08 Dezember 2020

Fundstücke (249)

Solche Schlitten sieht man auf St. Pauli allerorten. Gewöhnlich möchte damit ein Lude sein hienieden erfolgreiches Wirken betonen.

Dieses am Hamburger Berg geparkte Exemplar aber widerlegt solche Vermutungen proaktiv – mit einem informativen Zettel hinter der Windschutzscheibe. 

Es handelt sich nämlich um ein … 


03 Dezember 2020

Neues aus St. Pauli (vor allem Skurriles)

Gestern gingen wir an der Simon-von-Utrecht-Straße lang und sahen einen jungen Mann mit langen Haaren, der wie schwebend über dem Gehweggeländer hing und mit Armen und Beinen zappelte. Zunächst dachte ich, er hätte beim Vornüberbeugen die Balance verloren, um deren Rückgewinnung er nun mit grotesken Schlenkereien kämpfte, dann aber schien mir ein epileptischer Anfall doch wahrscheinlicher. 


Ich beschloss auf Nummer sicher zu gehen und fragte: „Brauchen Sie Hilfe?“ Sofort rappelte der Mann sich auf, nahm Haltung an und sagte lächelnd: „Alles okay.“ Wir gingen weiter, nachhaltig irritiert. Einen Reim darauf können wir uns noch immer nicht machen – und verbuchen es einfach unter der in allen Farben einer Ölspur auf der Elbe schillernden Rubrik Kiezskurrilitäten.

Am Tag zuvor war mir etwas passiert, was allerdings eher weniger zu St. Pauli zu passen scheint. Um die Engstelle einer großen Baustelle in der Detlev-Bremer-Straße zu umfahren, wechselte ich mit dem Rad kurz auf den Gehweg. Der war allerdings versperrt, worauf mich ein mir in den Weg tretender Bauarbeiter auch freundlich hinwies. Neben ihm stand eine kleine Greisin, die mich anfunkelte und wie aus dem Nichts giftete: „Schade, dass nichts von oben runterfällt!“

Auf St. Pauli gehört ja – wer hier seit 2005 mitliest, weiß das besser als jene, die das nicht tun – die kleine Regelverletzung quasi zur Kernkompetenz, weshalb mich diese unverhohlen vorgetragene Gewaltfantasie doch ziemlich verdatterte. Wegen eines Schlenkers auf den Gehweg wünscht diese Rentnerin mir den Tod an den Hals oder zumindest einen Schädelbruch …? Na ja, wahrscheinlich ist sie zugezogen und habituell noch in Eppendorf.

Ganz und gar zum Kiez hingegen gehört das Filmemacherkollektiv FILM FATAL, dessen schön düster gestaltete Website zwar keinerlei Links enthält, dafür sein YouTube-Kanal umso mehr.

Das Team um die Produzentin Claire Bouillet hat vor zwei Jahren die tragikomische, fast durchweg auf St. Pauli spielende Webserie „Freelancers“ gedreht, auf die ich zu meiner Schande erst dank einer Mail der erwähnten Produzentin aufmerksam wurde. Bei „Freelancers“ handelt es sich um acht knackige Fünfminüter über das prekäre Gezappel dreier Zwangsselbstständiger – eine Thematik, die erst im Coronajahr so richtig an Durchschlagskraft gewonnen hat, weshalb FILM FATAL jetzt dankenswerterweise eine zweite Staffel hinterherschickt.

Das Ganze erinnert mich mit seinem traurigen Witz an die grandiose ORF-Serie „Schlawiner“, wobei „Freelancers“ deutlich ambitionierter gefilmt ist. Selten sah die sich im Schicksal der Protagonisten spiegelnde herbstliche Kieztristesse ästhetischer aus als durch den Blick der Kamera von Jerry Suen und Julian Harenberg – beide wie auch der Rest von FILM FATAL übrigens (natürlich) Freelancer.

Weil’s so schön ist, hier die Direktlinks zu allen acht Folgen der ersten Staffel (das Foto oben stammt aus Folge zwei):





27 November 2020

Fundstücke (248)


Warum seit einiger Zeit über der Mönckebergstraße ein geköpftes Brathuhn hängt, das einen Schlitten zieht, konnte mir auch noch niemand plausibel erklären.


05 November 2020

Fundstücke (247)


Zunächst dachte ich beim Anblick dieses über Nacht am Schornstein gegenüber angebrachten Flugzeugmodells an ein Mahnmal (oder eine Verherrlichung) im Gedenken an die Anschläge vom 11. September 2001. 

