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17 Dezember 2007

Warum nicht amputieren?

Kaum fantasiere ich davon, die Kiezpolizei gesetzeskonform zu entwaffnen, fällt für zwei Tage mein Server aus. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Jedenfalls herrscht um uns herum seit neuestem Waffenverbot. Wer künftig friedlich auf der Reeperbahn Baseball spielen will, bekommt den Schläger abgenommen und 200 Euro Strafe aufgebrummt. Ebenso ergeht es jenen, die ihren Apfel mit einem Taschenmesser schälen oder die Taubenpest per Pistole oder Pfefferspray eindämmen wollen.

Etwas Entscheidendes aber ist weiterhin erlaubt: die lockeren Fäuste der testosteronprallen „Was guckst du?“-Hirnis. Eine temporäre Amputation vorm Kiezbesuch sollte obligatorisch werden; kann man ja alles im Morgengrauen wieder annähen, schließlich haben wir eine Uniklinik.

Doch Spaß beiseite: Das Waffenverbot ist toll. Niemand kann mir plausibel erklären, wozu er Knarren, Prügel oder K.O-Spray braucht, wenn er doch nur zum Picheln und Pimpern herkommt. Das geht auch ohne, meine Damen und Herren!

Zumindest nehme ich das an.

15 Dezember 2007

Das Waffenverbot wird ignoriert



Auf dem Weg zum Einkauf gerate ich am Schulterblatt in kleinere Scharmützel zwischen Polizei und versprengten Demonstranten.

Ich weiß nicht genau, wie sie provoziert wurde, doch in Rage ist die Ordnungsmacht nicht gerade. Lustlos traben die staatlich Vermummten ein bisschen hinter den privat Vermummten her, stoppen dann ab und schlurfen wieder zurück zur Phalanx der Kollegen. Alles nur Spielereien, Finten, Rituale. „Samstags frei für die Polizei!“, höhnen die Gejagten den Jägern lachend hinterher.

Im Demozug hält einer einen Papppfeil mit der Aufschrift „Sehr verdächtig!“ einem Polizisten an die Schulter und geht konsequent hinter ihm her. Der erträgt das mit allenfalls innerem Groll. Auf der Budapester Straße sitzt ein Demonstrant und stützt sich mit blanken Händen auf den eisigen Asphalt – gegen Schäuble, gegen den Überwachungsstaat.

Um ihn herum stehen unzählige Polizisten, hochgerüstet, gepanzert, vollausgestattet. Sie haben wohl einfach noch nichts gehört vom neuen Waffenverbot auf dem Kiez.

Es scheint mir allerdings nicht der richtige Zeitpunkt, sie darauf hinzuweisen.

30 August 2007

Von Tölen, Tauben und Toten

Neulich stieß ich in der Zeitung auf eine Liste bußgeldpflichtiger Vergehen in Hamburg. Einige waren für uns Kiezbewohner von besonderem Interesse. So fällt, wie ich erfuhr, beim öffentlichen Urinieren ein Zwangsobolus von mindestens 40 Euro an, die Obergrenze liegt bei 150. 

Legte sich also die Polizei ein Kiezwochenende lang auf die Lauer und bäte die Inhaber undichter Fortpflanzungsorgane zur Kasse, die Finanzierung der Elbphilharmonie wäre schlagartig gesichert, aber so was von. Wovon die Bußgeldhöhe genau abhängt, ließ die Zeitung offen. Fragte man mich, ich würde fürs Pinkeln in die Seilerstraße mit einem Betrag am oberen Ende der Marge liebäugeln. 

Weiter im Text: Das achtlose Liegenlassen von Verdauungsprodukten der eigenen Kläfftöle schlägt mit recht moderaten 25 bis 100 Euro zu Buche. Doppelt so teuer hingegen kann das Wegwerfen eines Fernsehers werden, obwohl das Gerät deutlich weniger stinkt. Der Unsitte des Fernseherwegwerfens begegnet man rund um die Reeperbahn übrigens durchaus nicht selten. Ja, wären es wenigstens funktionsfähige Plasmageräte mit mindestens 106 Zentimetern Bildschirmdiagonale! Aber nein. 

Übrigens wird ein solcher recht kunstvoll zerstörter Stuhl, wie ich ihn in der Schmuckstraße visuell dingfest machen konnte, preislich nicht anders behandelt als ein Fernseher. Auffällig beim Vergleich der aufgelisteten Untaten ist die manchmal unerklärlich krass differierende Bußgeldhöhe. Zum Beispiel beträgt die Strafe fürs Ausgraben einer Leiche maximal 500 Euro – und somit nur ein Zehntel des Betrags fürs Taubenfüttern. 

Man könnte übrigens gerade diese beiden Vergehen ganz gut miteinander kombinieren.

14 Juli 2007

Fahrraddieb am Werk (2)

(Fortsetzung dieses Beitrags)

20:22 Uhr, Polizeiwache 16, Lerchenstraße.


Ich: (trete an den verwaisten Tresen; aus dem Nebenraum kommt eine Polizistin. Sie ist burschikos, ihre Unterlippe hängt ein wenig, sie mustert mich von unten.)
Polizistin: Ja?
Ich: Guten Tag. (halte den abgebrochenen Schlüssel hoch) Gestern Abend ist mir dieser Schlüssel im Fahrradschloss abgebrochen, und jetzt habe ich eine Flex dabei, um es durchzuschneiden. Das wollte ich Ihnen nur sagen, damit Sie mich nicht verhaften, wenn Sie mich dabei erwischen.
Polizistin: (stutzt kurz, schaut triefäugig, dann:) Machense ma.
Ich: (überrascht) Ja?
Polizistin: Ja.
Ich: Danke. Auf Wiedersehen.
Polizistin: (im Abgehen) Wiedersehn.

15 Minuten später, am Bunker.

Das Fahrrad lehnt noch am Baum. Irgendjemand hat einen tadellosen lila Rucksack auf den Gepäckträger gepackt. Ein saumseliger Passant steht in der Nähe und sinniert in der Gegend herum. Überhaupt herrscht eine überraschende Bevölkerungsdichte.

Ich tue unschuldig, wage es aber noch nicht, die Flex zu zücken. Wenn von rechts gerade keine Touristentruppe Richtung U Feldstraße schlendert, kommt von links mindestens eine Fahrradkolonne. Verdammt.

Ich beginne zu schwitzen. Dabei will ich doch nur mein eigenes Fahrrad losschneiden. Plötzlich eine Passantenstromlücke. Ich zücke die Flex, ich setze sie an – und sehe auf der anderen Straßenseite eine Frau im lockeren Schanzenlook auf dem Geländer sitzen. Sie raucht und beobachtet mich.

