07 Dezember 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (38): Unser Treppenhaus



Morgens auf der Straße Blutspuren vorzufinden, ist ja schön und gut.
Aber im Haus, vor der Wohnungstür …?

Danke auch, St. Pauli.

06 Dezember 2010

Ein narrensicheres Geschäftsmodell



„Wir sind gleich für Sie da“, flötet mir die lenorgespülte Frauenstimme der Alice-Hotline ins Ohr, und ich übe mich mit der mir eigenen buddhaesken Gelassenheit in Geduld.

Wie oft wiederholt sich diese Vertröstungsflöterei eigentlich im Lauf von drei Minuten? Dummerweise habe ich nicht mitgezählt, aber jetzt würde es mich interessieren.

Plötzlich etwas Überraschendes: ein Freizeichen! Wie aus dem Nichts ist eine Frau Orff oder so dran, die mir augenblicklich erklärt, wegen Wartungsarbeiten könne sie gerade meine Daten nicht aufrufen, ich möge mich doch zu einem späteren Zeitpunkt wieder melden – und klick! legt die Orff auf.

Vielleicht handelte es nicht mal um eine reale Frau, sondern um eine weitere Stimme vom Band, doch das ist nicht weiter wichtig. Denn das dahintersteckende Geschäftsmodell ist einfach elektrisierend. Hier das Szenario.

Ich könnte – die Basisfinanzierung vorausgesetzt – Alice mitsamt Kundenstamm aufkaufen und ein automatisiertes Callcenter ohne Beschäftigte aufbauen. Computer mit lenorgespülten Vertröstungsflöten hielten jeden Anrufer drei Minuten in der Warteschleife (= 42 Cent Gesamtertrag pro Anruf), ehe sie ihn bitten, später noch einmal anzurufen – und auflegen.

Eine todsichere Sache. Wenn ich unzufrieden wäre mit der Höhe der monatlichen Erlöse, verlängerte ich die Warteschleife einfach auf fünf Minuten (= 70 Cent). Da ich bei diesem genialen Modell nur Server-, aber keinerlei Personalkosten hätte, dürfte innerhalb weniger Monate ein hübsches Sümmchen rumkommen.

Sobald der unweigerliche Flamewar gegen diese Methode in den einschlägigen Foren allzu sehr hochkochte, würde ich Alice schnell weiterverkaufen, zum Beispiel an Vodafone.

Zurück zur Realität, in der jemand anderes dieses Geschäftsmodell bereits praktiziert, nämlich Alice. Vorher hatte ich versucht, mein Problem per Mail zu lösen. Es dauerte nur eine Woche bis zur Antwort. Sie lautete: „Besuchen Sie unseren FAQ-Bereich im Internet.“

Na ja, es gibt sowieso schönere Dinge im Leben als den „Dialog“ mit Telefonunternehmen. Zum Beispiel St. Pauli im Winter. Im Vordergrund: der mitleiderregendste Schneemann der Welt.




04 Dezember 2010

Fundstücke (116): Lose Zusammengekehrtes



1. So einen Chart wie heute Nachmittag sieht man selten. Und zudem höchst ungern.



2.
Laut Spiegel online hat die Nasa in den unendlichen Weiten des Weltraums einen Landeplatz entdeckt. Wenn das doch Cpt. Kirk noch erlebt hätte!



3. Kaum wird’s Advent, orientieren sich all meine Blogstatistiken an der Zahl 666. Ist vielleicht jemand hier, der einen ordentlichen Webzorzismus durchführen kann?



4. Vielleicht macht Herr Glaser der Frau Kopetz gerade ein Kompliment, vielleicht ist er aber auch nur hämisch. Die Dialektik der Gefällt-mir-Kultur. Die Schizophrenie der Likelakaien.

5. Eine Pflicht-URL für Ihre Lesezeichenliste: http://213.251.145.96/.


03 Dezember 2010

Auf der Reeperbahn nachts im Schneeweiß



Unterm knusprigen Knirschen des Pulverschnees verschwindet der ganze Siff von St. Pauli.

Die unbeschreiblichen Flecken auf dem Pflaster der Reeperbahn, das Urinodeur, welches die Sockel der Häuser unablässig ausdünsten, die eingetrockneten Pfützen von letzter Samstagnacht: alles versteckt unterm großen Weiß. Und sogar die Tabledanceschuppen ragen harmlos und gemütlich aus dem Schnee.