Beim Heranzoomen entpuppte sich die Installation allerdings als Kommentar zur US-Präsidentschaftswahl.



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Update 06.11.2020: Das Flugzeug ist schon wieder weg. Da steht die BILD, die heute im Hamburgteil darüber berichtet, aber ziemlich belämmert da.



27 Oktober 2020

Mein erstes & letztes Interview mit Tony Joe White

Vor zwei Jahren, am 24.10.2018, starb der unvergleichliche Songwriter, Gitarrist und Soulgrummler Tony Joe White, wegen dem ich sogar extra mal nach Amsterdam gefahren bin. Damals, als die Nachricht seines Todes mich erreichte, hatte ich vor lauter Bestürzung die Gelegenheit versäumt, ihm unser kurzes Interview von 2014 nachzurufen. Deshalb folgt es jetzt, zum zweiten Todestag.


mw: Mr. White, Ihr aktuelles Album „Hoodoo“ klingt wieder nach Ihren Anfängen Ende der 60er. Was macht diesen dunklen, erdigen Sound in Ihren Augen so zeitlos, dass Sie ihn im 21. Jahrhundert wieder aufwärmen?
Tony Joe White: Ich denke nie darüber nach, ob ich nach einer bestimmten Ära klinge, sondern versuche einfach so soulig wie mögich zu singen und zu spielen.

mw: Ihnen scheinen Atmosphäre, Langsamkeit, Intensität am wichtigsten zu sein. Hat das vor allem klimatische Gründe? Sie sind ja in den Südstaaten aufgewachsen …
White: Ja, auf einer Baumwollfarm in Louisiana. Die Zeit vergeht dort wirklich langsamer. Ich habe auch nie das Bedürfnis gehabt, etwas zu beschleunigen. Und das schlägt sich wahrscheinlich nieder in meinem Sprechen, Singen und Gitarrespielen. Das ist für mich alles dasselbe.

mw: Elvis hat ihr Lied „Polk Salad Annie“ gecovert. Was ist das für ein Gefühl, wenn ein Stück vor den Augen des King Gnade findet?
White: Na, ein großartiges! Ich hatte in den Clubs oft Elvis gecovert, bevor ich selbst anfing zu schreiben. Es war sehr cool, als er plötzlich einen meiner Songs aufnahm – und dann noch zwei weitere. Er war ein Held für mich, deshalb waren das sehr aufregende Zeiten.

mw: 1989 wahrscheinlich auch: Da packte Tina Turner gleich vier White-Songs auf ihr Studioalbum „Foreign Affairs“, das sie sogar nach einem davon benannte. Haben Sie manchmal damit gehadert, dass Künstler mithilfe Ihrer Songs zu Superstars wurden, während Sie bei Weitem nicht so bekannt sind?
White: Was für Elvis gilt, gilt auch für Tina Turner: Sie war meine Heldin. Dass sie vier Stücke von mir aufnahm, war grandios. Ich war damals auch mit ihr im Studio und habe Gitarre gespielt – da wurde ein Traum Wirklichkeit. Jedenfalls habe ich nie drüber nachgedacht, ob ich bekannt bin oder nicht. Nein, ich fand es immer wunderbar, wenn jemand meine Songs aufgenommen hat.


Foto: mw

23 Oktober 2020

16 Oktober 2020

Unter Corona (11): Prügeln nur noch mit Maske

In den vergangenen Wochen hatte man hier auf dem Kiez das Gefühl, als wäre nichts passiert und alles längst wieder beim Alten. 

Wenn ich Samstag früh auf dem Weg zum Bäcker wie üblich kurz vor neun auf dem Rad über den Hamburger Berg husche, tummelt sich dort längst wieder das kiezübliche Personal: in ihrer Kotze dahindämmernde Schnapsleichen, tätowierte Rumpöbler, rauchende Drallheiten mit Laufmaschen in den Strümpfen, obdachlose Krakeeler, einhertaumelnde Junkies mit verfilzten Haaren und imaginären Gesprächspartnern – und mittendrin in dieser postapokalyptischen Szenerie, gegen die das „Blade Runner“-Setting wie ein liebreizender Freizeitpark wirkt, versuchen mühsam sich am Riemen reißende Polizisten in Reflektorwesten irgendwie zu verhindern, dass alles endgültig aus dem Ruder läuft. 

Also alles so wie vor Corona. 