Egal, denke ich, besser nur eine als gleich zwölf, und schneide. Die Flex kreischt, als folterte man ein Schwein, das hört man bestimmt noch in Altona, und der Funkenkranz, den sie schlägt, ginge auch als Freitagsfeuerwerk auf dem Dom durch.

Die Frau schaut nicht nur, sie schaut misstrauisch, wenn nicht alarmiert. Ich schwitze stärker, ich drücke die kreischende Flex auf die Fahrradkette, ich stehe im Funkenregen – und klack, die Kette ist durch.

Fahrig stecke ich das Teufelsgerät in die Umhängetasche, mir doch egal, wenn das Schneiderad heiß ist, Hauptsache schnell weg. Ich ziehe am Rad, die Frau stiert, sie vergisst sogar zu rauchen. Panisch schwinge ich mich auf den Sattel, spüre die Verdunstungskälte des Schweißes im Nacken, ich fahre los, sie ist halb aufgestanden, ich trete heftig in die Pedale, schneller, schneller – und bin in Sicherheit.

Sie ist die Einzige, die eine Personenbeschreibung abgeben kann. Und dann wird sich die triefäugige Polizistin auf Wache 16 hoffentlich an mich erinnern und das Verfahren einfach stillschweigend einstellen.

Meine einzige Chance.

13 Juli 2007

Fahrraddieb am Werk (1)

16:17 Uhr, Polizeistation Davidwache, am Tresen.

Ich
: (hoffe auf die Aufmerksamkeit des konzentriert arbeitenden Polizisten)
Polizist: (ohne aufzublicken) Sie wünschen?
Ich: Ich brauche Ihren fachmännischen Rat.
Polizist: (schaut auf) Dann schießen Sie mal los.
Ich: (halte mein Schlüsselfragment hoch) Gestern Nacht wollte ich am Bunker an der Feldstraße mein Fahrrad losbinden, dabei brach mir der Schlüssel im Schloss ab. Wenn ich jetzt mit einem Bolzenschneider dort auftauche, sieht das irgendwie … blöd aus.
Polizist: (mit feinem Lächeln) Da haben Sie Recht.
Ich: … und deshalb brauche ich Ihren fachmännischen Rat. Was soll ich tun?
Polizist: (grinst) Ein klassischer FaW also: Fahrraddieb am Werk.
Ich: Ja, genau, haha.
Polizist: (wieder ernst) Haben Sie Belege über das Fahrrad?
Ich: Nein. War ein Flohmarktkauf. Ich habe nur ein Foto.
Polizist: Hm, wenn Sie beim Aufschneiden von jemand beobacht werden und der ruft die Kollegen, dann kommen die mit drei Wagen angerast.
Ich: Ich sehe, Sie verstehen mein Problem.
Polizist: … und dann müssen Sie die Geschichte noch mal erklären, das gibt Papierkram, vielleicht Ermittlungsverfahren. Ich würde Sie ja dann gehen lassen, aber …
Ich: … aber die vielleicht nicht.
Polizist: (schaut hilflos in den hinteren Raum, dann mehr zu sich selbst) Wir haben gerade keinen Wagen da …
Ich: Ich habe sowieso noch gar keinen Bolzenschneider.
Polizist: Am besten gehen Sie zur Wache 16, mit Bolzenschneider.
Ich: Ist das die an der Stresemannstraße?
Polizist: Lerchenstraße, Ecke Stresemann. Erzählen Sie den Kollegen, was Sie vorhaben. Vielleicht haben die auch einen Wagen da.
Ich: Gut. Dann besorge ich mir erst mal einen Bolzenschneider.
Polizist: Viel Glück.
Ich: Danke.

19:44 Uhr, beim Nachbarn. Er hat keinen Bolzenschneider. Aber er hat, wie er sagt, „etwas viel Besseres“: eine Flex. Er zeigt mir, wie sie funktioniert.


„Sei bloß vorsichtig“, mahnt er, „das Ding ist gefährlich. Die Funken fressen sich sogar in die Brille.“

(Fortsetzung folgt)

11 Mai 2007

Children of the revolution

Gestern nahm die Hamburger Polizei überall in der Stadt vorsorglich G8-Gegner hoch. Betroffen war auch der Freund eines Freundes von Kramer, was den vor Empörung sofort lodernd entflammten Kollegen solidarisch ins hart umkämpfte Schanzenviertel trieb.

Dort setzte sich Kramer umstandslos in ein Café und beobachtete die Lage bei einem Galão.

Beim Franken kann er mit dieser Vorgehensweise freilich nicht punkten. „Er hat eine Bahnsteigkarte für die Revolution gelöst!“, blökt der Würzburger heute resümierend. „Du Flaneur des Widerstands!“, falle ich ergänzend ein.

Bevor Kramer im Café seinen für jede Revolution zweifellos nütz- und dienlichen Beobachtungsposten eingenommen hatte, war er
allerdings sogar kurz in eine vergleichsweise heikle Lage geraten, das darf hier nicht verschwiegen werden.

„Ein Polizist hat mich barsch angepflaumt: Gehen Sie weiter!“, erzählt Kramer schaudernd und stolz, zumal er augenblicklich protestierend geschwiegen und sich dann betont langsam getrollt hatte; ins Café, wie gesagt. Dort begoss der tapfere Kramer seine Provokation der Staatsmacht dann mit besagtem Galão.

Derweil zogen die rund 2000 G8-Gegner mit im Schnitt 0,5 Polizisten Begleitschutz
pro Mann weiter nach St. Pauli; Ms. Columbo und mich riss die Revolution aus der Gemütlichkeit des gemeinsamen Abendessens. Vom Balkon aus sahen wir der inzwischen nur noch verbalen Schlacht zu.

Dort gab es leider keinen, bei dem wir einen Galão hätten ordern können.

06 Mai 2007

Man kann sich seine Verwandten nicht aussuchen

Edit 6.12.2007: Hier konnte man bis heute das kleine Foto eines Nudelgerichts sehen. Dafür habe ich eine Abmahnung des Anwaltsbüros Rotermund (Marions Kochbuch) erhalten, die mich 747,50 Euro kosten soll.

Da hat man erstmals Gäste aus dem Rheinland und will ihnen zeigen, welch buntes, derbes, aber lebenswertes Viertel St. Pauli ist. Also geht man mit ihnen erst mal zum Italiener (Link entfernt) um die Ecke, bestellt Pizza, Pasta, Wein und Salat, und plötzlich taucht eine kleine Dicke im Lokal auf und beschimpft umstandslos die Frau hinterm Tresen.

Randale! Alle gucken gespannt, natürlich auch die Gäste aus dem Rheinland – und komischerweise auch das Personal. Erst als die Furie anfängt, über die Theke nach ihrer Feindin zu spucken, bequemt sich ein erstaunlich wortkarger Kellner, sie aus der Tür zu schieben.