Ein Koberer, an dem ich heute so rasch wie elegant vorbeischlittern wollte, trat mit den jahreszeitlich kompatiblen Worten „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ und wildem Raufen seiner Wollmütze an mich heran, was mich zum Lachen brachte.

„Danke, ich habe einen Termin“, sagte ich vollkommen wahrheitsgemäß, noch ehe er seine zweifellos originelle Einleitung mit haltlosen Versprechungen aufhübschen konnte. Inzwischen lief er allerdings hoffnungsfroh neben mir her. „Du bist nur schüchtern!“, theoretisierte er nassforsch. Mittlerweile waren wir aber beim Paradise angelangt, und das ist Konkurrenzrevier – ich war ihn augenblicklich los.

Im Beatlemania, meinem Ziel, spielte heute Abend die Bochumer Nachwuchsband Frida Gold, die bestimmt mal ganz groß wird in den Charts, so wie Silbermond zum Beispiel, zumal sie demnächst im Vorprogramm von Kylie Minogue gebucht ist.

Songzeilen wie „Komm zu mir nach Haus/dort sieht es gut aus“ sind zwar noch nicht der Weisheit letzter Schluss, dafür aber hundertprozentig der Hintern der Sängerin, den sie zu unser aller Freude in eine krampfaderngefährdende Latexhose gezwängt hatte.

Auf dem Heimweg knirschte der Pulverschnee noch knuspriger als vorhin, und all die Koberer, die sich auf dem Hinweg noch auf mich gestürzt hatten wie die Tauben auf dampfende Dönerreste, ließen mich jetzt in Ruhe.

Vielleicht haben diese Menschen doch so etwas wie ein Gedächtnis.


02 Dezember 2010

Kein Kind dank Kegel



Am Bahnhof Jungfernstieg versucht man übermütige Jugendliche mit einer besonderen Maßnahme von Rutschpartien zwischen den Rolltreppen abzuhalten.

Keine Ahnung, wie die in regelmäßigem Abstand drapierten Kegel (siehe Bildmitte) in der Fachsprache heißen, aber sollten sie noch keinen speziellen Namen haben, plädiere ich für Kastrationsdildo.

Besonders geeignet scheinen sie nämlich für Männer zu sein, die sich eh für eine Sterilisierung entschieden haben – und das Geld für den Chirurgen sparen wollen.

Wie die Dinger hingegen auf Frauen wirken, ist mir ordnungsgemäß völlig schleierhaft.



01 Dezember 2010

Das entscheidende Steak



Im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt sind auf St. Pauli viele Leute nicht gut bei Kasse. Und im Supermarkt wird das manchmal evident.

Neulich bei Edeka steht einer in der Kassenschlange vor mir, der von dem Rechnungsbetrag, den die Kassiererin ihm für seine Einkäufe nennt, nicht sehr erbaut ist. 21,55 Euro? So viel hat er einfach nicht dabei. Höchstens so um die 15.

Der Mann ist ein kleiner südländischer Typ mit Baskenmütze, zwischen Unterlippe und Kinnspitze trägt er einen vertikalen Bartstreifen. Ansonsten guckt er stoisch. In aller Supermarktöffentlichkeit der temporären Zahlungsunfähigkeit überführt zu werden, scheint ihm nicht peinlich zu sein, eher zum innerlichen Seufzen.

Jedenfalls rührt sich nichts in seinem Gesicht. Stattdessen mustert er kurz die Einkäufe und entscheidet sich für einen Fünfkilosack Kartoffeln. Den gibt er zurück. Die Kassiererin storniert den Sack und schüttelt den Kopf.


Der Mann entscheidet sich jetzt für Tomatenketchup, allerdings verfehlt er erneut die Zielvorgabe, die Kassiererin lächelt bedauernd. Nun erwischt es eine Riesenflasche Limonade, doch es ist immer noch zu wenig.