Nun aber muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten – denn mal ehrlich: Wer verbringt schon die ganze verdammte Nacht ausgerechnet auf dem Hamburger Berg außer Leuten, die jede Restkontrolle über ihr Leben verloren haben? –, nun also muss dieses elende Ensemble der Gescheiterten plötzlich damit zurechtkommen, zwischen Freitagabend um 18 Uhr und Sonntag früh um vier seinen trübseligen Vergnügungen auch draußen (vgl. die Karte oben) nur noch maskiert nachgehen zu dürfen. Und auch der Spritnachschub, der dafür sorgen könnte, dass die Lage viertelwegs erträglicher würde, ist nicht unbedingt garantiert. 

Zu welchen Verwerfungen um Kalle Schwensens willen wird diese neue Verordnung führen, hier in der Postapokalypse auf dem Hamburger Berg? Nun, ich nehme an, bestenfalls dazu, dass die Testosterontrottel sich weiterhin die Nasen zerdeppern, aber dank der Masken nicht mehr sagen können, ob die Trümmer darunter zu einer Hackfresse gehören oder nicht. Das wäre, wie gesagt, die positive Variante.

An diesem Wochenende werde ich mir das mal en passant anschauen – und neue Erkenntnisse natürlich gern mit Ihnen teilen, Ehrensache.



22 September 2020

Die gemütlichsten Ecken Hamburgs (161)

Pünktlich nach dem Verzehr zweier von Astraknollen flankierter Matjesbrötchen, die Nuggi’s Elbkate zur Verfügung gestellt hatte, geruhte die Sonne spektakulär unterzugehen.

Kann man machen.


19 September 2020

Bloggeburtstag Nr. 15


Das nächste halbrunde Jubiläum dieses Blogs  ereignete sich bereits vor drei Tagen, am 16. September – und ich habe es trotz eines vorsorglich eingerichteten Kalenderalarms verpasst. 

Deshalb hier nun eine kleine nachträgliche Gratulation an mich selbst dafür, dass dieses Projekt wahrhaftig noch immer existiert, wenn auch mehr schlecht als recht. Aber immerhin! Etwas hat überlebt, und von Zeit zu Zeit erhebt es sein krauses Haupt und erschreckt die Welt mit Reeperbahngeschichten. 

Nur wenige Wochen vorm fünfzehnten Bloggeburtstag hätte ich auch den fünfmillionsten Besucher begrüßen können, sofern entsprechende Tools in Betrieb wären, die mich darauf aufmerksam machen würden. Was nicht der Fall ist; und natürlich weiß ich auch nicht, ob die Fünfmillionenmarke nicht vielleicht von einer Besucherin geknackt wurde oder von jemand Diversem.

Aus der oben abgebildeten Grafik geht die monatliche Besucherstatistik der vergangenen zehn Jahre hervor. Man sieht recht deutlich, dass eine nachlassende Veröffentlichungsfrequenz – und an die erinnern mich manche, die regelmäßig hier vorbeischauen, mit liebevoll mahnenden Worten immer wieder, wofür ich sehr dankbar bin – auch einhergeht mit rückläufigen Besuchszahlen.

Wahrscheinlich bräuchte ich einfach nur eine Million weiterer Blogtexte zu veröffentlichen, und schon würde hier alles derart explodieren, dass mich das Internet auf meine alten Tage noch zum Influencer adelte. Und wissen Sie was? Vielleicht mach ich das auch!

Und jetzt stoßen Sie bitte mit mir an auf die nächsten fünfzehn Jahre Rückseite der Reeperbahn. Es war und ist schön mit Ihnen, und so wird es auch bleiben, da bin ich mir sicher. Ziemlich.



23 August 2020

Warum ruft er bloß die Bullen nicht?


Nach dem Ausbruch der Coronakrise hatte die Rabatzfrequenz unterm Balkon deutlich abgenommen. Aber ganz allmählich zieht sie wieder an. Heute Nachmittag zum Beispiel: Rabatz unterm Balkon! Also Blick über die Brüstung.

Unten flitzt ein junger Mann die Seilerstraße (Archivbild) lang, überholt ein gemütlich dahin karriolendes Fahrrad, klammert sich am Lenker fest und zwingt es so zum Halten. Auf dem Rad sitzt ein kompakter, ansatzweise ergrauter Typ in seinen Vierzigern, mit Shorts und Übergrößen-T-Shirt. Aus der Brüllorgie, die der Jüngere ihm unter Missachtung aller Abstandsregeln ins Gesicht fetzt, schließe ich rück, dass Letzterem gerade das Fahrrad geklaut wurde. Und zwar von dem kompakten Typ, der darauf sitzt.

