent, ihre Augen hinter den schmalen Schlitzen blicklos, und sie antwortete nicht auf meine Frage, wie es ihr denn ginge. Sie atmete kaum.


Damals hatten wir noch keine Mobiltelefone, deshalb blieb Ms. Columbo bei ihr, und ich betrat (bang!) die nächstbeste Kneipe und wählte 110. Minuten später entstiegen einem Streifenwagen zwei Polizisten, auch Sanitäter trafen ein. Sie rüttelten die Frau, die ihnen offenbar nicht ganz unbekannt war, kräftig durch, was diese zum dumpfen Lallen brachte. Na bitte. Auch die Sache mit dem Mercedesfahrer, der die Frau beiseite gelegt hatte wie einen auf die Straße gerollten Mülleimer, nahmen die Ordnungshüter mit einer befremdlichen Lockerheit. Hätte der Mann die Frau etwa überfahren sollen? Noch mal na bitte.


Die Polizisten und Sanitäter schienen uns währenddessen unisono mit latentem Spott zu mustern. Mir wurde klar, wofür sie uns hielten: für dumme, ängstliche Landeier auf Stadtausflug, die
sich wegen einer simplen Besoffenen bepissten und alle Abteilungen der Exekutive in Bewegung setzten. Welch eine Verschwendung!

Dieser Vorfall prägte lange Zeit unser Bild vom Kiez, das ja eh auf Vorurteilen gründete. Als wir anderthalb Jahre später die Chance hatten, das verschnarchte Rentnerparadies Sülldorf gegen eine Wohnung in der Seilerstraße einzutauschen, erinnerten wir uns wieder an das Bündel Mensch auf der Lincolnstraße, an den brutalen Mercedesfahrer, an die spöttischen Polizisten. Wir überlegten hin und her. Aber dann sind wir doch umgezogen – und lernten sie rasch mögen, die Reeperbahn, die Besoffenen, die Bullen, die Dickewagenfahrer.

Und wenn heute irgendwer im Weg herum liegt, dann ziehe ich ihn natürlich beiseite, zu seinem eigenen Schutz. Ist doch klar.

Ex cathedra: Die Top 3 der fürsorglichen Songs

1. „You've got a friend“ von Carole King
2. „Carry me across the water“ von Midnight Choir
3. „Best for you“ von Morning Runner

Come on, spring!



























Die Tristesse eines Supermarktparkplatzes in einer spätwinterlichen Wochenendnacht ist schwer überbietbar.

Höchstens vom Dauerregen in einem Nordseekurort im Spätfebruar, wenn man durch die Fenster seiner fernsehlosen Fertigbauferienwohnung das „Geschlossen“-Schild am Eingang des gegenüberliegenden Schachtelkinos betrachtet, nachdem man soeben herausgefunden hat, den zur Sicherheit gekauften tausendseitigen Ferienschmöker zu Hause auf dem Nachttisch vergessen zu haben.

Der Parkplatz gehört Wal-Mart. Es werde Frühling.

Ex cathedra: Die Top 3 der Frühlingssongs
1. „Springtime in Alaska“ von Johnny Horton
2. „Come on spring“ von Mick Harvey
3. „So early in the spring“ von Pentangle

16 April 2006

Der Kirchenbesuch

Ein Ausflug zu einer Taufe nach Wolfsburg (Foto: der Schillerteich) erinnerte mich mal wieder daran, wie mich einst die evangelische Kirche irreparabel aus ihrer Mitte vertrieben hatte: mit sämtlichen Spielarten zermürbender Langeweile.

Die Pastoren, scheint mir, haben über die Jahrzehnte immer das gleiche Alter, wenngleich wechselnde Gesichter. Die Gemeindemitglieder hingegen welkten unterm wattigen Nieselschnee der Sprüche und Storys dahin, zerrieben von der Tristesse der Liedertafeln (118, 1+4-5), dem Leiern der Predigt (ich musste an einen Mr.-Bean-Sketch in der Kirche denken, in dem das sedierende Kanzelgemurmel buchstäblich bewusstlos macht) und einer vollkommen abwesenden Dramaturgie und Dynamik. Auf ein Lied folgt ein Gebet, aufs Gebet das nächste Lied, und immer ist es von Paul Gerhardt.

Offenbar liegt dem Ganzen das Motto zugrunde: Eines geht noch, eines geht noch rein.

Unter dem stillen, ewigen Terror dieses Ablaufs, der höchstens mal – wie heute – durch die Attraktion einer Taufe, Hochzeit oder Beerdigung aufgebrochen wird, wurden die Gemüter der dahinwelkenden Gläubigen duldsam, taub und stumpf; entweder durch Verhärtung oder Aufweichung, wer kann das sagen. Über allem schwebt derweil die Atmosphäre des Morbiden, Hoffnungslosen. Diese Kirche weiß, dass ihre Zeit vorbei ist; ihre Mutlosigkeit ist greifbar. Sie hat es selbst versaut: mit sämtlichen Spielarten zermürbender Langeweile.

Die Katholiken sind mir inhaltlich genauso fremd. Doch wenn man sieht, wie sie ihr in 2000 Jahren verfeinertes Marketingknowhow auch in der Webära immer noch in Massenentertainment umsetzen, mit Glitzer und Glamour, Schurken und Helden, mit komischen Klamotten, klasse Kulissen und völlig bescheuerten Thesen, die genau deshalb global diskutiert werden, weil sie so bescheuert sind, dann muss ich sagen: Respekt.

Kein Wunder, dass der aktuelle Papst an Ökumene wenig Interesse zeigt. Bayern München erwägt ja auch keine Spielgemeinschaft mit Kickers Emden.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Bibelbezug
1. „The story of Isaac“ von Leonard Cohen
2. „Highway 61 revisited“ von Bob Dylan
3. „Samson and Delilah“ von Middle Of The Road

14 April 2006

Geile Euter im Takt der Ekstase

Die beiden portugiesischen Nachbarskinder – er sechs, sie vier – wollen normalerweise mit mir Fußball spielen, sobald ich aus dem Haus komme. Heute allerdings nicht. Sie bestürmen mich auf dem Gehweg: „Hast du die Nackedei-CD gesehen? Hast du?“ Äh, nein, antworte ich alarmiert. 

Diesem Umstand möchte der kleine Bursche rasch abhelfen und reicht mir mit breitestem Zahnlückengrinsen eine (wie sich herausstellt leere) DVD-Hülle. Was darauf abgebildet ist, sieht nicht ganz so aus, wie im schlimmsten Fall zu befürchten war. Erleichtert registriere ich, dass trotz des Stempels „100 % Hardcore“ zumindest auf die Darstellung diverser Körperöffnungen verzichtet wurde – und somit auch auf das fantasievolle Befüllen derselben. 