Draußen setzt sie sich an einen Tisch, steht auf, kommt wieder rein, schimpft und spuckt; diesmal sogar auf den Tisch mit den Antipastitöpfchen.

Die Chefin hat inzwischen die Polizei gerufen, doch die war auch schon mal schneller da. Wieder wird die Dicke rausgeschoben, wieder kommt sie rein, diesmal nimmt sie eins der Töpfchen und wirft es wütend nach der Barfrau, es zerschellt auf dem Boden.

„Hey, jetzt reicht’s aber!“, rufe ich der Frau zu, deren wulstiger, gleichwohl dank eines zu kurzen Hemdes frei zugänglicher Bauch sich schlaff über den Hosenbund beugt, als wolle ihr Nabel Fußbodenstudien betreiben.

Der Kellner bequemt sich erneut her und schiebt die sich Wehrende stumm raus, wieder wundern wir uns über seine relative Duldsamkeit. Keine Minute später wackelt das kleine Monster wieder ins Lokal – genau einmal zu viel nach meinem Geschmack. Ich gehe hin und schiebe sie raus.

„Was geht dich das dan?“, schreit sie. Ich versuche ihr zu verklickern, dass es gemeingefährlich sei, Gegenstände durch bevölkerte Gaststätten zu pfeffern, und mich daher ihr Ignorieren dieser allgemein bekannten Tatsache sehr wohl etwas anginge – zumal Ms. Columbo und die Gäste aus dem Rheinland sich im Wurfradius befinden. So richtig überzeugt aber wirkt sie nicht.

Eingangs ihres linken Nasenlochs hängt ein Rotzklumpen, und ich bleibe einen Meter von ihr weg, um die Gefahr des Angespucktwerdens etwas zu mindern. Jetzt, wo ich mit ihr streitend im Eingang stehe, bequemt sich auch der Kellner wieder her, doch ich bin angesichts des bisher stetig eskalierenden Verlaufs der Gesamtlage skeptisch, ob er die Wildgewordene dauerhaft fernhalten kann. Ich indes bin inzwischen sehr entschlossen, das rabiate Weib von Ms. Columbo und den
Gästen aus dem Rheinland fernzuhalten, o ja.

Doch zum Glück kommt die Polizei, endlich. Die zeternde Dicke wird in Handschellen gelegt und abtransportiert. Als wir und die Gäste aus dem Rheinland später – nach Pizza, Pasta, Wein und Salat – aufbrechen wollen, kommt der passive Kellner noch mal zu uns und entschuldigt sich für die Umstände. Und dann sagt er einen Satz, der erklären könnte, warum die Frau nicht auf die kiezüblich rustikale Weise aus dem Lokal befördert wurde.

„Sie ist“, sagt er leise, „die Schwester vom Chef.“


04 Mai 2007

Die Verrückte

Heute sah ich sie wieder, die Verrückte. Sie irrt oft durch St. Pauli, manchmal trifft man sie auch in der U-Bahn.

Es handelt sich um ein hageres, sozial enthemmtes, oft sturzbesoffenes Wesen mit Kurzhaarschnitt und Männerklamotten, das äußerlich an Martin Semmelrogge erinnert. Unablässig spricht es Leute an und bestreitet diese ausnahmslos einseitige Kommunikation mit den wirrsten Inhalten.

Meist handelt es sich dabei um Beleidigungen, oft aber auch um räsonierende Weltbetrachtungen, wobei die dazugehörige Welt erst noch erfunden werden muss. Das Erstaunlichste dabei ist die Mimik dieser Frau: Sie würde reichen für eine Schauspielkarriere.


Die Verrückte vermag nämlich jeden einzelnen Gesichtsmuskel beliebig zu bewegen. Zwischen den Verzerrungen der Wut und aasigem Grinsen vergeht keine Nanosekunde, und schon in der nächsten ist ihre in jede denkbare Richtung verbiegbare Gesichtstopografie bei Abscheu und Verachtung angelangt.

Welch ein Talent! Und welch eine tragische Verschwendung davon. Denn ihr Gehirn, das all diese Möglichkeiten steuert, schießt seine Befehle wahllos ab auf die Nervenenden und Muskelfasern, und deshalb läuft die Frau durch St. Pauli und gilt als verrückt.

Ihr Geschlecht übrigens war mir nie völlig klar, bis heute morgen. Sie stand hüftabwärts nackt und breitbeinig vor World of Sex auf der Reeperbahn neben einem Müllcontainer, ihre Männerhose hatte sie ausgezogen, und sie ließ sich die Pisse zwischen die Füße pladdern, während sie einem verstörten Passanten, der einen Bogen um sie schlug, auf Hamburgisch über einen unverständlichen Sachverhalt informierte: „Das war ein Fransosee!“, schnarrte sie.

Seit heute also kann ich das Geschlecht der Verrückten genauer bestimmen. Ich verzichtete auf ein Foto ihrer Rückseite (stattdessen die Satellitenperspektive), das problemlos möglich gewesen wäre, und schlug einen großen Bogen um sie. Als ich an der Bushaltestelle stand, sah ich sie die Davidwache betreten. Arme Bullen.


Dann kam ein Cockerspaniel vorbei und pinkelte neben mir an einen Stromkasten.

10 April 2007

Ein Stofftier, aber nicht Knut

Ja, irgendein Wahnsinniger ist hinabgestiegen ins Gleisbett am S-Bahnhof Reeperbahn. Er hat die Gleise überquert, den Hammer ausgepackt und einen Nagel in die Fahrplanwand geschlagen. Um ein kleines schwarzes Stofftier mit gelben Füßchen daran aufzuhängen.

Dann ist er wieder über die Gleise zurückgestiegen. Er ist hochgeklettert auf den Bahnsteig, hat auf den nächsten Zug gewartet und ist davongefahren.

Wer immer das war, er muss die ganze Aktion lebend überstanden haben. Auf dem Hinweg hatte er die Starkstromleitung ja evidenterweise nicht berührt, sonst hinge jetzt kein Stofftier da. Und wäre ihm der Rückweg letal misslungen und hätte die Polizei seine verkohlten Überreste von den Gleisen schaben müssen, dann wäre einem der Beamten sicher das kleine schwarze Stofftier mit den gelben Füßchen am Fahrplanplakat aufgefallen, und er hätte es abgenommen.

Nein, der Wahnsinnige muss das alles wirklich lebend überstanden haben. Um welches Stofftier es sich handelt, konnte ich nicht genau erkennen, und zur Beweissicherung hinabsteigen wollte ich nicht.

Eins jedenfalls ist sicher: Es ist nicht Knut.