Sei froh, dass du die ungesunde Zuckerplörre los bist, höre ich mich denken. Der Unmut in der Kassenschlange hält sich derweil in Grenzen, obwohl Mr. Vertikalbart den Betrieb auf unzulässige Weise aufhält. Denn mal ehrlich: Mit ein wenig angewandtem Kopfrechnen während des Einkaufs wäre die missliche Lage, welche durch unsere unfreiwillige Zeugenschaft keineswegs verbessert wird, leicht zu vermeiden gewesen.

Doch stillschweigend scheinen alle anstehenden St. Paulianer Verständnis zu hegen für seine Situation. Zu wenig Geld: Das kennen hier viele. Man guckt nur sparsam, man grinst nicht mal, und keiner spricht.

Nach einer kleinen Beratungspause, nach einigem inneren Hin und Her hat sich der Mann nun für ein eingeschweißtes Schweinesteak mit schneeweißen Fettadern entschieden, dessen vermeintliches Schicksal es noch vor wenigen Minuten war, einen Teller mit Kartoffeln und Tomatenketchup zu teilen und mit ungesunder Zuckerplörre hinuntergespült zu werden.

Und endlich klappt es. Er ist unter 15 Euro Gesamtrechnung, sein Budget vermag den Rest der Einkäufe abzudecken. Hätte ich genauer hingeschaut, würde ich jetzt die absoluten Prioritäten der Baskenmütze kennen. Ich wüsste, was wirklich unverzichtbar für ihn ist, wenn es schon das Steak mit den schneeweißen Fettstreifen nicht war.

So aber werden wir es nie erfahren.

30 November 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli Hamburg (37): Alles Gold, was glänzt



Die Tapete im renovierten Passage-Kino in der Mönckebergstraße ist derart hinreißend, dass ich sie kurzerhand zum formatfüllenden Bildschirmhintergrund meines MacBook Pro gemacht habe.

Welchen Film die Passage zeigt, ist in Anbetracht des Wandschmucks eher zweitrangig – obwohl die meisten der 187 Minuten von „Carlos, der Schakal“ durchaus ihre Reize haben.

28 November 2010

Wieder mal ein Beitrag „gegen Tiere“

 
Der alte leerstehende Kaufhauskomplex namens Frappant in Altona soll abgerissen werden, weil das Möbelhaus Ikea an gleicher Stelle ein Filialgebäude errichten will. Vorher, heißt es in der jüngsten Mopo am Sonntag, müssten allerdings tierschutzgesetzgemäß die dort nistenden „Taubenbabys“ umgesiedelt werden. 

Wie bitte …? Selbst wenn „Taubenbabys“ (vulgo: Küken) wirklich existierten, wäre das eine markerschütternde Nachricht, denn aus diesen kleinen Federknäueln entstünden bei entsprechender Fütterung unweigerlich ausgewachsene und fatalerweise flugfähige Vögel, und diese Biester schlügen irgendwann mit tödlicher Sicherheit hier auf unserem Balkon auf. 

Doch es gibt ja zum Glück in Wahrheit gar keine Taubenküken, oder hat irgendjemand von Ihnen schon mal welche gesehen? Na bitte. Ms. Columbo vertritt übrigens die plausible Theorie, Tauben durchliefen alternativ zum Kükenstadium Terrorcamps im Nahen und Fernen Osten und würden nach der Abschlussprüfung direkt nach Hamburg importiert, um die geschilderten Anschläge auf unseren Balkon durchzuführen (leider sind es keine Selbstmordattentate). 

Ich plädiere übrigens schwerstens und ganz generell dafür, Tauben mit aller gebotenen Härte zu Zugvögeln umzuschulen – und den afrikanischen Ländern, in denen sie überwintern, üppige Prämien dafür zu zahlen, dass sie ihnen im Frühling keine Ausreisevisa mehr ausstellen. Die angebliche Umsiedlung von „Taubenbabys“ in Altona unter Federführung von Ikea ist jedenfalls schon jetzt der schlechteste Witz der gesamten Adventszeit, dabei hat die gerade erst begonnen. 

Neben Tauben gibt es übrigens auch Pferde. Sogar alte – und die verfügen erstaunlicherweise über ein Diskussionsforum im Internet. Von dieser Skurrilität hätte ich niemals erfahren, wenn nicht zurzeit eine erkleckliche Zahl Blogbesucher von ebendort auf die Rückseite der Reeperbahn umgeleitet würde. 