Laut Cover handelt es sich um die „internationale Version“ von „Tittenalarm 5 – Euromöpse in heisser Aktion“, und verantwortlich dafür zeichnet ein gewisser Roy Alexandre, was ein wirklich affiges Pseudonym ist – dieser gespreizt frankophon auslaufende Nachname, uh. Jedenfalls stellt er eine „100 % Silikonfreie Zone“ in Aussicht, wobei ich nach Inaugenscheinnahme der zahlreich sich präsentierenden Damen gewisse Restzweifel am Wahrheitsgehalt der Behauptung nicht abstreiten kann. 

Dies scheint „Roy“ geahnt zu haben, denn er lässt auf der Rückseite versichern: „Alle Melonen in diesem Film sind garantiert keine Silicon Valleys, dafür steht Roy Alexandre mit seinem guten Namen. Bei jedem Stoss“, wird weiter ausgeführt, „wippen die geilen Euter im Takt der Ekstase.“ Diesem interessanten Inhaltsausblick folgt abschließend die raffinierte Suggestivfrage: „Wer möchte da nicht gerne einmal Glöckner sein?“ 

Ich verdränge meinen Widerwillen vor allem gegen die Schreibweise des Wortes „Stoss“ und beantworte die gestellte Frage für mich innerlich eindeutig: die beiden hysterisch kichernden Kinder keinesfalls. Dafür stehe ich mit meinem guten Namen. Folglich teile ich den Knirpsen die sofortige standrechtliche Konfiskation des Covers mit, was zu Protesten führt. Selbst mein Kompromissangebot – Rückgabe der coverlosen DVD-Plastikhülle –, wird brüsk zurückgewiesen. Ganz oder gar nicht, schallt es stattdessen sinngemäß aus dem Parterre, und damit ist für mich die Phase der Verhandlungen vorbei. 

Also zerknülle ich theatralisch und mit dem Ausruf „Nein, nein, das ist noch nichts für euch!“ das Cover. Die Vierjährige nimmt es inzwischen gelassen und beginnt einen grotesken Hüftschüttel- und Armschlenkertanz, während sie begeistert grinsend „Sexy Baby! Sexy Baby!“ quiekt. 

Ah, Kiezkinder! Ob ich ihrem Papa bei der nächsten Begegnung von der Freizeitgestaltung seiner Racker erzählen soll? 



Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Sexbezug 1. „Honky Tonk women“ von The Rolling Stones 2. „Fuck forever“ von Babyshambles 3. „Sammy’s song“ von David Bromberg

12 April 2006

Halbfinale


Hollerieth war unser Torwartmann,
Aus hielt er, bis der Schlusspfiff kam.
Er hat zwar verlorn, doch er trägt die Kron,
Er hielt für uns, unsre Liebe sein Lohn.

Gunesch flitzt übers Schlammgeviert,
Ballack ächzt, denn wer hier verliert,
Der fährt im Mai wohl überallhin,
Doch nicht nach Berlin, nach Berlin.

Hargreaves trifft früh, aus großer Distanz.
Hollerieth fliegt, doch es reicht nicht ganz.
Der Kampfgeist wächst, doch Lucio steht,
Und Ismaël bang nach den Angreifern späht.

St. Pauli stürmt vor, sogar mit Morena,
Ein tausendfach' Juchzen erfüllt die Arena.
Die Bayern, sie taumeln, sogar der Sagnol,
Doch Meggle verfehlt, und dann auch noch Boll.

Und die Fans mit Kindern und Fraun
Im Flutlicht schon das Ende schaun.
Und keuchend an Holler heran
Tritt alles: „Wie lang noch, Torwartmann?“
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
„Noch dreißig Minuten … halbe Stund.“

Und die wilden Paulianer, bunt gemengt,
Bedrängen den Kahn, und der lenkt
Luz’ Kopfstoß zur Ecke, Bolls Schuss hintendrein –
Und Scharping verzweifelt: Der Ball muss doch rein!
Die Bayern, sie taumeln, Lahm läuft nicht rund.
Noch 15 Minuten … Viertelstund.

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei,
Da klingt aus dem eig’nen Strafraum ein Schrei,
„Tor!“ war es, was da klang,
Ein Qualm aus Tribüne und Fankurve drang,
Es war eine Ecke, der Fuß von Pizarro …
Und nur noch sechs Minuten bis Ultimo.

St. Pauli zerbricht am Ende entzwei
Wieder Pizarro, es steht null zu drei.
Holler ist machtlos, doch lobt nicht nur ihn:
Denn heute verlor das bessere Team!

Hollerieth war unser Torwartmann,
Aus hielt er, bis der Schlusspfiff kam.
Er hat zwar verlorn, doch er trägt die Kron.
St. Pauli, St. Pauli: „You’ll never walk alone!“

(Foto: Spiegel online)

11 April 2006

Warum Ernst Kahl kein Auto fährt

Abends auf dem Weg zur Fahrradwerkstatt begleitet mich der Franke, und wir irren heillos durch Ottensen. Ich neige ja, wie bereits erwähnt, zum augenblicklichen Verlaufen, sobald ich mich überhaupt in Bewegung setze. Und der Franke wirkt in dieser Hinsicht eher bestärkend als dämpfend.

Wir schlagen auf meinen Vorschlag hin eine Abkürzung ein, die ich unlängst durch bloßes Verirren entdeckt habe, und brauchen dadurch rund zehn Minuten länger als sonst. Auch der Stadtplan war unterwegs keinerlei Hilfe, da ich zwar die Straßen finde, allerdings auf die lustigen bunten Linien stiere wie ein Schimpanse auf ein Esperantowörterbuch.


Vorm Laden treffen wir überraschend auf den
wunderbaren Wusel- und Wuschelkopf Ernst Kahl, der sich gerade damit vergnügt, einen schwarzen Pudel mithilfe eines kleinen Gummiballs zu foppen. Seit einem Interview vor neun Jahren sind wir lose befreundet (nein, ich meine nicht den Pudel).

Ernst erzählt von der Mühsal, die es für ihn als Nichtautofahrer bedeute, von seinem renovierten Privatbahnhof in Nordseenähe irgendwo hin zu kommen, etwa nach Kiel, wo er an der Uni ab und zu als Dozent erwünscht ist. Es wäre gleichwohl fatal, führt er weiter aus, erwürbe er den Führerschein. Denn sobald er am Steuer oder Lenker auch nur irgendeines Fahrzeuges säße, entwickele er sofort etwas Suizidales.


„Wenn am Straßenrand ein Baum steht“, sagt Ernst, „halte ich drauf zu und rummse rein. Das ist zu gefährlich, ich habe Familie.“ Wir beglückwünschen ihn zu seiner Entscheidung, unter diesen Umständen Fahrschulen strikt zu meiden, und empfehlen uns Richtung Bahnhof Altona.

