Eine Mail von DHL: Mein Paket sei bei einem Nachbarn abgegeben worden, und zwar in Chikos Kiosk, Seilerstr. 45. Unter Nachbar verstehe ich normalerweise jemand im gleichen Haus oder wenigstens in dem daneben, DHL scheint das allerdings ein wenig laxer zu sehen. Aber hundert Meter sind ja mühelos zu bewältigen. Auch vorm Rückweg ist mir nicht bange, denn ich erwarte keine Zwölferkiste Sauvignon Blanc, sondern nur eine Probebrille.
Also auf zu Chikos Kiosk, der mir bislang unbekannt war. Kein Wunder: Die kleinen Läden auf St. Pauli kommen und gehen, man sollte sich besser an keinen von ihnen gewöhnen, das lohnt sich nicht.
Neben dem An- und Verkaufsladen für gebrauchte Weiße Ware geht es ein zwei, drei Treppen runter ins Souterrain. Ich betrete den winzigen Laden, in dem sich kein Kunde aufhält, aber alter Rauch ruhig weiter vor sich hin erkaltet. Mein Handy zeigt die Mail von DHL. Damit möchte ich bei Bedarf meine Legitimation nachweisen können.
Ein sehr unrasierter, mit lichtem Haar geschlagener Mann hinter der dominanten gläsernen Vitrine sieht mich, und noch ehe ich den Sachverhalt vortragen kann, ruft er „Chiko!“, statt zu grüßen.
Was an meinem Auftreten verriet nur diesem gewitzten, jedoch nur rudimentär mit sozialen Skills ausgestatteten Menschenkenner, dass nicht er, sondern ausschließlich Chiko mir mit meinem Anliegen, was immer es auch sei, weiterhelfen können wird? Theoretisch hätte ja auch eine Tasse Filterkaffee das Ziel meiner Souterrainträume sein können.
Nach dem Ruf nach dem Chef widmet er sich jedenfalls nicht mehr mir, sondern irgendwelchen Tätigkeiten hinter der Vitrine, während ich warte und mich ein wenig fehl am Platze fühle, so mitten im winzigen Raum, umschwängert von kaltem Rauch.
Dann aber Auftritt Chiko. Wortlos tritt er ein aus einem Hinterzimmer. Ein nicht großer, nicht kleiner Mann von schwer zu schätzendem Alter, jedenfalls unter 40. Parka, Fünftagebart, die Augen leicht zusammengekniffen, indifferenter Gesichtsausdruck. Und sagt kein einziges Wort. Chiko schaut nur.
„DHL hat hier ein Päckchen für mich abgegeben“, sage ich und halte ihm das Smartphone hin, „für Wagner.“ Er schaut flüchtig aufs Display und verschwindet im Hinterzimmer. Wortkargheit scheint hier das Geschäftsmodell zu prägen.
Wobei: Von Wortkargheit könnte man ja erst reden, wenn überhaupt welche fielen, also Worte. Ihre Anzahl ließe sich dann in mathematische Beziehung setzen zur Gesamtdauer der Kommunikation, und wenn man das Ergebnis vergliche mit einem handelsüblichen Durchschnittsdialog, so ergäbe sich in Relation etwas, was unter Wortkargheit kategorisierbar wäre.
Schweigen allerdings ist mit solchen Kategorien nicht zu fassen.
Du kannst nichts durch null teilen.
Chiko kommt zurück, in der Hand das Päckchen für mich, den „Nachbarn“. Er hält es mir hin, ich nehme es ihm ab. „Muss ich noch etwas unterschreiben oder so?“, frage ich unsicher. Schließlich muss man immer was unterschreiben, sonst bekäme DHL ein Problem, sonst könnte ich ja behaupten, ich habe das Päckchen gar nicht erhalten, ich könnte straflos Ersatz fordern, und am Ende hätte ich zwei Probebrillen. Oder zwei Zwölferkartons Sauvignon Blanc.
Chiko schließt für eine Millisekunde die Augen, während er mit der linken Hand eine winzige wegwerfende Geste macht. Dann dreht er sich um und verschwindet wortlos wieder im Hinterzimmer.
Ich werde wohl niemals erfahren, wie Chikos Stimme klingt.
Wahrscheinlich weiß das nicht mal DHL.