Kennt irgendwer den Grund? Ich möchte mich ungern selbst dort anmelden, zumal ich nicht mal einen alten Maulesel besitze, geschweige denn einen im Rentenalter.

27 November 2010

Fundstücke (115)



Man könnte dem Verfasser dieses Infozettels natürlich einfach einen Fehlgriff in der Vokabelwahl unterstellen und schmunzelnd zur Tagesordnung übergehen, doch der Zettel hängt nicht in irgendeinem Eiscafé, sondern ausgerechnet in: Poppenbüttel …

Den Rest kann man sich ja wohl denken, nicht wahr.

26 November 2010

„Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“



Hamburg ächzt unter der Last der Schulden, und was tut die Regierung? Rauscht mit dem Mähdrescher durch das eh nicht mehr reich bestellte Feld der hanseatischen Kultur. Was nicht komplett plattgemacht wird, kommt zumindest in den Genuss einer Amputation.

Wie die Hamburger Bücherhallen: weniger Zuschüsse, dafür mehr Personalabbau. Fünf davon sollen sogar ganz dichtgemacht werden.

Das rührt mein Herz, als Bürger dieser Stadt bin ich gefragt, unbürokratische Hilfe ist erforderlich. Und so nutze ich einen Urlaubstag, um zu Hause die Regalwand nach entbehrlicher Lektüre zu durchforsten. Eine großzügige Sachspende soll die Not der hanseatischen Bücherhallen lindern, auf dass ein Teil der wegfallenden Zuschüsse kompensiert werde.

Am Ende der Aussortieraktion beherbergt der größte auffindbare Rollkoffer eine erstaunliche Zahl von Werken u. a. der Weltliteratur. Ich kann ihn kaum mehr anheben; eine Umhängetasche entlastet den Trumm wenigstens soweit, dass ich ihn die Treppen hinabwuchten kann. Danach wird er durch St. Pauli gerollt. Auch kein Spaß, aber machbar.

Als ich nach 20-minütigem Gerumpel leicht erschöpft in der Bücherhalle vorstellig werde, ist meine Vorfreude groß auf die strahlenden Augen, die sie dort gleich machen werden. Hoffentlich fallen mir die Bücherhallenbediensteten nicht vor Freude weinend um den Hals; mit so was kann ich nicht gut umgehen, das weiß ich.

Doch ich nehme mir fest vor, mit souveräner Verlegenheit zu reagieren auf jene umflorte Rührung, die nur Existenzgefährdete aufzubringen wissen, denen in Gefahr und großer Not ein tapferer Altruist zu Hilfe eilt.

Eine ältere Dame tritt zögernd hinterm Tresen hervor und mustert grußlos mein Gepäck. „Guten Tag, ich möchte Ihnen Bücher spenden“, eröffne ich ihr strahlend unter Vermeidung jedes übertriebenen Pathos, während ich den gewaltigen Rollkoffer ächzend auf den Rücken lege.

„Das sind bästimmt viellä“, prognostiziert die Dame. Trotz ihres osteuropäischen Akzents vermag sie eine Skepsis spürbar werden zu lassen, die ich ehrlich gesagt zuallerletzt erwartet hätte. Wo sind die Tränen der Rührung, wo die vorauseilende Dankbarkeit?

Ich öffne den Koffer. Sie schaut, als wollte ich ihr Hedgefondsanteile andrehen. „Da müssen wirrr errst einmal schauän“, murrt sie und beginnt die Bücher in Augenschein zu nehmen. Manche stapelt sie auf den Tresen, andere legt sie zurück in den Koffer.

„Wollen Sie jetzt etwa die Bücher einzeln durchschauen?“, ärgere ich mich. Oh ja, das will sie. „Ich möchte sie aber nicht mehr mitnehmen“, sage ich. „Ich bin schließlich extra hergekommen, um sie zu spenden.“ Die Überbetonung des Verbs ist mein letzter Versuch, doch noch jene Dankbarkeit hervorzurufen, die ich eigentlich als freiwillige (und einzige) Gegenleistung erwartet hatte.

„Dann soll ich brrringen sie zu Altpapier? Muss ich entsorrrgen Ihrrre Müll?“ Ganz klar: Diese Frau verfügt nicht nur über einen osteuropäischen Akzent, sie ist Stalins kleine Schwester.