Der Rückweg verläuft recht geradlinig. Jedenfalls für unsere Verhältnisse.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Ernst Kahl

1. „Ihr habt einen Freund“

2. „Den Drogen keine Macht“

3. „Im Kühlschrank brennt noch Licht“


(Kahls CDs, alle eingespielt mit Hardy Kayser, dem derzeitigen Arrangeur und Gitarristen von Annett Louisan, gibt es
hier. Das abgebildete Kahl-Gemälde entstand ca. 1993)

10 April 2006

Wer nicht hören kann und will

Seit heute ist die Gefahr deutlich gestiegen, ab 2009 schon wieder von einem pfälzischen Kanzler regiert zu werden. Ms. Columbo meint ja, der gute Kurt Beck sei zu provinziell für die ganz große Bühne. Doch eine spürbar landsmannschaftliche Verwurzelung hat einst weder Adenauer geschadet noch Kohl. Und Merkel ja auch nicht.

Es war jedenfalls der Tag, an dem Matthias Platzeck zurücktrat – und Oliver Kahn überraschend nicht. Der eine gab auf wegen eines Hörsturzes, der andere macht weiter, weil er die Zeichen der Zeit geflissentlich überhört.

Ein denkwürdiger Tag also, der ausklang mit einem Spätkonzert von Jenny Lewis im uebel & gefährlich. Dieser frisch eröffnete Liveclub ist im Bunker am Rande des Heiligengeistfeldes untergebracht. Hoch in den vierten Stock kommt man nur per Fahrstuhl, dabei wäre mir ein Aufstieg durch die grandiose Treppenhausschnecke lieber gewesen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Treppenbezug
1. „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin
2. „The room of stairs“ von Harold Budd
3. alles von People Under The Stairs

Kahn, das Titanchen

Nach dem Jena-Flop vom Samstag (0:1) ist der Aufstieg endgültig perdu für meinen kleinen Stadtteilclub. Alle Kräfte kann er jetzt bündeln. Denn am Mittwoch geht es im DFB-Pokal-Halbfinale (in Worten: HALBFINALE!) gegen den FC Bayern München. Also gegen Oliver Kahn, den zweitbesten deutschen Torwart. Gegen das Titanchen.

Als die Bayern das letzte Mal in einem Pflichtspiel hier antraten (nämlich am 6. Februar 2002), war St. Pauli noch in der ersten Liga, wenngleich auf Platz 18, gewann gleichwohl 2:1 und wurde so zum Weltpokalsiegerbesieger. Inzwischen liegen zwei Klassen dazwischen, und wir werden 0:5 verlieren. Genau wie im Viertelfinale gegen Bremen.

Vor einigen Jahren eilte ich mal über die Reeperbahn nach Hause, als ich gegenüber vom Herz von St. Pauli auf die Bayernspieler Mehmet Scholl und Thorsten Fink stieß. Beide schlenderten gelassen übers Trottoir, und ich verlangsamte
ebenfalls meinen Schritt auf Schlenderniveau, um ihre Körpersprache besser studieren zu können. Beide waren winzig, Bübchen geradezu. Zum Umpusten. Wie hatten sie je den Weg in die Nationalmannschaft finden können? Lässig die Hände in den Jeanstaschen vergraben, die Freizeithemden locker überm Gürtel, schnackten sie miteinander, ohne den sündigen Verlockungen mehr als flüchtige Blicke zu schenken.

Dabei hat Fink durchaus Bedürfnisse. Als er mal gefragt wurde, warum er seinen Gegenspieler soeben auf den Mund geküsst habe, sagte er: „Ich war wohl zu lange im Trainingslager.“ Eine Andeutung, die zugleich den sprunghaften Anstieg homosexueller Aktivitäten in Gefängnissen zu erklären in der Lage ist. Fußballer sind eben doch nicht zwangsläufig grenzdebil, und der alte Spruch „Dumm kickt gut“ stimmt längst nicht mehr.

Mittwoch. Noch zwei Tage. Leider wird es für mich und Ms. Columbo – im Gegensatz zu Andreas – nur ein Fernsehabend. Wenn es warm genug ist, öffnen wir aber die Balkontür, damit ab und zu ein „You’ll never walk alone“ hereinweht. Mal sehen, ob der Franke es wagt, sich zu uns zu gesellen.
Er verficht nämlich die Theorie, zweierlei brächte seinen Bayern Unglück: wenn er sich a) während des Spiels kaubare Nahrungsmittel zuführe und b) eine Liveübertragung in unserem Wohnzimmer verfolge.

Es gibt in der Tat mehrere empirische Indizien für die Stichhaltigkeit dieser These, so dass ich alles daransetzen werde, ihn nach vergangenem Samstag (Bayern verlor 0:3 in Bremen) erneut auf den Kiez zu lotsen.

Sein Dilemma: Wenn er nicht käme, sähe es so aus, als plagten ihn echte Zweifel an einem klaren Sieg seiner Goliaths (inklusive Titanchen) gegen meinen kleinen Stadtteilclub. Und das wäre ja wirklich zu peinlich.

Prognose: Er wird kommen – aber zur Sicherheit während des Spiels nichts essen. Nicht mal das mit vorsorglicher Heimtücke in Frankennähe platzierte Studentenfutter.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Verbindung zum FC St. Pauli
1. „Song 2“ von Blur
2. „Hells bells“ von AC/DC
3. „You’ll never walk alone“ von Gerry & The Pacemakers


08 April 2006

Die Fundstücke des Tages (15)

1. Das gerahmte T-Shirt hinter Glas entdeckte ich im Stage Club. Es hängt gerade, erschien mir schief aber interessanter.

2. Eine Mail, angeblich von der Postbank:

„Wir beachteten vor kurzem, daß eins oder mehr versucht, in Ihrem Postbank Konto von einem fremden IP ADRESSE innen zu protokollieren. Wenn Sie vor kurzem Ihr Konto beim zugänglich machten, Reisen, kann das ungewöhnliche Maschinenbordbuch in den Versuchen von Ihnen eingeleitet worden sein. Jedoch wenn Sie nicht den Maschinenbordbuchins einleiteten. besuchen Sie bitte PostBank Online Banking so bald wie möglich.“
Das „ungewöhnliche Maschinenbordbuch“ ist schon charmant. Manchmal frage ich mich aber, warum die mit Phishing abgezockten Millionen nicht zum Teil dafür verwendet werden, für jede in Frage kommende Sprache eine Schlussredakteurin einzustellen. Die Personalkosten müssten sich doch in Rekordzeit amortisieren, wenn dank einwandfreier Texte noch mehr Leute auf die plumpe Tour reinfallen. Vielleicht ist das die Chance für arbeitslose Journalisten: Schlussredaktion bei Phishingfirmen auf Bermuda. Ein Traumjob!

3. Der Branchendienst newsroom.de meldet: „Fernsehtrends 2006: Katastrophen sagen Kuschel-TV den Kampf an“. Diese Schlagzeile ist in ihrer semantischen Schieflage schon fast „Hohlspiegel“-fähig. Noch unfreiwillig komischer aber ist die Unterzeile: „Katastrophen, im Kuschel-TV nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht gern gesehen, sind wieder salonfähig.“ Zunächst nicht gern gesehene, aber dann doch wohlwollend wieder aufgenommene, also salonfähige Katastrophen – ganz großartig. Wer das geschrieben hat, sollte sich vielleicht doch nicht als Schlussredakteur bei der Phishingfirma auf Bermuda bewerben.