Ein Dieb wird in flagranti erwischt, in aller Öffentlichkeit der Tat bezichtigt und geht am Ende der Beute verlustig: Das erlebt man auch auf St. Pauli eher selten. Bisher eigentlich noch nie.

Zunächst aber bleibt der Mann auf dem Sattel einfach stumm sitzen und hört sich an, was der Jüngere noch so alles zu brüllen hat, zum Beispiel: „Steig endlich ab!“ Schließlich löst sich der Mann aus seiner Lähmung und kommt diesem Ansinnen nach. In aller Ruhe steigt er vom Rad, nimmt noch etwas Kettenartiges vom Lenker (das scheint definitiv ihm zu gehören, denn der Jüngere interveniert nicht) und schlurft gelassen davon.

„Kannst froh sein“, schreit der Fahrradeigentümer ihm hinterher, „dass ich nicht die Bullen rufe!“, und ich frage mich augenblicklich: ja, warum denn eigentlich nicht? Warum rufst du nicht die Bullen? Was um der Davidwache willen wäre falsch daran? Endlich könnten die – statt immer nur hoffnungslose Anzeigen aufzunehmen – mal einen der sonst so verlässlich Davonkommenden hopsnehmen. Stattdessen schlurft der Dieb gelassen davon und widmet im Vorübergehen den unterm Haus am Geländer angebundenen Rädern einen interessierten Blick. Auch meinem.

Der beinah Bestohlene ruft ihm derweil weiter Beschimpfungen hinterher, darunter das immer wieder gern genommene „Wichser!“. Ob diese Bezichtigung hier berechtigt ist, dafür kann ich von meiner Balkonwarte aus jedoch keine konkreten Indizien benennen. Und dafür bin ich sehr dankbar.


 

15 August 2020

09 August 2020

Jetzt aber: eine Lebendfalle!


Unser seit einem Dreivierteljahr hin und her wogender Kampf mit Supermaus ist in eine neue Phase eingetreten. Monatelang hatten sich Giftköder und Schlagfallen als untaugliche Mittel erwiesen. Der Maus entlockten sie längst nur noch ein müdes Schnurrhaarwackeln. 

Die Überwachungskamera zeigte in deprimierender Allnächtlichkeit, wie der Minisäuger zunehmend desinteressiert den Parcours abschritt; ein immer routinierterer Slalom durch ein Minenfeld, das er längst kartiert hatte. 

Also musste eine neue Strategie her. Deshalb bestellte ich nach dem Rat eines Bloglesers im Internet eine Lebendfalle. Zwei Zugänge, als Wippen konstruiert, führen ins Innere des Kastens. Dort platzierte ich in der Mitte einen ordentlichen Klecks Schokocreme samt einer verführerisch duftenden Walnuss obendrauf. Der Weg in die Falle war simpel, der wieder hinaus unmöglich. Eine so geniale wie einfache Konstruktion. Und ich würde mich keines Mordes an einem Mitgeschöpf schuldig machen müssen, das wäre ein durchaus angenehmer Nebeneffekt. Denn eigentlich haben Ms. Columbo und ich ja gar nichts gegen die Maus, wir mögen halt nur nicht mit ihr unter einem Dach leben. Sie beteiligt sich schließlich nicht mal an den Nebenkosten.

In freudiger Erwartung stellte ich die Lebendfalle dort auf, wo die Maus sich allnächtlich am liebsten tummelte: auf dem IKEA-Flokati unterm Esstisch. Vorher hatte ich die bisher so nutzlosen todbringenden Waffen alle abgebaut. Schließlich sollte eine neue Strategie etabliert werden, und Kriegstaktiken darf man nicht vermischen, das hat schon Clausewitz gesagt. Oder auch nicht, ich habe ihn nie gelesen. 

Wie auch immer: Am ersten Morgen dieses neuen Zeitalters checkte ich die Kamera und sah – nichts. Die Maus war nicht ins Blickfeld geraten. Ebenso wenig am Folgemorgen. Auch die Kastenfalle blieb öde und leer. Am dritten Morgen aber waren sechs Bilder auf der SD-Karte. 

Sie zeigten die Maus, wie sie aus respektvoller Entfernung den Kasten musterte. Dabei bewegte sie sich kaum, ganz so, als studierte sie die neue Sachlage intensiv, als machte sie sich ein genaues Bild der veränderten Situation. Am Folgetag ein ähnliches Bild. Diesmal allerdings wagte sie sich näher heran; das heutige Foto dokumentiert ihren Terraingewinn sehr gut. 

Aber in die Falle tappte der Nager noch immer nicht, und ehrlich gesagt bin ich auch längst insgeheim davon überzeugt, dass dies niemals geschehen wird – unabhängig davon, was immer ich oder irgendein Vergrämer auch unternehmen werden. Diese Maus wird never ever so unvorsichtig sein und nur aufgrund von Schokocremeduft einen unbekannten Gang betreten. Das täte sie nur, wenn sie sicher wäre, auch wieder unbeschadet herauszukommen – wie damals, als sie das Stück Käse aus der scharfen Schlagfalle holte und damit Fußball spielte.

Woher die Maus weiß, was sie tun darf und was nicht? Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich, und das hätte mir schon früher dämmern sollen: Friedliche Koexistenz ist eigentlich auch was sehr Schönes. 

Die Lebendfalle bleibt trotzdem vorerst einmal stehen. Ein wenig nächtliches Entertainment hat unsere Maus sich redlich verdient – nicht dass sie sich noch zu Tode langweilt, das würde ich mir nie verzeihen.



19 Juli 2020

Die gemütlichsten Ecken Deutschlands (159)


Ein Baum am Brodtener Steilufer an der Ostseeküste (53.983547, 10.880196). Selbst gestützt.


Foto: Ms. Columbo

08 Juli 2020

Unter Corona (9): If 16 was 19

Am Sonntag hatten wir in Herborn noch eine Dreiviertelstunde Zeit, bis unser Zug abfuhr, und die verbrachten wir im kulinarisch empfehlenswerten Café Zarnitz, nur wenige Schritte entfernt vom Bahnhof. 

Als man uns die Rechnung über die beiden konsumierten Espressi überreichte, fiel mir ein Detail ins Auge: Der Bon wies 19 Prozent Mehrwertsteuer aus – obwohl doch am 1. Juli der Satz auf 16 Prozent abgesenkt worden war, um unsere durch Corona geschrumpfte Konsumbereitschaft zu befeuern. Doch hier im Café Zarnitz schien man davon nichts wissen zu wollen – und machte auch keinerlei Hehl daraus; der Kassenzettel gab sich da entwaffnend offen. 

Keineswegs aus Knauserigkeit, sondern aus purer Neugier ging ich zum Chef und sprach ihn auf diesen Umstand an. Warum also weiterhin 19 statt – wie es die aktuelle Gesetzeslage erforderte – nur noch 16 Prozent? Der Zarnitz-Chef gab bereitwillig Auskunft: Wegen dieser sieben oder acht Cent, erklärte er, würde er doch nicht die Kasse umrüsten; das käme ihn viel zu teuer.

Aha. Die Sache, fand ich, begann interessant zu werden. Aber wie, wollte ich weiter wissen, regele er das denn mit dem Finanzamt? Nun, jeden Abend, erläuterte der Chef freimütig, setze er sich ans Kassenbuch und verwandele die 19 in 16 und die sieben in fünf Prozent. Dann stimme alles wieder. „Aber Ihre Kunden“, wandte ich ein und meinte damit auch mich und Ms. Columbo, „haben doch 19 und sieben Prozent bezahlt …?“ Er lächelte säuerlich und zuckte wortlos mit den Schultern. 

Ich bedankte mich herzlich für seine offenen Worte und verabschiedete mich. Doch dieses kleine Erlebnis hallte noch eine Weile nach. Das tut es immer noch. So wüsste ich zum Beispiel gern, was unser Finanzminister von diesem kreativen – man könnte auch sagen: kontraproduktiven – Umgang mit seiner Rezessionsbekämpfungsmaßnahme hielte. Hoffentlich liest Olaf Scholz diesen Blogeintrag und nutzt die Kommentarfunktion. 

Leider vergaß ich, testweise das Bezahlen unserer Espressirechnung zu verweigern mit den Worten „Wegen der vier Euro hole ich meine Girokarte nicht aus der Tasche, das wäre mir viel zu aufwendig“. Die Reaktion des kontrakreativen Zarnitz-Chefs hätte mich schon interessiert.

Sollte ich diesen Reaktionstest demnächst in Hamburg mit einem hiesigen Probanden nachholen, werde ich Sie in Echtzeit informieren. Bei Bons jedenfalls lese ich ab jetzt immer das Kleingedruckte.