„Wie bitte? Da ist kein Müll dabei!“, zische ich mit schneidender Ruhe, unter der hoffentlich das Glosen des Empörungsvulkans hervorscheint. Längst fühle ich mich gekränkt und entwürdigt sowie tief verletzt in meiner Altruistenehre.

Stalin ist davon völlig unbeeindruckt und weiter am Aussortieren. Mao nimmt sie, Lenin verschmäht sie. Mordillo: weg. Kierkegaards „Gott nötig haben ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, gebunden, Furche-Verlag, Berlin, 1939: in ihren Augen Müll. Auch Zola wandert zurück in den Rollkoffer.

Diese postsowjetische Banausin ist offensichtlich noch immer geprägt von der totalitären Willkürherrschaft ihrer Jugendzeit – und hat die ihrer Ansicht nach besten Seiten dieser Methode in die Welt der Bücherhallen hinübergerettet.

Jetzt will sie sogar Mario Puzos „Omerta“ nicht. Meine Güte, Puzo hat „Der Pate“ geschrieben! Alle zehn Finger würde sich die büchervernarrte Kiezjugend lecken nach so einem Fachmann für das auch hier gut organisierte Verbrechen.

„Sie wollen selbst den Puzo nicht?“, frage ich wie erstarrt den Bücherhallendrachen. „Na gutt, könne Sie lägge auf Värschänkdisch“, vernichtet sie mich final. Wie in Trance lege ich den Puzo auf den Värschänkdisch.

Dieser Tag hat eine ganz andere Wendung genommen, als ich erwartet hatte. Die Hamburger Bücherhallen wollen meine Bücher nicht mal geschenkt. Zumindest nicht alle. Ehe ich an Leib und Seele beschädigt wieder hinausrolle mit dem abgelehnten Bücherrest, brumme ich ihr noch ein „Mich sehen Sie nicht wieder“ zu, was die Gulagwärterin mit einem unbeeindruckten „Gutt, gutt!“ abtut.

Ich schmuggle noch heimlich ein Exemplar von Mark Perrymans „1. FC Philosophie. Flach denken – hoch gewinnen“ auf den Värschänkdisch, aus Rache. Denn mein Altruismus ist längst erloschen und hat anderen, dunkleren Gefühlen Platz gemacht.

Auf dem Heimweg drängt es mich aus purer Frustkompensation ins Caffè Latte; einen Trostbrownie gibt’s da für 1,90. Die Hamburger Bücherhallen werden also ausgehungert, sorgen aber im Gegenzug dafür, dass ich dick werde.

Wie nennt man noch mal das Gegenteil einer Win-win-Situation?

25 November 2010

„Halt’s Maul, du Nazi!“



Manchmal will ich gar nicht wissen, welche Geschichten sich hinter den Gesprächsfetzen verbergen, die ich so mitkriege.

Zum Beispiel neulich die im Fitnessclub. Ich kleidete mich wieder einmal zufällig in Sicht- und Hörweite des Hulk um. Diesmal telefonierte er, und zwar ähnlich brachial, wie Inkasso-Henry gewöhnlich trainiert.

„Du, Torben, grüß dich, ne“, rief der Hulk mit seiner dünnen Stimme, die der bergigen Anmutung seiner Physis Hohn spricht. „Du, der Neger hat sich nicht gemeldet, ne. Jetzt haben wir keine Einnahmen, ne.“

Im Nacken hat der Hulk übrigens ein riesiges eisernes Kreuz tätowiert, das ist mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen. Der Hulk arbeitet bestimmt auf St. Pauli, da würde ich meinen letzten Dollhouse-Dollar drauf verwetten.

Apropos St. Pauli: An einer Fußgängerampel nahe der Kneipe Blauer Peter (Foto) bekam ich unlängst ebenfalls anderthalb Gesprächsfetzen mit, deren Hintergrund mich allerdings schon sehr interessiert hätte.