4. Zum Glück habe ich am Freitag meinem Münchner Informanten vertraut und bei einem montenegrinischen Wettbüro 5000 Euro auf ein Eigentor von Bastian Schweinsteiger gesetzt. Jetzt kann ich mich zur Ruhe setzen, bei der Quote.


5. Neue Google-Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:

„Wenn die Beine auseinander müssen“ (Hatten, Niedersachsen)
„was passiert wenn ich drogen nehme“ (via AOL)

„versaute omas bilder“ (via AOL)


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Glücksspielbezug
1. „Madame George“ von Van Morrison
2. „Viva Las Vegas“ von Elvis Presley
3. „Waitin round to die“ von Townes Van Zandt

Wetten, dass …?

Heute lachte mir (zunächst) das Glück: Ich fand an der Reeperbahn ein Zehncentstück, und zwar gegenüber von Penny, wo man in Ermangelung einer Fußgängerampel über zwei Geländer steigen muss, um die Straße zu überqueren. Natürlich fand ich die Münze beim Drübersteigen. Denn die Situation dort ist wie gemacht zum Geldverlieren und -finden: Man hebt die Beine in ungewohnte Höhe, Hosentaschen geraten in Schieflage, und schwupps: stiehlt sich das Kleingeld davon.

Seit der Währungsumstellung wird übrigens knapp doppelt so viel Geld verloren wie vorher. Und man findet natürlich auch doppelt so viel …

Den zufälligen Vermögenszuwachs konnte ich heute gut gebrauchen, wie sich später herausstellen sollte, denn abends im Miller (nicht sehr weit weg von der zu vermietenden Wohnung) ließ ich mich rieslingselig auf eine musikbezogene Wette mit dem Gedächtniskünstler Andreas ein, die ich prompt verlor.

Es ging um zwei Status-Quo-Songs. Andreas behauptete, „Roll over lay down“ sei vor „Down down“ erschienen, ich behauptete das Gegenteil. Er hatte recht und ich die Zeche am Hals.

Vor einigen Jahren lachte mir bei einer ähnlich gelagerten Wette allerdings das Glück. Jonas behauptete, der Beatles-Song „The long and winding road“ sei ein Nummer-eins-Hit gewesen, was ich ohne die Basis gesicherten Wissens einfach mal bestritt. Wir müssten noch das Land festlegen, monierte Jonas. England, sagte ich. Und gewann. Denn „The long and winding road“ erschien in England nie als Single, in den USA aber schon – und wurde dort auch Nummer eins …

Pech für Jonas; wahrscheinlich ärgert er sich noch immer darüber. Den Glückstreffer von damals büßte ich heute Abend im Miller ab – was ihn aber kaum trösten dürfte.

Ex cathedra: Die Top 3 der Beatles-Songs
1. „Don't let me down“
2. „The ballad of John and Yoko“
3. „Rocky Raccoon“

06 April 2006

Eins für alle, alle für einen

Kaum lugt der Frühling zaghaft um die Ecke, habe ich einen Platten. Kurz vor der Neuen Großen Bergstraße – nicht fern von jener Stelle, wo ich und mein Rad einst von einem Auto teilzerlegt wurden – stelle ich plötzlich einen unheilvollen Rollwiderstand fest. Natürlich versuche ich das Problem zunächst mit simplem Aufpumpen zu beheben, liege aber hundert Meter weiter schon wieder lahm.

Interessanterweise ist von solchen Schäden stets das für mich irreparable Hinterrad betroffen. Mein Fahrrad hat sieben Gänge plus Rücktritt, und dieses heillose Gewirr von Ketten, Speichen und Zahnrädern dort hinten sieht aus, als bräuchte man ein Vordiplom zum Schlauchwechsel. Wahrscheinlich war es damals einfacher, Apollo auf den Mond zu schaffen, als heutzutage einen Siebengangrücktritthinterreifen zu wechseln.

Fazit: Ich brauche Hilfe. Von unerschrockenen Fachleuten. Da meine bisherige Stammwerkstatt in Ottensen nach den empörenden Vorfällen vom Oktober für immer und ewig plus drei Tage tabu ist, folge ich Andreas’ Tipp und bringe es zu Rad und Tat.

Dort stellt man mir unbürokratische Hilfe in Aussicht und hält Wort. Heute, als ich das Rad wieder abholen will, ist der Schlauchschaden behoben. Allerdings informiert man mich über eine „unvollständige Schaltung“. Mit Verwunderung frage ich nach, denn die Schaltung war unmittelbar vor dem Platten keineswegs unvollständig. Ich benutzte sie munter, schaltete rauf und schaltete runter; nur der siebte Gang ging nicht, wie ich gegenüber Rad und Tat einräumen muss.

Gegenüber meinen Argumenten zeigt man sich indes hartleibig und führt mir das Problem vor Augen: Die sogenannte Klickbox ist weg. Das ist quasi die Kommandozentrale für jeden Schaltvorgang. Die Klickbox ist fürs Schalten so wichtig wie die Großhirnrinde fürs Denken. Und jetzt ist sie weg.

Ich versichere, sie sei noch dagewesen, als ich das Rad vorbeibrachte. Kann nicht sein, erwidert man, und beharrt auf der Sprachregelung „unvollständige Schaltung“. Ob denn das Rad die ganze Zeit vorm Laden auf dem Hof gestanden hätte, frage ich listig. Man bejaht. Ob dann nicht vielleicht jemand unbemerkt seine Klickboxsammlung hätte vervollständigen können, frage ich. Man verneint. „Haben Sie etwa die ganze Zeit, ununterbrochen, ständig, immer den Hof im Blick vom Laden aus?“, schieße ich mit wohldosierter Schärfe eine gerichtsthrillertaugliche Fangfrage ab. Aber ja, erwidert man festen Blicks und wiederholt mit Vehemenz die mir allmählich auf den Senkel gehende Theorie von der bereits angelieferten unvollständigen Schaltung.

Unser Diskurs dreht sich inzwischen im Kreis; zumindest in diesem Punkt muss ich dem Verkäufer, der es als erster bemerkt, Recht geben. Zugleich wird die Stimmung zwischen uns immer eisiger. Aber es steht halt Aussage gegen Aussage, These gegen These, und keiner von uns wird je beweisen können, wie es wirklich war – zumal mir einfällt, dass mein Rad ja
noch den ganzen Tag über platt nahe der Redaktion geparkt hatte. Vielleicht vervollständigte wirklich jemand tagsüber seine Klickboxsammlung auf Kosten meines Rads, und ich schob es abends Richtung Werkstatt, ohne den Verlust zu bemerken.