27 März 2007

Die uninteressanten Päckchen

Gegenüber auf dem Flachdach turnen plötzlich zwei Jungs herum. Sie laufen hin und her, gehen dann zur Dachkante am Innenhof und werfen zwei weiße, offenbar gewichtige Päckchen hinunter. Schätzgewicht: vier Kilogramm.

Das ist der Moment, wo ich mich entschließe, wieder mal bei der Davidwache durchzuklingeln. Während ich auf die Streife warte, klettern die Jungs über Feuerleitern höher und höher. Jetzt stehen sie ungesichert auf dem Dach von Reeperbahn Nr. 35. Sie posieren, fotografieren sich gegenseitig mit ihren Handys. Immer hart an der Kante – ein gefährliches Spiel.

Zwei bullige Polizisten betreten unsere Wohnung, ein Mann und eine Frau. Ich zeige ihnen die Extremkletterer gegenüber und erzähle von den zwei weißen Päckchen. Letzteres stößt komischerweise kaum auf Interesse. Stattdessen verlangen sie meinen Personalausweis und treten sehr präsent auf unseren Balkon. Das finde ich merkwürdig. Lernt man das etwa auf der Polizeischule: Wenn dich ein mutmaßlicher Täter noch nicht entdeckt hat, dann werfe ihm den Überraschungseffekt per Selbstenttarnung vor die Füße?

Natürlich erblicken die Jungs die Polizisten sofort und verschwinden über den Dachgiebel auf die Reeperbahnseite. Die Polizisten geben das per Funk an die Verstärkung durch. „Auf der anderen Seite kommen die nicht runter“, theoretisiere ich und versuche noch einmal die Aufmerksamkeit auf die zwei weißen Päckchen zu lenken. Vergeblich.

Man sieht von unserem Balkon aus nur einen Teil des Innenhofs, doch das reicht, um dort frisch eingetroffene Menschen zu erkennen, und es sind keine Polizisten. Möglicherweise wollten die beiden Jungs ihre Fracht nicht verstecken, sondern übergeben. Eile scheint geboten, doch die beiden Uniformierten auf unserem Balkon geben sich gelassen. Das Funkgerät meldet sich. „Seht ihr die beiden noch?“, krächzt es. „Negativ“, sagt der Mann.

Beide Polizisten meine ich zu kennen, ich weiß auch woher: Aus den vielen Spiegel-TV-Dokus über den Kiez. Alle enden immer mit einem Einsatz der Leute von der Davidwache. Gehört zum Drehbuch. Das hier, denke ich bei mir, ist wie im richtigen Leben, also wie im Fernsehen.

Die Polizisten verlassen den Balkon und verharren im Wohnzimmer. Sie sind kurzärmlig, und ihnen ist kalt. Ich biete eine Jacke an, sie lehnen ab. Kaum ist unser Balkon menschenleer und die Luft scheinbar rein, klettern die Jungs wieder über den Giebel und beginnen den Abstieg. Natürlich haben sie keine Chance. Die Verstärkung wird per Funk informiert, dann gehen die beiden Polizisten runter, wo ihnen die Jungs in die Arme laufen.

Verstärkung trifft ein, Verhaftung mit allen Schikanen wird abgespult. Abgang alle. Auch im Innenhof sind keine Menschen mehr zu sehen, erst recht keine Polizisten.

Und auch keine weißen Päckchen mehr. Jede Wette.

21 Februar 2007

Bald knallt’s

Das Laufhaus an der Reeperbahn ist – nach allem, was ich weiß – eine Art Supermarkt des Sex’.

Man flaniert durch die Gänge, inspiziert die Auslage, und wenn einem etwas gefällt, dann kauft man es – Sex und hopp. Man muss es allerdings sofort benutzen und darf es nicht mitnehmen.

Das Laufhaus ist – nach allem, was ich weiß – das größte Bordell auf dem Kiez, und es wird seit der Megarazzia vom November 2005, als der damalige Bosslude samt Entourage hopsgenommen wurde, von den Hells Angels kontrolliert. Vorgestern tauchte ein Typ mit einer Waffe im Laufhaus auf, ballerte herum und traf einen Hells Angel ins Bein.

Seither hält der Kiez die Luft an. Man weiß genau, wie die Angels solche Fälle regeln – ein Revancheschuss ins Bein gilt ihnen keinesfalls als adäquat, nicht mal annähernd. Es wird also bald knallen. Aber wo?

Einer hat jedenfalls einen Logenplatz.

30 Januar 2007

Guido wollte auch mal was sagen

Heute stellt sich doch wahrhaftig FDP-Chef Guido Westerwelle vors Mikro und behauptet, die Einführung eines Mindestlohns gefährde Arbeitsplätze. Ach ja? Mit diesem Argument, Westerwelle, ließe sich auch die Beibehaltung der Sklaverei rechtfertigen.

Denn führte nicht die Einführung eines Mindestlohnes für Sklaven dazu, dass sich die Sklavenhalter leider, leider von den bisher kostenlosen Zwangsarbeitern trennen müssten?

Dem Topverdiener Westerwelle ist die Gewinnspanne der Unternehmen im Zweifelsfall aber wichtiger als ein menschenwürdiges Leben. Deshalb sollen sich nach Guidos Gusto viele Menschen weiter für zwei Euro fünfzig pro Stunde als Halbsklaven verdingen müssen.

Nun, wer das okay findet, der mag ihn das nächste Mal wählen. Hier auf St. Pauli, so viel ist sicher, wird er damit nicht punkten. Viele hier wissen nicht einmal, wie man „Lohn“ buchstabiert.

Zum Beispiel diese orangehaarige Punkerin bei Penny. Im Eingangsbereich streitet sie mit einem Sicherheitsmann. Sie soll gehen, aber sie will nicht gehen. Gut, dann Polizei, sagt der Sicherheitsmann. Dann eben Polizei, sagt die Punkerin und zieht freudlos an der Kippe.

Als die Streife kommt, erklärt sie, sie habe noch nie hier geklaut oder sonstwie Ärger gemacht. „Nur weil ich einen Iro hab, habe ich Hausverbot. Das können die doch nicht machen. Ich will hier einkaufen wie jeder andere auch.“

Aber Hausrecht ist Hausrecht, die Kriterien sind frei definierbar, und eins davon kann eben auch ein Irokesenschnitt sein, sorry. Hätte die Punkerin einen menschenwürdig bezahlten Job, könnte sie sich den Sparmarkt in der Paul-Roosen-Straße leisten. Dort wird man auch nicht wegen seines Aussehens als Kunde abgelehnt.

Selbst Westerwelle würde dort bedient.
Denke ich mal.