Gegenüber stand eine Gruppe von Leuten. Als die Ampel grün wurde, löste sich ein Mann aus der Gruppe, der auf eine Ron-Wood-artige Weise gesichtsverwittert war. Seine Augen glühten wie zwei Eierbriketts, und er brüllte, ohne sich umzudrehen: „Halt’s Maul, du Nazi!“

Als er die Mitte der Fahrbahn erreicht hat, brüllte er es noch mal auf die gleiche starre, glühende Weise, und in diesem Augenblick lief ein junger Typ von etwa 20 Jahren aus der Gruppe gegenüber hinter Ron Wood her, gab das Vorhaben aber schon nach wenigen Metern wieder auf.

Sein so schnell wieder erschlaffter Verfolgungsimpuls konnte verschiedene Ursachen gehabt haben. Entweder er war Nazi, mochte aber nicht so genannt werden, oder er war keiner – und wollte erst recht nicht so genannt werden.

Jedenfalls kam es zu keiner weiteren Konfrontation, nur ein zweifach gebrülltes empörtes „Halt’s Maul, du Nazi!“ echote noch eine Weile durch die Simon-von-Utrecht-Straße, zumindest vor meinem inneren Ohr.

Der Hulk jedenfalls hätte sich das alles nicht bieten lassen. Von Ron Wood schon mal gar nicht.


23 November 2010

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (36): Beckers Passage



Im Eingangstunnel von Beckers Passage, der zu einem erquickend ruhigen Wohnareal zwischen zwei turbulenten Straßen auf St. Pauli führt, herrscht in der Regel olfaktorische Dialektik.

Tagsüber mischt sich der Fladenbrotduft eines benachbarten Dönerladens mit dem Liebreiz allmählich eintrocknenden Urins. Nachts aber gewinnt alles an Eindeutigkeit, an Schärfe, an Unbedingtheit.

Dann nämlich fällt der Fladenbrotduft weg.

22 November 2010

15 und blind



Vor unserer Haustür umbrandet mich unversehens eine Gruppe wohlgemuter Schüler. Ein etwa 15-jähriger Pickelbube mit Mod-Gedächtnisfrisur löst sich und spricht mich an.

„Entschuldigung“, sagt er mit einem Grinsen, das ebenso nassforsch ist wie verlegen, „wissen Sie, wo hier das Sexkino ist?“

Das Sexkino? Es ist verdammt schwer, Bursche, es im Verlauf der Seilerstraße bis hierher geschafft zu haben, ohne über diverse Etablissementes dieser Provenienz zu stolpern, aber nun gut. Von 15-Jährigen darf man wohl vieles verlangen, aber nicht, dass sie nicht blind sind.

„Davon gibt es hier viele“, erläutere ich daher nachsichtig, „sucht euch eins aus.“ Was ich in diesem Moment nicht bedacht habe: dass die Jungs – sofern die Türsteher ihren Job richtig verstehen (wollen) – gar nicht reingelassen werden.

Aber das müssen die doppeldeutig grinsenden Pickelbuben schon selber lernen. Bin ja schließlich nicht das Frl. Krise.

21 November 2010

Halbwegs trinkbar (für den Ausguss)



Dieser bei Edeka neu ins Sortiment genommene Wein schmeckt wie ein angegammelter Putzlumpen, den jemand zwei Wochen lang in feuchtem Heu vergessen und danach zur Tarnung parfümiert hat (nur war im Flakon versehentlich Katzenpisse).

Ich hatte mich von zweierlei locken lassen: a) dem Etikett „Bio“ und b) dem Bügelverschluss. Fand ich a) unterstützenswert und b) originell.

Auf den Gedanken, dass der Wein c) bäh sein könnte, war ich beim Kauf nicht gekommen. Dabei ist es völlig unmöglich – und das sollte ich nach mehreren Verkostungsjahrzehnten eigentlich längst wissen –, für 3,79 Euro eine auch nur halbwegs trinkbare Flüssigkeit auf Traubenbasis herzustellen.

Man darf ja öffentlich nicht zum Boykott von Waren auffordern, und das würde ich natürlich auch unter keinen Umständen tun. Aber wenn ich ich wäre, würde ich diesen Wein nie mehr in meinem ganzen Leben und weit darüberhinaus noch einmal kaufen.

Mal sehen, ob er wenigstens dem Ausguss schmeckt.