Durch diese selbstzweiflerischen Überlegungen sehe ich meine Position entscheidend geschwächt. Also verzichte ich auf den ganz großen Terz und versuche zähneknirschend dem schließlich ausgehandelten Kompromiss etwas Positives abzugewinnen: Ich werde die Klickbox und ein paar notwendige Kleinigkeiten bezahlen (insgesamt FÜNFUNDVIERZIG Euro!), dafür berechnet man nichts für die Montage.

Dennoch: In diesem Leben werde ich kein Freund mehr von Fahrradläden. Doch wie ohne sie auskommen? Ich könnte eine alte Lieblingsidee von mir, die sich auf Schirme bezog, in die Sphäre der Drahtesel übertragen. Hier der Vorschlag, und ich bitte um zustimmende Handzeichen:

Fahrräder gelten ab sofort als sozialisiert, als Gemeingut. Wer eins benötigt, schwingt sich einfach aufs nächstbeste und stellt es am Ziel wieder ab, natürlich genauso unverschlossen und ungesichert, wie er es am Start vorfand. Dir gehören also alle Räder und keins. Und wenn eins kaputt geht, findest du sicher binnen Minuten ein intaktes – schau dich einfach um, eine Welt ohne Bügelschlösser ist voller Möglichkeiten.

Die Entsorgung der Wracks übernimmt praktischerweise die Stadtreinigung. Und die Kosten? Nun,
mit rund einem abgezwackten Promille von der 2007 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung lässt sich eine Vollversorgung mit sozialisierten Fahrrädern sicher finanzieren.

Hauptsache, ich brauche nie, nie mehr eine Werkstatt aufzusuchen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Radelbezug
1. „Small price of a bicycle“ von The Icicle Works
2. „Girl on a bicycle“ von Ralph McTell
3. „Bike“ von Pink Floyd

05 April 2006

Die Greeb-Pfanne

Natürlich sind die extremen Methoden der Nahrungszufuhr das auffälligste Attribut des Franken. Doch er trägt eine weitere schwere Bürde mit sich herum, die ihn scharf trennt vom Rest der Zivilisation, zumindest der norddeutschen. Dabei handelt es sich um seine ungebrochen fränkisch eingetrübte Sprechweise. Während es den Hamburgern mit einfachen phonetischen Methoden im Lauf der Jahre gelang, mir die hessische Sprachfärbung weitgehend auszuwaschen, scheiterten sie damit beim Franken auf ganzer Linie.

Beweise dafür liefert das Faktotum täglich. Neulich standen wir mittags sinnierend vor einem Fressstand im Mercado, und der Franke orderte eine „Greeb-Pfanne“. Wir schauten ihn verwundert an, die Verkäuferin tat es uns gleich. Eine „Greeb-Pfanne“? Was sollte das sein – eine fränkische Spezialität? Doch wie konnte der Franke sicher sein, hier, im Reich des Labskaus und Frischfischs, einen Koch zu finden, der die Kunst der Zubereitung dieser exotischen Rarität beherrschte?

Alles war natürlich ganz anders, und zwar viel profaner. Allerdings konnte das Rätsel nur mithilfe einer Übersetzungstafel gelöst werden, die offenbar speziell für solche Fälle überm Tresen hing und als „Mittagskarte“ deklariert war. Eins der offerierten Gerichte war nämlich eine Crêpe-Pfanne …

Wir lachten schallend, wovon der dickfellige Franke sich natürlich nicht beeindrucken ließ. In der Regel wird die Öffentlichkeit übrigens selten Zeuge seines ethnologisch bedingten Handicaps. Wir hingegen, seine Bürokollegen, haben öfter das Vergnügen. Wie vor einiger Zeit, als der Ex-Katholik aus bis heute ungeklärten Gründen anfing, den ödesten Christenhit aller Zeiten vor sich hin zu singen.

Die meisten dieser von Vollsocken wie Manfred Siebald komponierten Langweiler sind schon beim ersten Anhören in der Lage, selbst den Gläubigsten am ewigen Leben zweifeln zu lassen. Ein möglicher Kirchenaustritt gewinnt augenblicks an Strahlkraft. Die ewige Nummer eins dieser Charts des Schreckens ist ohne Zweifel das sich seit Jahrzehnten lappig und müde durch Jugend- und Gebetskreise schleppende, offenbar unkaputtbare und selbst von den Ärzten mal gecoverte „Danke für diesen guten Morgen“.

Melodie und Refrain müssen nach dem Willen ihres unseligen Schöpfers Martin Gotthard Schneider auf einlullend leiernde Weise heruntergebrummelt werden. Warum dieser tote Strumpf von einem Lied trotzdem nicht längst als glaubenszersetzend ad acta gelegt wurde, wissen die Götter bzw. nur einer davon.

Jedenfalls überlebte das Stück, und der Franke hatte Gelegenheit, es an besagtem Morgen vor sich hin zu summen. Aber er tat es natürlich auf seine Art. „Dang-ge für diesen guden Morgen“, sang er, „dang-ge für diesen guden Tach …“


Es war, ganz ehrlich, die absolut geilste Coverversion, die ich je davon gehört habe.
Dang-ge, Frang-ge.

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land

04 April 2006

Die Fundstücke des Tages (14)

(Foto via Mediabiz)

1. Angenommen, man müsste Musiker mit einem Lebensmittel assoziieren, dann fiele einem zu Lemmy Kilmister bestimmt Whisky ein, zu Madonna vielleicht Sushi – und zu den Kastelruther Spatzen eindeutig … Käse. Das sieht die Volksmusikcombo zum Glück genauso und bringt jetzt einen eigenen auf den Markt: den „Kastelruther Spatzen-Käse“. Titanic, übernehmen Sie.


2. „Music to die for is a reason to live!“, ritzt der auch sonst nicht mit ewigen Wahrheiten geizende Burnster in die Granittafel seines Blogs. Wie wahr.


3. Neue Google-Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:

„hoden abtrennen“ (Eschborn, Hessen) Dieser Hesse verfolgt möglicherweise beunruhigende Absichten. Vielleicht handelt es sich auch um eine Hessin. Eins aber möchte ich klarstellen: Ich kann NICHT weiterhelfen.

„domenica oben ohne“ (Grobissendorf, Bayern) Glaub mir, du Grobissendorfer: Das willst du gar nicht sehen. Wirklich nicht.

„wo liegt kurt cobain begraben“ (Kaisersmad, Bayern). Nun: Überall und nirgends. Cobains Witwe Courtney Love hat den größten Teil seiner Asche während eines Konzerts ins Publikum geschüttet. Dann kamen die Putzkräfte. Nicht sehr pathetisch, nicht wahr?


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Trinken
1. „I drink“ von Mary Gauthier
2. „Sunday morning comin’ down“ von Kris Kristofferson
3. „I wasn't really drunk“ von Eef Barzelay

03 April 2006

Matt for the masses

Seit neustem bin ich Fernsehstar, obwohl Ms. Columbo dafür viel geeigneter wäre, schon rein optisch. Morgens um 9, wenn ich das Haus verlasse, bin ich bereits im Fokus vieler Objektive. Und abends, wenn ich von der Arbeit komme, sind die Kameras immer noch da. Wenn ich das Sichtfeld der einen verlasse, übernimmt mich liebevoll die nächste.