29 November 2006

Nichts geht mehr

Beim abendlichen Heimradeln erweist sich der Verkehr als völlig lahmgelegt. Alles steht, Bus an Auto, Auto an Bus. Warnblinkanlagen flackern, ungeduldige Menschen stehen in der Bahrenfelder Straße zwischen Auspuffrohren und Kühlergrills herum. Alles sind ratlos. Klar ist: Nichts geht mehr. Stillstand. Eine Zivilisation am Rande der Hilflosigkeit.

Kurioserweise traut sich dennoch keiner weg von seinem Wagen, obwohl ja auch niemand damit durchbrennen könnte. Eine Krux. Als Fahrradfahrer aber grinst man der Malaise souverän ins Gesicht und schlängelt sich virtuos durch den autoimmobilen Parcours.

Und der zieht sich hin, alle Achtung. Auch in der Kleinen Rainstraße steht Wagen an Wagen. Nichts nervt den urbanen Menschen mehr, als zur Untätigkeit, zum Verharren an einem bezugslosen Ort verdammt zu sein – vor allem, wenn er nicht weiß, warum. Woher kommen wir, wohin gehen wir – und wann endlich, verdammt noch mal?

Nur der Radfahrer wird es bald erfahren, denn er zwängt sich durch kleine blechgesäumte Lücken, er nutzt kurz den Gehweg, hüpft fidel über den Bordstein zurück auf die zugestellte Straße, stützt sich an der Wand eines – haha – Schnellbusses ab und erreicht schließlich den Anfang des Staus, der gerade halb Altona lahmlegt.

Und hier haben wir den Übeltäter. Wo die Kleine in die Große Rainstraße übergeht, parkt ein roter Golf halb auf der Straße, und genau dort kommt nun ein Bus nicht mehr um die Kurve. Ein Umstand, der sich in Form zunächst stockenden, dann stehenden Verkehrs rückwärts fortgepflanzt hat und sich inzwischen wahrscheinlich der Stresemannstraße nähert oder sogar schon der Abfahrt Bahrenfeld, und vielleicht leckt der Stau auch bereits gierig hoch auf die Autobahn und führt zu zähem Fließen bis hinauf nach Schnelsen-Nord und irgendwann bis Flensburg.

Und alles wegen eines roten Mittelklassewagens. Hier an der Ecke, vorm Golfus delicti, ist Volksauflauf. Polizei sichert die Lage. Alles wartet auf den Abschleppwagen. Bis dahin ruht weiter still und starr, was doch zum Sichbewegen geschaffen ist. Schaulustige besprechen die Lage. Nicht bei den Buskunden, aber bei den Fuß- und Müßiggängern herrscht vorfreudige Erwartung. Beim Abschleppen zuzusehen, ist immer eine feine Sache.

Noch feiner wäre es allerdings, der Fahrer des roten Golfs kehrte jetzt zurück und müsste sich dem Volkszorn stellen. Ich habe eine solche Situation mal in der Friedensallee erlebt, wo ein unsensibler Automobilist ebenfalls einen Bus blockiert hatte. Bei seiner Rückkehr erkannte er gleich die Brisanz der Situation und versuchte sich gleichsam unsichtbar ins Auto zu flüchten. Die nahezu tollwütigen Busfahrgäste allerdings stellten ihn und schrien ihm Vorwürfe entgegen, von denen ein mit Schaum vor dem Mund vorgetragenes „Ich habe ein krankes Kind zu Hause! Was denkst du dir eigentlich, du!“ der niederschmetterndste war.

Noch nie habe ich eine Menschenmenge so nah an ihrer Verwandlung zum Lynchmob gesehen wie damals. Daran merkt man, welche Bedeutung die Bewegungsfreiheit hat. Kein Wunder, dass Gefängnisinsassen manchmal sogar Dächer entern, nur um sich mal ungestört die Füße vertreten zu können.

Heute jedenfalls droht dem Golffahrer ebenfalls großes Ungemach, träte er unbefangen an sein Gefährt heran. Doch wenn er schlau ist, gesellt er sich einfach unauffällig zum potenziellen Lynchmob und schaut mit innerem Bedauern zu, wie sein Wagen demnächst abgeschleppt wird. Im Endeffekt kommt ihn das billiger – und ist deutlich weniger riskant.

So lange kann ich aber nicht warten. Also radle ich weiter und erfreue mich einer gähnend leeren Reststrecke bis zum Bahnhof Altona. Unterwegs wiege ich mich in der süßen Gewissheit, wieder ein wenig Blogstoff aufgesammelt zu haben.

So hat selbst das Lahmliegen des Hamburger Individualverkehrs noch sein gerüttelt Maß Gutes.

26 September 2006

Erwischt!

Damals, als wir noch ein Auto hatten, habe ich mal am Westende der Reeperbahn illegal gewendet, um wieder umweglos zurückfahren zu können. Warum ich nicht vorm Losfahren das doch offenbar so Wichtige erledigt hatte und um was es sich dabei gehandelt haben könnte, ist mir ersatzlos entfallen.

Jedenfalls tuckere ich nach der gesetzlosen Wende wieder zufrieden die Reeperbahn hoch, als ich im Rückspiegel jenes grellblaue Lichterspiel erblicke, welches man partout nicht im Rückspiegel erblicken möchte. Verursacher ist ein Streifenwagen.

Zunächst münze ich dieses unangenehm hektische Signal gar nicht auf mich. Allerdings hängt mir der Wagen peinlich nah am Heck und macht keine Anstalten, heroisch den Schauplätzen empörenderer Verbrechen entgegenzueilen. Nein, die Ordnungsmacht hat mich im Blick. Ein kurzes Aufjaulen der Sirene vermittelt letzte Gewissheit: Ich soll bremsen, sogar stoppen, und zwar genau jetzt.

Meine Drüsen verdoppeln die Adrenalinproduktion. Ich muss anhalten! Höchst ungern allerdings mitten auf der Reeperbahn, dann wäre man ja ohne Not ein Verkehrshindernis, und das kann selbst die Kiezpolizei nicht wollen, nicht wahr?

Also rolle ich schwitzend und blaulichtumflackert weiter bis zur Lincolnstraße, biege dort ein und halte auf einem kleinen ungeteerten Parkplatz gleich linker Hand. Der Streifenwagen tut es mir gleich, zwei grimmige Männer steigen aus, die Waffen im Halfter und Verärgerung im Blick. Auch ich steige aus.

Sie stehen vor mir. Einer sagt eine Spur zu schneidend: „Warum haben Sie nicht angehalten? Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“ Ich murmele etwas von Nichtbemerkthaben und der Vermeidung von Verkehrshindernissen mitten auf der Reeperbahn, doch der Zorn der Uniformierten schwindet im Zuge meiner Ausführungen nicht, im Gegenteil. Ich hätte, hebt der Wortführer nun sinngemäß an, am Abzweig zum Fischmarkt das Wendeverbot ignoriert, und das schreie nach Bestrafung.


Ein Dementi würde nichts fruchten, wie mir zügig dämmert, zumal die Einsicht in meine Schuld sich bestimmt in einem höchst halbherzigen Vortrag niederschlüge. Ich bin also widerstandslos bereit, mich in mein Schicksal zu fügen, welches sehr bald einen Bußgeldbescheid für mich bereithalten wird – als plötzlich eine schnarrende Stimme aus dem Funkgerät des Streifenwagens dringt. Einsatzbefehl!

Die beiden stürzen augenblicks zum Wagen, und bevor der Fahrer hineinspringt, dreht er sich kurz um und ruft: „Na, da haben Sie aber noch mal Glück gehabt!“ Und dann brettern diese Helden des Alltags davon, Kies klackert über die Lincolnstraße, und Sekunden später erinnert nur noch eine träg in der Luft träumende Staubwolke an die leidenschaftslose Lakonie, mit der die beiden einen Kleinen laufen lassen, um die ganz Großen zu fangen.

Dafür habe ich mich nie bedankt. Bei wem auch? Sie waren ja weg. Und wären sie dageblieben, hätte ich keinen Grund zum Dank gehabt, sondern einen Strafzettel.

Seither habe ich gewissermaßen dauerhaft 30 Euro mehr in der Tasche, zuungunsten der Stadtkasse.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen Polizisten vorkommen
1. „Hey cop" von A Subtle Plague
2. „Police & thieves" von The Clash
3. alles von The Police


(Foto: Reeperbahn, östliches Ende)

23 Juli 2006

Ein Kiezklischee jagt das nächste

Von allen Vorstellungen und Vorurteilen über St. Pauli stimmen die meisten, aber beileibe nicht immer. Diese Woche aber doch, und zwar geballt.

Vorurteil 1: Der Kiez ist eine Verbrecherhochburg

– Beim Brötchenholen gerate ich in der Talstraße in einen Polizeieinsatz. Vorm Fahrradladen versperren mehrere Streifenwagen die Durchfahrt, bewaffnete Sonnenbrillenmänner in Blau und Schwarz laufen geschäftig hin und her, und mitten auf der Straße steht ein spitteriger Twen mit schlechten Zähnen, seine Hände sind hinterm Rücken mit Handschellen gefesselt, zusätzlich hält ihm ein Polizist die Arme fest. Er brabbelt unverständliche Proteste vor sich hin. Natürlich ist er unschuldig, schon klar. Was genau los ist, erfahre ich nicht, denn zu Hause wartet Ms. Columbo auf eine zügige Brötchenlieferung. Ich muss weitermachen, immer weitermachen.


Vorurteil 2: Der Kiez ist ständig Filmkulisse

– Auf der Rückfahrt gerate ich an der Clemens-Schulz-Straße/Ecke Rendsburger Allee mit Karacho in Dreharbeiten. Die bösen Blicke des Filmteams ernte ich zu Recht, denn ich fuhr auf dem Gehweg, den sich der Locationscout bestimmt genau deshalb ausgesucht hatte, weil dort gemeinhin keine Fahrräder unterwegs sind. „Entschuldigung“, murmele ich, ernte aber nur eisiges Schweigen. Schon habe ich die Kosten für die Produktion wieder um ein paar tausend Euro nach oben getrieben. Und das bei den Lohnnebenkosten!


Vorurteil 3: Auf dem Kiez wohnt man nicht sicher

– Vorgestern Nacht gegen 2 Uhr klingelte es zweimal an der Tür, was mich aber – wie Stammleser wissen – um diese Zeit nie zum Nachschauen oder gar Öffnen bewegt. Heute erfahre ich von einer Nachbarin, was los war. Sie ertappte nämlich in jener Nacht im fünften Stock einen verwirrten etwa 20-jährigen mit Einstichlöchern in der Armbeuge, der vorgab, auf der Suche nach einer Freundin zu sein. Der Nachbarin gelang es, ihn trotz seines Wunsches, doch bitte ersatzweise bei ihr übernachten zu dürfen, hinauszukomplimentieren – und zwar unter Verweis auf die grimmigen männlichen Bewohner des Hauses, die zu seinem Glück bisher noch nichts vom unerwünschten Besuch erfahren hätten, jedoch kiezweit berüchtigt dafür seien, „nicht lange zu fackeln“. Damit meinte sie auch mich – einen Menschen, der stets recht lange fackelt. Aber das konnte der Eindringling ja nicht wissen, und so trollte er sich mühsam, aber beeindruckt.


Vorurteil 4: Kiez und Sex sind synonym

– Okay, okay, nirgendwo auf der Welt würde man einen selbstgebastelten Zettel mit der befehlsnah formulierten Bitte „Kondome in den Müll“ an einer Klinkermauer finden – vor allem nicht direkt neben einem Sterbehospiz.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Verbrechen und Verbrecher
1. „Wanted man" von Bob Dylan
2. „Crime of the century" von Supertramp
3. „The great deception" von Van Morrison

24 Juni 2006

Beckenecker


Klar, an der Brille muss er noch arbeiten.
Den Rest hat Franz aber schon ziemlich gut hingekriegt.

18 Mai 2006

Wie ich mal die Steuerzahler entlastet habe

Was ist denn los? Warum geht es nicht weiter? Seit fünf Minuten steht der Bus an der S Reeperbahn, und mir dämmert das erst allmählich, weil ich auf den Ohren den alten Al Green habe und vor den Augen ein Buch. Ich blicke auf.

Vorn diskutiert ein massiger Mann afrikanischer Prägung erregt mit dem Fahrer. Eine Einigung scheint fern. Der Fahrer ist offenbar nicht gewillt loszufahren, solange der lautstarke Diskutant sich nicht trollt. „Steigen Sie aus!“ schallt es durch den Bus. Der so unfein schroff Aufgeforderte aber denkt nicht im Traum daran, sondern kommt jetzt den Gang herunter und setzt sich schräg hinter mich.

Zu einer Lösung der Lage trägt diese Entscheidung freilich nicht bei, denn der Fahrer stellt den Motor ab und nestelt an seinem Funkgerät. Offenbar ist er zu dem Schluss gekommen, externe Hilfe sei opportun. Immerhin ist die Davidwache (Foto) nah, da könnte in Bälde ein wirksamer Eingriff der Exekutive erfolgen.

„Was ist denn los?“ frage ich den Herrn hinter mir. Froh über ein offenes Ohr, dem er sein Leid klagen kann, erläutert er, sich im Besitz einer Tageskarte zu befinden – und es stimmt, er hält sie mir hin –, die nach Aussage des für den Verkauf zuständigen Schaltermenschen auch für diesen Bus hier Gültigkeit besäße. Doch der Fahrer sei uneinsichtig, ja geradezu renitent. Dieser Bürokrat, führt er sinngemäß weiter aus, habe seiner Auslegung der Tageskartenfunktion gänzlich unaufgeschlossen gegenübergestanden und ihm als Alternative in recht deutlichen Worten den Kauf eines zusätzlichen Tickets anempfohlen. Kostenpunkt: einszwanzig.

Dies hält mein Nachbar weiterhin für inakzeptabel. Schließlich habe er zum einen eine gültige Tageskarte und andererseits zehn Cent zu wenig in der Tasche.

Hm, mir schwant ein Polizeieinsatz, mir schwanen schreiende Menschen, über Muskeln sich spannende Uniformen, ich höre vor meinen geistigen Ohr das silbrige Klirren von Handschellen, sehe Tränengasschwaden, es droht eine Gefährdung des öffentlichen Personennahverkehrs, ich sehe Verhaftung, Abschiebung, eine zerrissene Familie und schließliches Dahindämmern in den Slums von Kinshasa oder Ouagadougou … Und alles nur wegen einer fehlenden Münze, der viertkleinsten überhaupt.

Während der Fahrer vorne offenbar im Begriff ist, eine erfolgreiche Funkverbindung zur Einsatzleitung herzustellen, offeriere ich dem Mann zehn Cent, zunächst in Form einer Ein-Euro-Münze, die er mit einem Wort des Dankes auch annimmt. Damit stapft er ungebrochen verärgert nach vorne und legt wortlos seinen und meinen Euro dem Fahrer hin. Der beendet den Funkkontakt, ratscht – ebenfalls stumm – ein Ticket aus dem Automaten, zählt das Wechselgeld ab, und der Mann steckt es samt Ticket still ein, stapft durch den Gang zurück und gibt mir 90 Cent zurück. Der Bus fährt los, alles ist gut.

Wäre man Haushaltsexperte im Fachbereich polizeiliche Einsatzkräfte, könnte man wohl leicht ausrechnen, wieviele Steuern die Stadt Hamburg just durch die Investition einer Zehn-Cent-Münze zur richtigen Zeit am richtigen Ort gespart hat.


Die Rendite ist jedenfalls atemberaubend. Schade, dass ich bei privaten Finanzgeschäften dagegen immer auf die Schnauze falle.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Al Green
1. „Love is a beautiful thing“
2. „I can't stop“
3. „Call me“

18 April 2006

Leblos auf der Lincolnstraße

Ich erinnere mich noch an den ersten Kiezbummel unseres Lebens. Es war 1995. Wir schlichen besorgt über die Reeperbahn mit jener Grundverkrampfung, die nun mal aufkommt an Schauplätzen düsterer Legenden.

Alle Geschichten und Warnungen, alle Räuberpistolen und Schmuddelstorys, die wir im Lauf unseres Provinzlebens über die sündige Meile gehört, gelesen und in Film und Fernsehen gesehen hatten, kondensierten in einem Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit. Jürgen Roland, Hans Albers und Klaus Lemke hatten ganze Arbeit geleistet.


Alarmiert und nervös schritten wir sie ab, die berüchtigte Reeperbahn. Wir warteten sekündlich darauf, umstandslos ausgeraubt oder zumindest zu diesem Behufe in ein versifftes Kellerstriplokal gezerrt zu werden.


Zunächst aber geschah nichts. Bis wir die Lincolnstraße passieren wollten. Dort sahen wir in einigen zehn Metern Entfernung ein Bündel Mensch mitten auf der Fahrbahn liegen. Besorgt bogen wir in die Straße ein, als ebendies auch ein Auto tat und uns überholte. Es war ein großer Wagen, ein Mercedes. Kurz vor der reglosen Gestalt stoppte er, und der Fahrer, ein drahtiger junger Bursche, sprang heraus, packte das Bündel am Kragen, zog es humorlos an den Straßenrand, stieg wieder ein und fuhr weiter.


Wir waren fassungslos. Herzlosigkeit live! Die Kiezklischees: Sie waren wahr! Wir eilten hin und fanden eine weitgehend leblose Frau vor. Sie war verwahrlost und korpulent, ihre Augen hinter den schmalen Schlitzen blicklos, und sie antwortete nicht auf meine Frage, wie es ihr denn ginge. Sie atmete kaum.


Damals hatten wir noch keine Mobiltelefone, deshalb blieb Ms. Columbo bei ihr, und ich betrat (bang!) die nächstbeste Kneipe und wählte 110. Minuten später entstiegen einem Streifenwagen zwei Polizisten, auch Sanitäter trafen ein. Sie rüttelten die Frau, die ihnen offenbar nicht ganz unbekannt war, kräftig durch, was diese zum dumpfen Lallen brachte. Na bitte. Auch die Sache mit dem Mercedesfahrer, der die Frau beiseite gelegt hatte wie einen auf die Straße gerollten Mülleimer, nahmen die Ordnungshüter mit einer befremdlichen Lockerheit. Hätte der Mann die Frau etwa überfahren sollen? Noch mal na bitte.


Die Polizisten und Sanitäter schienen uns währenddessen unisono mit latentem Spott zu mustern. Mir wurde klar, wofür sie uns hielten: für dumme, ängstliche Landeier auf Stadtausflug, die
sich wegen einer simplen Besoffenen bepissten und alle Abteilungen der Exekutive in Bewegung setzten. Welch eine Verschwendung!

Dieser Vorfall prägte lange Zeit unser Bild vom Kiez, das ja eh auf Vorurteilen gründete. Als wir anderthalb Jahre später die Chance hatten, das verschnarchte Rentnerparadies Sülldorf gegen eine Wohnung in der Seilerstraße einzutauschen, erinnerten wir uns wieder an das Bündel Mensch auf der Lincolnstraße, an den brutalen Mercedesfahrer, an die spöttischen Polizisten. Wir überlegten hin und her. Aber dann sind wir doch umgezogen – und lernten sie rasch mögen, die Reeperbahn, die Besoffenen, die Bullen, die Dickewagenfahrer.

Und wenn heute irgendwer im Weg herum liegt, dann ziehe ich ihn natürlich beiseite, zu seinem eigenen Schutz. Ist doch klar.

Ex cathedra: Die Top 3 der fürsorglichen Songs

1. „You've got a friend“ von Carole King
2. „Carry me across the water“ von Midnight Choir
3. „Best for you“ von Morning Runner

03 April 2006

Matt for the masses

Seit neustem bin ich Fernsehstar, obwohl Ms. Columbo dafür viel geeigneter wäre, schon rein optisch. Morgens um 9, wenn ich das Haus verlasse, bin ich bereits im Fokus vieler Objektive. Und abends, wenn ich von der Arbeit komme, sind die Kameras immer noch da. Wenn ich das Sichtfeld der einen verlasse, übernimmt mich liebevoll die nächste.

Klingt nach glamourösem Leben. Klingt, als sei „Die Rückseite der Reeperbahn“ endlich zur täglichen Seifenoper geworden. Matt for the masses.

Doch die Zuschauer vor den Monitoren, auf die mein Konterfei nun morgens und abends übertragen wird, haben alle den gleichen Beruf: Es sind Polizisten. Und es ist nicht die Rück-, sondern die Zuckerseite der Reeperbahn, die unter medialer Dauerbeobachtung steht. Ich laufe halt nur Tag für Tag durchs Bild. Und jeder meiner Gänge reeperbahnrauf und reeperbahnrunter wird vier Wochen lang gespeichert.

Die Idee hatte unser aus Bayern importierter Innensenator Udo Nagel. „Das im vergangenen Sommer novellierte Hamburger Polizeirecht“, schwärmt er in schönstem Euphemistendeutsch, „gibt uns diese gute Möglichkeit, die Sicherheitslage in unserer Stadt weiter zu verbessern.“

Am Wochenende aber, als Chemnitzer Neonazis durchs Viertel marodierten, Rassistenlieder sangen und von der Polizei unbehindert verfassungsfeindliche Symbole schwenken durften, blieb die Sicherheitslage in unserer Stadt eher unverbessert.

Vielleicht lag's ja daran, dass die Chemnitzer einfach zu blöd dazu waren, durchs Bild zu laufen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Fernsehbezug
1. „Video killed the radio star“ von The Buggles
2. alles von TV Smith
3. alles von den Talking Heads

01 April 2006

Der Polizeieinsatz

Wildes Hupen hallt durch die Seilerstraße, nachts um halb zwei. Durchdringend, langanhaltend. Wenn dieses Hupen einen Gemütszustand verkörpert, dann ist es: Wut. Ich betrete den Balkon und sehe die Bescherung. Eine junge Frau hat auf dem Gehweg geparkt und ist dann von einem weiteren Illegalen zugestellt worden. Jetzt geht nach hinten nix mehr und nach vorn erst recht nicht: ein Bauanhänger, Verkehrsschilder und ein weiterer Gehwegparker sorgen für einen vollverstellten Fluchtweg – es ist wie verhext.

Sie hupt, sie steigt aus, regt sich auf, verflucht ihr Schicksal. Was soll sie auch sonst tun – die Polizei rufen, als Gehwegparkerin? Verflixt. Inzwischen sind zwei Freunde von ihr eingetroffen, die helfen wollen. Allerdings erweist sich das Imaginationsvermögen dieses Trios als zutiefst erschütternd.

Wie man auf dem schlechten, aber dennoch aussagekräftigen Foto sieht, ist kein Meter Platz zwischen dem Halteverbotsschild und dem blauen Wagen in der legalen Parkbucht; trotzdem rangiert die Fahrerin auf engagierte Anweisungen eines ihrer Begleiter das Auto unablässig hin und her – in der Absicht, sich durchzuquetschen. „Komma, komma, komma“, lallt der dickliche Nachtschwärmer lautstark, „un’ schdobb! Un’ surügg, einschlan’g, un’ vor – schdobb!“

So geht das eine Viertelstunde lang, obwohl das Ganze ungefähr so sinnvoll ist wie der Versuch, ein Nilpferd in eine Hundehütte zu quetschen. Gleichwohl bleibt das Trio eifrig bei der Sache, drückt sogar an jenen Wagen herum („Scheise, der haddi Hannbremse ange’sogen!“), deren Abwesenheit sich die wütende Frau jetzt wohl noch sehnlicher wünscht als als eine IQ-Verdopplung ihrer Hilfstruppen.

Als die beiden Herren allerdings anfangen, die umliegenden Verkehrsschilder abzubauen, beschließe ich, die Polizei zu rufen. Schließlich sollte man weiterhin erfahren, dass die Seilerstraße ab diesem Punkt nur in eine Richtung befahren werden darf. Fünf Minuten später: Ein Streifenwagen zischt heran, zwei Polizisten springen heraus. Die beiden Begleiter der Frau verdrücken sich unauffällig, sie bleibt notgedrungen zurück.

Doch zu meiner Verwunderung stürzen die Ordnungskräfte sich plötzlich auf einen korpulenten Typen im T-Shirt, der ein paar Meter weiter vor der Spielhalle steht. Sofort werden die üblichen Klischeeschikanen durchdekliniert: Arme hoch, an die Wand, Beine auseinander. Gebrüll, Protest, das ganze Programm. Hier oben auf dem Balkon macht sich Verwunderung breit. Hallo, was ist denn nun mit dem abgebauten Einbahnstraßenschild? Ihr habt den falschen Mann!

Die Polizisten führen ihn zu einem Wagen hinter jenem, der die Frau zugeparkt hat. Auch der steht illegal auf dem Gehweg. Und er hat eine eingeschlagene Windschutzscheibe, wie ich jetzt sehe; der T-Shirt-Typ gilt offenbar als hauptverdächtig. Allerdings schwört er „bei meiner Mudder”, diese Scheibe noch nie im Leben gesehen, geschweige denn eingeschlagen zu haben.

Der Schauplatz des Geschehens hat sich verlagert, eindeutig. Schließlich lassen die Polizisten ihn doch laufen, obwohl sie das Entlastungspotenzial seines Mudderschwurs zunächst als nicht ausreichend hoch eingestuft hatten. Noch während sie Spuren am beschädigten Auto sichern, kommt endlich der Zuparker zurück. Und die Frau, die während der polizeilichen Investigation das unauffällige Mäuschen spielte, stürzt jetzt auf ihn zu, hält ihm den ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase und faltet ihn zusammen wie eine Kiezhure ihren insolventen Freier.

„Du Wichser hast mich zugeparkt!“, brüllt sie, „was denkst du dir eigentlich dabei, Arschloch! Ich polier dir die Fresse, Pisskopp!“ Er bleibt stumm, steigt ein und fährt schnell weg. Sie auch. Und während dieser ganzen Szene stehen die Polizisten daneben; das Ganze interessiert sie für keine zwei Cent. Verschwundene Einbahnstraßenschilder, Gehwegparker, Furien am Rande des verursachten Kieferbruchs: egal. Sie bewachen ungerührt ein Loch in einer Windschutzscheibe.

Die Show ist also vorbei. Hier gibt es nichts (mehr) zu sehen. Nur zu bloggen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Polizeibeteiligung
1. „Hurricane“ von Bob Dylan
2. „Good cop bad cop“ von Everything But The Girl
3. alles von The Police