20 November 2010

Grüner geht’s noch



Bei der Bundestagswahl 2009 wählten knapp 30 Prozent der St. Paulianer die Grünen zur stärksten Partei des Stadtteils. Von denen kann es nach menschlichem Ermessen ja nun keiner gewesen sein, der den Stapel Monitore ins Herbstlaub der Hein-Hoyer-Straße gepfeffert hat.

Im Verdacht habe ich eher einen CDU- (9,8 %) oder FDP-Wähler (6,5 %), wobei die Wahrscheinlichkeit, es bei diesem Kaltentsorger mit einem Blass- oder Tiefroten zu tun zu haben (SPD: 21,4, Die Linke: 24,2) vielleicht nicht unbedingt ideologisch, aber statistisch am größten ist.

Auf dem Rathausmarkt merkt man übrigens, dass die Grünen die Stadt mitregieren. Schon die unnatürliche Symmetrie des dort aufgestellten Weihnachtsbaums erregt Argwohn. Schaut man sich das Konstrukt dann genauer an, erkennt man enttäuscht einen schnöden Kran, an dem ein nach oben spitz zulaufendes Leinengeflecht befestigt ist. Es hält Tausende von Lämpchen, die hoffentlich mit erneuerbarer Energie versorgt werden, in starrstmöglicher Form.



Flair hat das Ding nicht. Doch dafür steht halt irgendwo noch eine unversehrte Fichte und atmet tief durch. Das würde ich von mir auch gern sagen. Allerdings fördern die Monitore im Herbstlaub der Hein-Hoyer-Straße eher die Schnappatmung.

Wenn die morgen noch da sind, fordere ich Neuwahlen.


18 November 2010

Eine salomonische Lösung



Als mich heute, am Debüttag von Google Street View, die Neugier dazu trieb, unser Haus anzusteuern, erlebte ich eine amüsante Überraschung.

Bevor nämlich einst der Googlewagen durch die Seilerstraße gerollt war, hatte unser Haus sich in vorauseilendem Ungehorsam eine komplette Fassadenburka zugelegt.

Getarnt worden war das Ganze damals, wie ich mich entsinne, geschickterweise als Balkonrenovierung, aber erst jetzt wird mir die ganze Dimension dieser Verschleierungsaktion klar. Billiger (weil kostenlos) wäre es allerdings gewesen, im Nachhinein einen Verpixelungsantrag zu stellen.
Aber wir wissen ja, wie Hausverwaltungen ticken.

Wie auch immer: Unser Haus hat sich jedenfalls der ganzen Für-und-Wider-Diskussion um Google Street View auf denkbar eleganteste Weise entzogen.

Sag also noch einer was gegen Burken (oder wie das Zeugs im Plural heißt).

17 November 2010

Fundstücke (114): Antreten zum Anschauen



Die Macht der Kreditinstitute ist trotz Finanzkrise und Staatshilfen offensichtlich ungebrochen – oder sogar noch gestiegen.

Eine Mail wie heute habe ich von meiner Hausbank, der Hamburger Sparkasse, jedenfalls vorher nie bekommen. Darin werde ich in harschestem Ton (VERSALIEN!) zur Besichtigung einer Villa in Volksdorf verdonnert.

Zum Glück habe ich an dem Tag eh frei, sonst säße ich jetzt schwer in der Bredouille.

16 November 2010

Bin mit dem Fahrrad

In der Talstraße wohnen keine Pfeffersäcke. Hier sehen die Fassaden und Klingelschilder manchmal so aus wie auf diesem Bild.

Im Kioskcafé, wo sich manchmal missmutige Transen die Nachtschicht mit Koffein aus den Knochen spülen, residiert ein Chef, der nicht nur einen kapitalen anatolischen Schnauzer, sondern auch seine Laune stets offen zur Schau trägt. Wie auch immer sie gerade beschaffen ist.

Manchmal schaut er dich nicht mal mit der Kniekehle an, erwidert keinen Eintrittsgruß, grabscht mürrisch nach deinem Geld und fetzt dir die Hermes-Quittung hin, als wärst du Luft – und zwar sehr, sehr lästige Luft.

Und ein andermal, man weiß nie warum, grinst der Mann derart selig, dass sein Schnauzer so breit wird wie Jerry Garcia einst die ganze Zeit war. „Wie geht’s dir, mein Freund?“, strahlt der Chef dann mit seinem nonchalant entblößten Goldzahn um die Wette.

Heute war so ein „Wie geht’s dir, mein Freund?“-Tag. Als ich die Quittung einsteckte, fragte er sogar: „Willst du Kaffee?“ „Danke, sehr nett“, antwortete ich fast gerührt, „aber ich muss leider ins Büro.“ Er schaute mich beinah zärtlich an, als sei ich wirklich sein Freund und nicht nur irgendein Typ, der ab und zu mal vorbeikommt, um ein Hermes-Paket abzugeben.

„Becher mitnehmen?“, flötete er unter Aufbietung aller ihm möglichen Eloquenz, und außer Gold blickte mir dabei auch noch die ein oder andere Zahnlücke entgegen. „Nein“, hörte ich mich antworten, „ich bin mit dem Fahrrad.“

Ich bin mit dem Fahrrad???


Dieser verkrüppelte Satz aus meinem eigenen Mund hallte mir noch nach im Hirn, als ich schon längst wieder aufgesattelt hatte. Und auch jetzt noch ein bisschen, ehrlich gesagt.

Wo war denn da bloß das finale „da“ gewesen? Oder wenigstens ein etwas eleganteres „unterwegs“ – das Adverb halt? Dieses akute Summen und Surren à la „Ich bin Arbeit“, „Gehst du Disco?“ oder „Hab noch Vertrag“ macht mich anscheinend immer wuschiger.

Vielleicht bin ich auch einfach zu oft Blog von Fräulein Krise, vallah.


15 November 2010

Konkurrenz verdirbt das Geschäft

Das Backhus war die erste Bäckerei im neu entstandenen Bürohausviertel zwischen Reeperbahn und Hafen, dem sogenannten Brauquartier rund um den neuen Astraturm (Foto).

Dem Paketangebot des Backhus – fünf frei wählbare Brötchen für zwei Euro – vermochte ich immer dann nicht zu widerstehen, wenn wir Wochenendbesuch und somit gesteigerten Backwarenbedarf hatten. Zumal man bis zu drei dieser verflixt köstlichen Walnussbrötchen mit eintüten lassen durfte, die einzeln 65 Cent kosteten.

Seit ein paar Monaten gibt es nun direkt um die Ecke des Backhus die Schanzenbäckerei. Konkurrenz soll ja das Geschäft beleben, lehren uns von jeher jene Verfechter des Kapitalismus, die sich seiner so sehr schämen, dass sie ihn im Gespräch immer als „Marktwirtschaft“ verbrämen müssen.

Dieser Spruch behauptet, das Auftauchen eines Konkurrenten führe automatisch zu sinkenden Preisen, was die Kunden im besten Fall zu einem insgesamt höheren Gesamtkonsum animiere, wovon dann am Ende alle profitierten, Konkurrenten und Kunden.

Die Schanzenbäckerei jedenfalls fuhr erst mal so richtig lehrbuchmäßig auf diesen Spruch ab. Sie schaute sich sorgfältig das Backhus-Angebot an und offerierte dann zwar wenig fantasievoll, doch durchaus effizient ebenfalls fünf Brötchen nach Wahl im Paket – allerdings für 25 Cent weniger.

Fünf für nur 1,75: eine klare Kampfansage ans Backhus. Es musste reagieren.

Heute war es mal wieder so weit: Wir hatten Wochenendbesuch, also gesteigerten Backwarenbedarf und Lust auf im Dutzend billigere Walnussbrötchen. Und das Backhus hatte, wie sich herausstellte, in der Tat auf die neue Konkurrenzsituation im Brauquartier reagiert.

Jetzt kostete nämlich der Fünferpack 2,20 Euro, dafür waren nun Walnussbrötchen ausgeschlossen – zu teuer fürs Paket. Das Backhus reagiert also aufs Auftauchen der Schanzenbäckerei, indem es den Preis erhöht und zugleich die Produktqualität senkt.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich verstehe mehr vom Kapitalismus als jene, die ihn im Gespräch immer verschämt als „Marktwirtschaft“ verbrämen müssen.

Sie kamen übrigens super an bei unserem Wochenendbesuch, die drei Fünferpacks aus der Schanzenbäckerei.