Klingt nach glamourösem Leben. Klingt, als sei „Die Rückseite der Reeperbahn“ endlich zur täglichen Seifenoper geworden. Matt for the masses.

Doch die Zuschauer vor den Monitoren, auf die mein Konterfei nun morgens und abends übertragen wird, haben alle den gleichen Beruf: Es sind Polizisten. Und es ist nicht die Rück-, sondern die Zuckerseite der Reeperbahn, die unter medialer Dauerbeobachtung steht. Ich laufe halt nur Tag für Tag durchs Bild. Und jeder meiner Gänge reeperbahnrauf und reeperbahnrunter wird vier Wochen lang gespeichert.

Die Idee hatte unser aus Bayern importierter Innensenator Udo Nagel. „Das im vergangenen Sommer novellierte Hamburger Polizeirecht“, schwärmt er in schönstem Euphemistendeutsch, „gibt uns diese gute Möglichkeit, die Sicherheitslage in unserer Stadt weiter zu verbessern.“

Am Wochenende aber, als Chemnitzer Neonazis durchs Viertel marodierten, Rassistenlieder sangen und von der Polizei unbehindert verfassungsfeindliche Symbole schwenken durften, blieb die Sicherheitslage in unserer Stadt eher unverbessert.

Vielleicht lag's ja daran, dass die Chemnitzer einfach zu blöd dazu waren, durchs Bild zu laufen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Fernsehbezug
1. „Video killed the radio star“ von The Buggles
2. alles von TV Smith
3. alles von den Talking Heads

02 April 2006

Der Samensammler hat sich verrechnet

Der bloggende Sporadiker zahnwart greift eine spektakuläre Aktion des französischen Künstlers Philippe Meste auf, an der sich rund die Hälfte der Leute, die dieses Blog lesen, kosten- und problemlos beteiligen können.

Meste nämlich sammelt das Beste am Mann für seinen sogenannten „Spermcube“: einen großen Würfel, den er mit einer Tonne Samen füllen will, wozu er nach eigenen Angaben tausend Liter der unter optimalen Bedingungen enorm folgenreichen Flüssigkeit benötigt.

Spenderboxen kann jedermann über Mestes Website anfordern. Eine aufschlussreich illustrierte Befüllungsanleitung (Foto) findet sich dort auch; allerdings ist sie anatomisch etwas ungenau, wie unsereins aus gewissen Quellen weiß.

Egal: Der entscheidende Haken der Geschichte liegt woanders, und ich denke dabei nicht an die designierte Empörung unserer CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen, die sich angesichts der demografischen Entwicklung gewiss ganz andere Verwendungsmöglichkeiten der tausend Liter vorstellen könnte.

Nein, das Problem ist folgendes: Tausend Liter Sperma wiegen deutlich mehr als eine Tonne. Das spezifische Gewicht menschlichen Samens, so ergab eine Recherche des Autors, beträgt nämlich ungefähr 1,07, liegt also rund sieben Prozent über dem von Wasser. Gut 930 Liter reichen demnach bereits aus, um Mestes Zielvorgabe zu erfüllen.

Bleibt die bange Frage, ob die ganze Aktion nicht komplett kippt, wenn die schöne Gleichung 1000 Liter = 1 Tonne nicht mehr gilt; immerhin geht es in der Kunst auch immer um Ästhetik. Jedenfalls habe ich Monsieur mal per Mail auf seinen kleinen Rechenfehler aufmerksam gemacht; mal sehen, ob er alles abbläst.

Eine Spenderbox soll er mir natürlich trotzdem mal schicken.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen das Rechnen eine Rolle spielt
1. „Wonderful world“ von Sam Cooke
2. „1+1=1“ von Medicine Head
3. alles von den Mathematics

01 April 2006

Der Polizeieinsatz

Wildes Hupen hallt durch die Seilerstraße, nachts um halb zwei. Durchdringend, langanhaltend. Wenn dieses Hupen einen Gemütszustand verkörpert, dann ist es: Wut. Ich betrete den Balkon und sehe die Bescherung. Eine junge Frau hat auf dem Gehweg geparkt und ist dann von einem weiteren Illegalen zugestellt worden. Jetzt geht nach hinten nix mehr und nach vorn erst recht nicht: ein Bauanhänger, Verkehrsschilder und ein weiterer Gehwegparker sorgen für einen vollverstellten Fluchtweg – es ist wie verhext.

Sie hupt, sie steigt aus, regt sich auf, verflucht ihr Schicksal. Was soll sie auch sonst tun – die Polizei rufen, als Gehwegparkerin? Verflixt. Inzwischen sind zwei Freunde von ihr eingetroffen, die helfen wollen. Allerdings erweist sich das Imaginationsvermögen dieses Trios als zutiefst erschütternd.

Wie man auf dem schlechten, aber dennoch aussagekräftigen Foto sieht, ist kein Meter Platz zwischen dem Halteverbotsschild und dem blauen Wagen in der legalen Parkbucht; trotzdem rangiert die Fahrerin auf engagierte Anweisungen eines ihrer Begleiter das Auto unablässig hin und her – in der Absicht, sich durchzuquetschen. „Komma, komma, komma“, lallt der dickliche Nachtschwärmer lautstark, „un’ schdobb! Un’ surügg, einschlan’g, un’ vor – schdobb!“

So geht das eine Viertelstunde lang, obwohl das Ganze ungefähr so sinnvoll ist wie der Versuch, ein Nilpferd in eine Hundehütte zu quetschen. Gleichwohl bleibt das Trio eifrig bei der Sache, drückt sogar an jenen Wagen herum („Scheise, der haddi Hannbremse ange’sogen!“), deren Abwesenheit sich die wütende Frau jetzt wohl noch sehnlicher wünscht als als eine IQ-Verdopplung ihrer Hilfstruppen.

Als die beiden Herren allerdings anfangen, die umliegenden Verkehrsschilder abzubauen, beschließe ich, die Polizei zu rufen. Schließlich sollte man weiterhin erfahren, dass die Seilerstraße ab diesem Punkt nur in eine Richtung befahren werden darf. Fünf Minuten später: Ein Streifenwagen zischt heran, zwei Polizisten springen heraus. Die beiden Begleiter der Frau verdrücken sich unauffällig, sie bleibt notgedrungen zurück.

Doch zu meiner Verwunderung stürzen die Ordnungskräfte sich plötzlich auf einen korpulenten Typen im T-Shirt, der ein paar Meter weiter vor der Spielhalle steht. Sofort werden die üblichen Klischeeschikanen durchdekliniert: Arme hoch, an die Wand, Beine auseinander. Gebrüll, Protest, das ganze Programm. Hier oben auf dem Balkon macht sich Verwunderung breit. Hallo, was ist denn nun mit dem abgebauten Einbahnstraßenschild? Ihr habt den falschen Mann!

Die Polizisten führen ihn zu einem Wagen hinter jenem, der die Frau zugeparkt hat. Auch der steht illegal auf dem Gehweg. Und er hat eine eingeschlagene Windschutzscheibe, wie ich jetzt sehe; der T-Shirt-Typ gilt offenbar als hauptverdächtig. Allerdings schwört er „bei meiner Mudder”, diese Scheibe noch nie im Leben gesehen, geschweige denn eingeschlagen zu haben.

Der Schauplatz des Geschehens hat sich verlagert, eindeutig. Schließlich lassen die Polizisten ihn doch laufen, obwohl sie das Entlastungspotenzial seines Mudderschwurs zunächst als nicht ausreichend hoch eingestuft hatten. Noch während sie Spuren am beschädigten Auto sichern, kommt endlich der Zuparker zurück. Und die Frau, die während der polizeilichen Investigation das unauffällige Mäuschen spielte, stürzt jetzt auf ihn zu, hält ihm den ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase und faltet ihn zusammen wie eine Kiezhure ihren insolventen Freier.

„Du Wichser hast mich zugeparkt!“, brüllt sie, „was denkst du dir eigentlich dabei, Arschloch! Ich polier dir die Fresse, Pisskopp!“ Er bleibt stumm, steigt ein und fährt schnell weg. Sie auch. Und während dieser ganzen Szene stehen die Polizisten daneben; das Ganze interessiert sie für keine zwei Cent. Verschwundene Einbahnstraßenschilder, Gehwegparker, Furien am Rande des verursachten Kieferbruchs: egal. Sie bewachen ungerührt ein Loch in einer Windschutzscheibe.

Die Show ist also vorbei. Hier gibt es nichts (mehr) zu sehen. Nur zu bloggen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Polizeibeteiligung
1. „Hurricane“ von Bob Dylan
2. „Good cop bad cop“ von Everything But The Girl
3. alles von The Police

31 März 2006

Tannenzapfenzupfen (2)

(Foto via FHS Holztechnik)

Nach der erfreulichen Resonanz (Lyssa: „Gimme more!“) auf Beispiele gruseliger Promoprosa, die hier unlängst unterm Titel „Tannenzapfenzupfen“ zu lesen waren, folgt nun ein weiterer Teil.

Somit ist eine kleine Serie eröffnet; nennen wir sie einfach hinfort immer „Tannenzapfenzupfen“. So wissen Eingeweihte gleich, um was es geht. Und Novizen werden zwar die Rubrizierung nicht verstehen, sich aber doch amüsieren – sofern sie ihr täglich Brot nicht als Promoprosaverbrecher verdienen.

Wie stets gilt: Alles Blaugefärbte wurde Pressetexten zu neuen CDs entnommen; die Zitate sind komplett naturbelassen und unbehauen, stilistisch wie orthografisch. Alles andere wäre ja auch unfair gegenüber den Urhebern …

Denglisch
1. Von Burning Heart über Bad Taste über Universal bis hin zu Playground (die sie letztendlich gesignt hatten) geht das Interesse, aber auch in Künstlerkreisen sind alle angetan und pushen, supporten und featuren.

2. Chris Corner steht für persönliche face2face in Berlin und auf Tour, Phoner und mail-Interviews zur Verfügung. Genaue Interviewtage geben wir noch asap bekannt.

3. Joe Young lädt jeden 1000. Käufer nach New York ein, auf einem Beat von den "Drama Monks", die auch die Single "I Don´t Wanna Go Back" produziert haben, oder auf einen Beat von "Gambit Ent.", seine Parts zu kicken! Joe Young dazu: "Ich will mit den Leuten, die meine Alben kaufen teilen. Ich plane die Tracks, die wir in New York recorden zu Charity Zwecken zu releasen!"

Metaphern, schiefergelegt
Ein kalter Blitz schießt über den Himmel wie eine Hure, die Crack ausatmet und der vom Tod gemünzte Flügelmann gleitet von einer zur anderen Hütte und seine Mitternachtsbotschaft schmeckt nach ansteckenden Küssen.

Ex cathedra: Die Top 3 der ekligsten Bandnamen

1. Throbbing Gristle (= pulsierender Knorpel)
2. Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs
3. Kind Im Magen


30 März 2006

Das süße Geheimnis

Erst heute, im Alter von 52 Jahren, gab sich Peter Ustinovs uneheliche Tochter als solche zu erkennen – per Fotobeweis. Der von der Queen einst zum Sir geadelte Großmime hatte sein süßes Geheimnis vor zwei Jahren eisern mit ins Grab genommen.

1954, im gleichen Jahr, als das Mädchen geboren wurde, schloss Ustinov einen seiner zahlreichen ew'gen Ehebünde, aus dem drei reguläre Kinder hervorgingen. Doch nebenher lief einiges. Und der gewitzte Geheimnisträger genoss es, mit der Enttarnung zu kokettieren. Ein Spiel mit dem Feuer. So nahm er manche Rolle nur aufgrund des Filmtitels an, und dann saß er kichernd zu Hause und beömmelte sich darüber, dass niemand ihm und dem heimlichen Töchterchen auf die Spur kam.

Nur einige Beispiele: „Beau Brummel – Rebell und Verführer“ etwa (gedreht im gleichen Jahr, als die kleine Angela geboren wurde!) sollte den Ehebrecher zum sympathischen Filou verharmlosen. Mit „Wir sind keine Engel“ von 1955 hingegen warb er heimlich um Verständnis für seinen Fehltritt. Und „Spatzi, Fratzi & Co“ war 1990 – im Jahr der Wiedervereinigung! – Ustinovs sympathisch plumper Versuch, die zärtlichen Kosenamen für seine kleine „Angie“ einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Bis gestern beharrte sie übrigens darauf, 1954 einem Ehepaar Kasner zu Hamburg geboren worden zu sein. Ist sie jetzt eigentlich auch adelig? Wer aktualisiert Wikipedia?

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs zum Thema
1. „Angie“ von The Rolling Stones
2. „Another man's woman“ von Joe Tex
3. „Burning secret“ von Hans Zimmer

29 März 2006

Hockerschock beim Werker-Gig

Es gibt bisher zwei Alben der hochmelancholischen Songwriterin Katja Werker, und beide habe ich rezensiert: „Contact myself“ von 2000 und das ganz aktuelle „Leave that thing behind“. Außerdem traf ich sie schon zweimal zum Interview, doch live sehe ich sie jetzt zum ersten Mal.

Schauplatz: der Stage Club an der Alsenstraße, eine in Fußweite vom Kiez gelegene und heimelig illuminierte Kaminbar. Für Konzerte ist sie allerdings denkbar ungeeignet. Die Bühne nämlich liegt versteckt im hinteren Bereich, und als ob das die auftretenden Künstler noch nicht genügend vor den Blicken des Publikums schützte, hat der sardonische Architekt auch noch an beiden Seiten der Bühne zwei monströse Pfeiler platziert, die selbst ein vollgelockter Samson – der berüchtigste Säulenumstürzer aller Zeiten – nicht aus der Verankerung gerissen hätte.

Als wir eintreffen, sind bereits alle Clubsessel belegt, was zugleich die Zahl der Stehplätze immens minimiert: Das Blickfeld der Sitzenden schafft unsichtbare Tabuzonen im Raum. Wir quetschen uns also an die Theke, Ms. Columbo ergattert sogar noch einen Barhocker. Zufriedenheit macht sich breit, zumal ich das Mikrofon von Frau Werker gerade so eben erspähen kann. Auf einem zweidimensionalen Foto wird es später so aussehen, als sänge sie unmittelbar einen der beiden Pfeiler an. Immerhin werde ich sie von hier aus überhaupt halbwegs sehen (nur ihre Nasenspitze nicht immer), was man von den meisten Besuchern des Stage Club keineswegs sagen kann.

Ich beschließe, mir einen eigenen Barhocker zu organisieren und werde fündig am anderen Ende der Theke. Das Teil ist bleischwer, hat aber auch noch den zunächst verborgenen Nachteil, über unzureichend verbundene Komponenten zu verfügen. Als ich den Trumm nämlich am Sitz durch den Raum schleppe, löst sich der metallene Fuß, rummst mit einer im Vergleich zur Fallhöhe erstaunlichen Gewalt auf meinen rechten Spann und holpert dann fröhlich scheppernd durch den halben Stage Club. So fühlt es sich also an, wenn du dir gerade den Fuß gebrochen hast, während dich alle Welt schreckstarr anglotzt. Na, danke.

Meine Schmerzen ebenso ignorierend wie das gebannte Publikum, schraube ich den Hocker unter Mühen wieder zusammen und zerre ihn ächzend und humpelnd hinüber zu Ms. Columbo. Mit Weißwein betäube ich den brüllenden Schmerz im Spann, und dann kommt auch schon Katja Werker auf die Bühne.

Während ihre Alben Musterbeispiele für gazehafte Zerbrechlichkeit sind und mindestens ein Interview mit ihr den unheilvollen Gedanken nahelegte, sie könne bei der nächsten falschen Frage in Tränen ausbrechen und sich aus dem Fenster stürzen, ist sie live ganz anders. Ihre burschikose Art, Witze zu reißen, passt nicht zu den heiser geraunten Wehklagen. Und ihr grober Ruhrpottslang gemahnt eher an Currywurstexzesse als an Todessehnsucht und produktive Depressionen. Schön für sie, natürlich, doch der Wirkung ihrer weiterhin spatzenhaft verletzlichen Leidenslieder tut das gar nicht gut.

Den Heimweg bewältige ich ganz leidlich, wozu die Stützkraft von Ms. Columbo nicht unwesentlich beiträgt. Ein zufällig verfügbares Pony wäre mir allerdings noch lieber gewesen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Katja Werker
1. „The first wind of the dawn“
2. „Pony ride on“
3. „No more prisoner“


28 März 2006

Der Penny-Fuchser

Es fehlen Bananen fürs Frühstück, und das um kurz vor halb zehn abends. Last exit: Penny, Reeperbahn. Wer noch nie eine Kiezfreakshow erlebt hat, kriegt sie hier jeden Abend für lau.

Der Laden ist gut gefüllt. Er scheint eine Sammelstelle für Heimatlose zu sein. Oder Ort einer Castingshow für einen Romero-Film. Ein Mann mit fettiger Johannes-B.-Kerner-Frisur und brutalem, leicht bäuerischem Zug um den Mund umklammert vorm Bauch eine Plastiktüte, als drehte er ihr den Hals um. Er scheint nichts kaufen zu wollen, er schaut nur. Ich bin recht froh, nicht Gegenstand seines Interesses zu sein.

Er mustert mich nur kurz und wittert weiter. Ich will nicht wissen, was sich in seiner Tüte befindet. Als ich zur Kasse komme, steht er wieder vor mir, und ich wechsle unauffällig die Schlange.

Beim Hinausgehen kommt mir einer mit Pferdegebiss entgegen. Seine Frisur erinnert fern an jene, welche die Bay City Rollers einst für einen kurzen Sommer etablierten und die in abgewandelter Form Rod Stewart bis heute trägt. Der Mann ist spindeldürr, das Substanziellste an ihm scheinen die stumpfsilbernen Ohrringe zu sein. Er taumelt an mir vorbei und dreht kurz den Kopf, um noch einen Fluch Richtung Ausgang zu schicken; dabei sehe ich, dass seine graugelben Zähne schwarze Ränder haben.

Draußen erwarte ich erfahrungsgemäß irgendjemand, dem der Ärger des Fluchenden galt. Doch nur die übliche Zombiearmada schlurft dumpf vorüber. Männer mit verbogenen Körpern, dürre Männer, unrasierte, die meisten umschlottert von tarngrünen Parkas, ihre Jeans sind verdreckt, oft tragen sie zerfranste Schiebermützen. Sie schauen schräg, mit dunkler, verhaltener Panik im Blick. Irgendwann wird sie hervorbrechen, das ist unvermeidbar, und es wäre nicht gut, dann in der Nähe zu sein.

Als ich mein Fahrrad vom Pfosten schnalle, tritt einer heran und sagt: „Hasse ma’n Hunni? Dann ma’ich Feierahmd.“ Mit Bedauern bescheide ich das abschlägig. Er erinnert physiognomisch an den TV-Mann Ulrich Kienzle, nur ist sein fetter grauschwarzer Schnurrbart wirrer, und ich kann mich nicht gegen die aufblitzende Vorstellung wehren, wie die längsten dieser Haare ihm beim Hackfleischessen in den Mund geraten.

„Oder’n büschen Kloingeld?“ Sein rechtes Auge ist blutunterlaufen, der ebenso blutergussschwarze Tränensack darunter reicht ihm fast bis an den Nasenflügel. Ich hantiere weiter am Fahrrad. An einem Stoffband um seinen Hals baumelt ein Handy. Es scheint neu zu sein. Seine speckige Hose wird von Trägern hochgezogen bis zu den Rippenbögen.

Er steht ganz nah vor mir. Zu nah. „Beinah“, raunt er, „hätt ich auf dein Fahhad auffepasst.“ Ich ziehe die Kette vom Pfosten, halte sie hoch und sage: „Das hat die hier schon erledigt, danke.“ Er stiert mich an, der Bluterguss unter seinem Auge scheint zu pulsieren. „Meinste“, fragt er, ohne zu lächeln, „die hätt ich nich aufgekricht?“

Als ich wegfahre mit meinen Ökobananen (Penny hat Ökobananen!), frage ich mich, woher er sein Handy hat. Und wozu er es braucht.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Heimatlose
1. „Only a hobo“ von Bob Dylan
2. „Me and Bobby McGhee“ von Kris Kristofferson
3. „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader