11 September 2009

Fundstücke (56): Der Preis der Macht



In welchem Ausmaß die Macht dich zerstört, zerknautscht und unschön vermännlicht: All das zeigt dieses erschütternde neue Foto von Angela Merkel auf einem CDU-Wahlplakat in Altona.

Man möchte Merkel unter diesen Umständen gar keine weitere Amtszeit mehr wünschen. Denn wo will sie denn noch hinmutieren – zum Hulk?



10 September 2009

Ein Ruck muss durch Ole gehen!



Wenn man während einer Busfahrt das Glück hat, neben dem legendären Fotografen Günter Zint zu sitzen, ist der Ausflug gerettet, egal was sonst noch passiert. Der Mann ist nämlich ein Anekdotenspringbrunnen.

Kein Wunder: Zint fotografierte einst im Starclub, er lernte die Beatles kennen, spielte zu Hause Jimi Hendrix Platten vor, zog mit Günter Wallraff konspirativ durch die Lande – und wies unlängst noch Eric Burdon (The Animals) darauf hin, dass er Mist schreibt in seiner Autobiografie, wenn er behauptet, er habe nie im Starclub gespielt. Hat der gute Eric nämlich doch, und Günter kann es beweisen, er war nämlich dabei.

Zint betreibt seit 1991 das Sankt-Pauli-Museum in der Hein-Hoyer-Straße, eine Schatzkiste ohnegleichen, nicht nur wegen des gewaltigen Zint’schen Fotoberges. Es dokumentiert in vielfältiger Form das Leben und Treiben auf dem Kiez im Lauf der Zeiten – und ist jetzt in Gefahr.

Denn die Stadt will den eh mageren Jahreszuschuss nicht mehr zahlen; schließlich muss unser Erster Bürgermeister Ole von Beust jeden Cent zusammenkratzen, um den städtischen Anteil am 450-Millionen-Projekt Elbphilharmonie zu wuppen.

Günter Zint und seine Tochter Lena, die gerade eingestiegen ist, könnten das Sankt-Pauli-Museum mit einem Tausendstel dieser Summe länger betreiben, als es je Huren in der Davidstraße geben wird, aber das kriegen die Zints nicht, das Tausendstel.

Deshalb hat Günter der Stadt zwei Vorschläge gemacht, von denen sie sich einen aussuchen kann – und Ole wäre echt mit der Angelrute gepeitscht, wenn er das nicht täte.

Zum Beispiel wäre der generöse Günter bereit, das komplette Museum der Stadt zu übereignen, wenn sie ihm, dem 68-Jährigen, hinfort eine monatliche Leibrente von 2500 Euro zahlte. Dafür will er sich sogar noch weiter ums Museum kümmern. Das wäre der billigste Kulturschatz, den Hamburg je erworben hätte, selbst wenn Günter 100 würde, was ihm unbedingt zu wünschen wäre.


Also, Ole: Gib dir einen Ruck!


Im Rahmen der Busfahrt hat er mich übrigens fotografiert, der legendäre Knipser. Viel mehr werde ich im Leben nicht erreichen können.

Und natürlich habe ich mich revanchiert.


09 September 2009

27

Am Wochenende wollten wir uns auch mal einen 3-D-Film (Foto) anschauen. Optimistisch und beschwingt traten wir vor die Kinokasse. Dort allerdings verlangte ein professioneller Wegelagerer völlig überraschend die Gesamtsumme von 27 Euro von uns.

27 Euro?! Dachte erst, ich hätte mich verhört. Doch der zynischerweise mit einem unschuldig weißen Oberhemd ausstaffierte Schnösel grinste nicht. Er meinte es ernst – und lehnte zudem unter schlecht geheucheltem Bedauern alle üblichen Ermäßigungen ab. „Nicht für 3-D-Filme“, grummelte der geschulte Spitzbube desinteressiert triumphal.

Ms. Columbo und ich waren beide zu verwirrt und verdattert, um die Sache lauthals und unter Anzettelung eines an „Terminator 3“ geschulten Kundenaufstands abzublasen oder sie wenigstens kleinlaut in einen 2-D-Film umzumünzen. Stattdessen entrichtete ich wie hypnotisiert die geforderte Wuchermaut.

27 Euro. Dafür kann man bei Amazon einen neuwertigen DVD-Spieler kaufen, dafür muss eine Reinigungskraft fast vier Stunden arbeiten, und auf der Reeperbahn beginnt ungefähr dort sicherlich das untere Ende der Skala der Sextarife.

27 Euro. Umgerechnet wären das damals – manchmal muss man sich das noch mal bitterzart auf der Zunge zergehen lassen – rund 53 Mark gewesen. Für einen einzigen Film. Ohne Bier und Popcorn.

Immerhin weiß ich jetzt, warum Cinemaxx-Kassierer hinter Panzerglas sitzen müssen.

08 September 2009

Die Uhr geht, und die Gurké



Von
: Matt
Betreff: Die Uhr geht, und die Gurké
Datum: 8. September 2009 00:21:57 MESZ
An: v?@hamburg-altona.intercityhotel.de

Liebes „InterCityHotel“ am Paul-Nevermann-Platz,

jeden Morgen komme ich so gegen 9:20 Uhr an dir vorbei, und jeden Morgen steht deine Uhr verlässlich auf drei Minuten nach halb 11. Das ist falsch, doch gleichwohl schon sehr, sehr lange so; ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich von Jahren spreche.

Jedesmal, wenn ich an der Fußgängerampel stehe und den stoischen immergleichen Zeigerstand deiner Uhr sehe, „InterCityHotel“, dann durchzuckt mich der kleine Blitz eines sanften Schreckens, doch inzwischen habe ich Routine beim augenblicklichen Selbstberuhigen und weiß praktisch in der gleichen Sekunde, wenn ich deine Uhr sehe, dass ich doch nicht verschlafen habe.

Allerdings wäre es mir dennoch erheblich lieber, könnte ich an deiner Uhr schlicht und einfach das tun, was sie der Umgebung rund um den Bahnhof Altona tagein, tagaus in stoischer Gleichmut signalisiert: die Zeit ablesen.

Doch das geht nicht, denn sie steht ja. Hast du, liebes „InterCityHotel“ am Paul-Nevermann-Platz, eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass man denken könnte oder gar sollte, wo draußen die Uhr nicht geht, würden drinnen eventuell auch die Betten nicht gemacht, die Toiletten nicht geputzt und die Bratenreste von gestern zum Gammelgulasch von heute?

Da denk bitte mal drüber nach,
„InterCityHotel“. Und dann bring endlich deine Uhr zum Laufen, verdammt noch mal.

Mit hoffnungsvollsten Grüßen
Matt

PS: Bei der Gelegenheit könntest du eigentlich auch gleich deine beiden hässlichen Binnenmajuskeln („InterCityHotel“) entsorgen, aber das entscheidet wahrscheinlich mal wieder irgendeine Zentrale, ich weiß. Trotzdem.

PPS: Die Überschrift habe ich übrigens entlehnt aus Gert Mattenklotts „Versuch über die Albernheit“.

07 September 2009

Fragen, die die Welt (nicht) braucht


Zu den quälendsten Fragen gehören zurzeit diese: Wie konnte die Menschheit 200.000 Jahre lang ohne Nasenhaarschneider auskommen? Und wie schafft der Franke das bis heute?

Auch das Baby am Wochenende im Gemüseladen warf Fragen auf: Es starrte bewegungslos schräg an die Decke, ohne je zu blinzeln. Gleichwohl handelte es sich in der Tat um ein Baby und keine Puppe; es nuckelte nämlich versonnen an Papas Zeigefinger. Hoffentlich hat der Mann routinemäßig Augentropfen dabei.

Als wir heute durch Winterhude zockelten, fiel uns ein Friseurladen namens „Sculp Cut“ auf, und auch das ist fragwürdig. Die Gefühle, mit denen Leute, die noch über Haare verfügen (also nicht ich), diesen Laden betreten, dürften als „gemischt“ nur unzureichend beschrieben sein. Alle düsteren Befürchtungen, die der Name „Sculp Cut“ erzeugt, werden zudem durch das an der Hauswand angebrachte überdimensionale Symbol nicht gemindert: eine Schere.

Warum tut ein Friseur so was? Und hat er einen tadellosen Nasenhaarschneider in Gebrauch?

Wenn ja, dann schicke ich den Franken vorbei, trotz allem.



05 September 2009

Country auf der Elbe, olfaktorisch eingetrübt



Die Barkasse Frau Hedi tanzt unter den Attacken spätsommerlicher Sturmböen auf den Elbwellen.
Gleich wird die Countryband Oklahoma Ranch das Schaukeln zum Schunkeln umzutransformieren versuchen – eine Attraktion übrigens, die wahrscheinlich deutschlandweit keine andere Stadt zu bieten hat, weshalb Hamburg allen anderen deutschen Städten unbedingt vorzuziehen ist. Und das, obwohl Oklahoma Ranch erneut eher bescheidene Fähigkeiten beim Countryspielen offenbaren.

Heute geriert sich die Elbe wild, und alle greifen nach den Stangen unterm Dach: der Franke, The Maastrix, China Girl,
German Psycho und sogar Mr. X, dem ich vor Jahren versprach, ihn niemals zu verbloggen, weshalb dieser Satzteil hiermit auch für ungültig und nichtexistent erklärt wird.

„Festhalten ist so was von 90er!“, pflaume ich als einziger Haltloser die rückgratlose Gruppe fröhlich an, werde allerdings im gleichen Moment gegen den annullierten Mr. X geschleudert und greife instinktiv nach der Deckenstange.

Hier hilft also nur eine Runde Staropramen, dann hat man auch was zum Festhalten, sogar etwas Mobiles. Das kommt gut an, das Staropramen, zumal ich es spendiere. Nur China Girl will ein Bier mit Lemon, aber wir sind ja tolerant.

German Psycho ist übrigens trotz seines gezielt gepflegten Chromaxtimages im Kern seines Herzens (yes, er hat eins!) ein höchstwahrscheinlich zartes, vielleicht gar verzärteltes Wesen, das keiner Fliege, sondern höchstens einem Wiener Schnitzel etwas zuleide tun könnte. Auch kann er gewiss kein Blut sehen; ein ernstes Hindernis für eine anständige Serienkillerkarriere.

Wäre seine Zartheit weniger ausgeprägt, dürfte er jedenfalls auf den Geruch von Kotze, der sich plötzlich flächendeckend über unser Boot legt, nicht so reagieren, wie er reagiert.

Während die Band so tut, als stänke es nicht bestialisch, und unbeirrt weiter „Oh lonesome me“ (Clip) spielt, versucht GP verzweifelt, seine Nase vorm Kontakt mit der Außenwelt zu schützen. Er tut es geradezu mit Händen und Füßen, doch gelingen will’s ihm nicht.

Es ist übrigens seltsam, wie geschickt der Geruch von Erbrochenem dich in einen Nachahmungsmodus zwingt, obwohl doch auch dem denkfaulsten Instinkt aus unserer Australopithecus-afarensis-Phase klar sein dürfte, dass es das olfaktorische Problem keineswegs behebt, wenn man selbst zu seiner Potenzierung beiträgt.

Kurz: Wohl jeder auf dem Boot denkt während der hartnäckigen Kotzewolke, die uns ausgerechnet in einer Schleuse liebevoll umhüllt, eine Weile darüber nach, ob er sich ebenfalls schnell mal über die Bordwand hängen sollte.

Doch alle bleiben eisern, sogar GP, dessen Nase inzwischen so tief in seiner eigenen Armbeuge steckt, dass sie eigentlich den Eisengehalt seines venösen Blutes erschnuppern können müsste.

Als Oklahoma Ranch „You are my sunshine“ spielen, ist dank der Sturmböen das Schlimmste überstanden, dennoch muss GP das Schiff verlassen, und nicht nur aus Geruchsgründen.

Wir lassen den Abend im Copper House ausklingen, wo China Girl mir die gefühlten sechs Bedeutungen des chinesischen Wortes „Ma“ beibringt. Unter anderem bezeichnet dieses Wort sowohl „Mutter“ als auch „Pferd“, was in China erheblich häufiger zu Schenkelklopfen und Missverständnissen führt, als dort ein Sack Reis umfällt.

03 September 2009

Die gemütlichsten Ecken von St. Pauli (10)


Ha, reingelegt …

Wir sehen hier nämlich nicht jene ominöse Flüssigkeit, mit der des zivilisierten Verhaltens unfähige Pimmeltölpel tagein, tagaus den Kiez zu düngen pflegen, nein.

Hingegen handelt es sich um handelsüblich vom Himmel gefallenes Wasser, das sich traulich in einer Pfütze versammelte, um die vom Imbiss Lukullus an der Reeperbahn abgefälschten und zugleich gülden verfärbten Sonnenstrahlen zu spiegeln.

So entpuppen sich manche scheinbar schlechten Seiten von St. Pauli unversehens als rein und unschuldig. Und das muss auch mal gesagt werden.

02 September 2009

Plus mal minus ist: minus

Die Kundin im spanischen Lebensmittelladen macht eigentlich alles richtig.

Nachdem ihr die Kassiererin das EC-Terminal gereicht hat, beschirmt sie mit der linken Hand die Tastatur, während sie mit der rechten den Code eingibt.

Brav.

Allerdings hätte sie parallel zum Tippen vielleicht doch nicht die vierstellige Geheimzahl vernehmlich vor sich hin murmeln sollen. Immerhin tut sie es auf Spanisch, was eine gewisse Verschlüsselung der Botschaft darstellt.

Zumindest für meine Ohren.

01 September 2009

Der seltsame Schneuzer

Vielleicht hat ihn der fast volle Mond überm Kiez kirre gemacht, vielleicht auch eine Brise zu viel LSD, jedenfalls bellt draußen ein Mann.

Klein und eckig ist er und anscheinend asiatischer Herkunft, er trägt eine dunkle Umhängetasche, in der er immer wieder wühlt, und redet mit sich selbst.

Der Mann schneuzt sich in beide Hände und verwischt den Schmodder auf Motorhaube und Windschutzscheibe eines parkenden Transporters (M.).

Aus der Hofeinfahrt des Spielcasinos kommt ein Auto. Der Eckige klopft an die Scheibe und sagt etwas. Ein Muskelmann öffnet die Tür, es gibt einen Wortwechsel. Der Verwirrte wird laut, der Muskelmann springt aus dem Wagen, verfolgt den Kleinen ein paar Alibimeter weit und geht dann zurück zum Wagen.

Als er losfährt, kommt der Verhaltensauffällige erstaunlich behende zurück und versucht das wegfahrende Auto zu treten. Zu seinem Glück schafft er es nicht; der Casinomann ist doppelt so groß wie er. Zufällig kommt ein Streifenwagen vorbei, und der seltsame Mann zeigt fuchtelnd die Richtung, in die sein Kontrahent entschwunden ist.

Vielleicht denkt er wirklich, die Polizei sei gerade vom Himmel gefallen, um ihm beizustehen.

Wieder schneuzt er sich in die Hände und wischt sie diesmal an der Hauswand ab, mit weit ausgebreiteten Armen; es sieht aus wie ein religiöses Ritual. Als eine Passantin vorbeikommt, springt er auf sie zu, um sie zu erschrecken, und ruft „Fuck you!“.

Sie beschleunigt den Schritt, er verfolgt sie nicht. Er brabbelt irgendetwas. Dann geht er langsam in Richtung Postamt.

Man hört ihn noch eine ganze Weile bellen in der Ferne.


30 August 2009

Fundstücke (55): Von Metaphernhöllen & Denglishgedengel

1. Die abgebildete Anzeige aus der Mopo stellt zweifellos einen neuen Höhepunkt in der Disziplin „Fisch sucht Fahrrad“ dar. So vieles geht da schief, von der widernatürlich süßen Zitrone über die Denunzierung des eigenen Kindes als „Schädling“ bis hin zum unfreiwillig derben „Entsafter“, der unbedingt „funktionsfähig“, also keineswegs impotent zu sein hat.

Doch sollte Letzterer nicht eher, um im metaphorischen Subtext zu bleiben, dahingehend funktionieren, dass er „Saft“ beisteuert statt ihn zu stibitzen? Und warum soll der Herr Entsafter bloß für einen abgerundeteren Geschmack sorgen, wo doch die Zitrone schon gar nicht mehr sauer, sondern verblüffenderweise süß ist?

Vielleicht sucht die 38-Jährige Anzeigenschalterin aber in Wahrheit auch nur nach einem Auftragskiller, der ihr den Schädling vom Hals schafft, möglichst mithilfe eines Entsafters. Allerdings gibt so was erfahrungsgemäß eine Riesensauerei – und kostet bestimmt Aufpreis in Auftragskillerkreisen.

2. In Kölle hat man nur eins im Kopp: Sex! Natürlich ist das eine unzulässige Verallgemeinerung, ich weiß – zumal die Basis nur ein einziger Leser darstellt, der sich allerdings anderthalb Stunden lang in jene Einträge meines Blogs vertiefte, die mit Sex etikettiert sind.

3. Jan Leube ist Berliner Kreativchef der Werbeagentur BBDO – und eindeutig die Jil Sander des neuen Jahrtausends. Und zwar wegen dieses Denglishgedengels:
„Gerade jetzt, da die klassischen Bezahlbühnen zunehmend in die Knie gehen“, salbaderte Leube nämlich vor einigen Wochen öffentlich, „wird Content, der so compelling ist, dass er sich von alleine durchsetzt, zur einzig wichtigen Währung in der Attention Industry formerly known as Advertising.“
Da Leube Anglist ist, steht zu vermuten, dass während seines Sprachstudiums einfach einige Synapsen falsch verdrahtet wurden und er sie jetzt nicht mehr entwirren kann. Zum Glück gilt das in seiner Branche nicht als Behinderung.

4. „Holt er nur die Zeitung rein/möcht ich seine Zeitung sein.“ Balzversuch von Uschi Glas im Song „Mein Wochenende“. Allerdings ist die Peinlichkeit verjährt, das Stück ist von 1973.



28 August 2009

Beim Büffetinder

Franke: „Ich glaube, ich hole mir noch ne Portion.“
Matt: „Du brauchst dich mir gegenüber nicht zu rechtfertigen, Franke.“
Franke: „Ich habe nicht mit dir geredet.“
Matt: „Sondern?“
Franke: „Mit mir selbst.“
Matt: „Aha. Du hättest deinen Plan also auch dann bekanntgegeben, wenn ich nicht hier säße?“
Franke: „Nein, das tut man nur, wenn man einen Schatten hat.“
Matt: „Dann hast du dich ja doch mir gegenüber gerechtfertigt!“
Franke: „Quatsch. Ich hol mir jedenfalls noch ne Portion.“
Matt: „Ich auch.“


27 August 2009

Nur beinah Balkonkino



Sitze in der unvergleichlich seidigen Kiezluft dieses Augustabends auf dem gleichen Balkon, von dem aus ich neulich den Polizeieinsatz filmte, als es unter mir kracht, klirrt und scheppert.

Ich schaue hinab. Wie sich herausstellt, hat ein Auto ein anderes beim Vorbeifahren gestreift. Nun stehen beide Blechkisten recht bedröppelt unter unserem Balkon, und aus beiden steigen Frauen aus. Oha …

Die beiden gehen aufeinander zu, die Spannung steigt. Denn jetzt wird es wieder Action geben, Balkonkino. Und dann – schütteln sich die beiden melancholisch die Hände (Foto).

Das überrascht mich. Männer wären das anders angegangen. Vorwürfe wären hin und her geflogen, Gezeter hätte die unvergleichlich seidige Kiezluft dieses Augustabends kontaminiert, der unbedingte Wille zur Vermeidung eines Schuldeingeständnisses hätte über den Köpfen geschwebt wie eine blitzbereite Gewitterwolke.

Doch die Frauen bleiben ganz ruhig. Sie unterhalten sich gedämpft nach dem Händeschütteln, dann gehen sie zurück zu ihren Wagen, holen die Papiere aus den Handschuhfächern, breiten sie aus auf der Motorhaube der Geschädigten und tauschen die entscheidenden Daten aus.

Dann schütteln sie sich noch einmal die Hände und fahren davon, auf der Agenda
kleine überschaubare Aufgaben für ihre Versicherungen.

Hätten die beiden Friedenstauben jetzt auch noch die herumliegenden Scherben und Blechteile aufgekehrt, dann wäre ich glatt zum Feministen geworden.

War so schon ganz schön knapp.



Ohne Worte (56): Wie es hinter Leuchtreklamen aussieht



Entdeckt an der Fassade des Hotel Monopol, Detlev-Bremer-Straße/Reeperbahn

PS: So sah die Wand übrigens monatelang von vorne aus.


26 August 2009

Gesetz ist Gesetz, aber nur hier

Auf St. Pauli gelten Sondergesetze, die es sonst nirgendwo in Deutschland gibt. Der Stadtteilkern um die Reeperbahn, wo wir wohnen, heißt „Gefahrenbereich St. Pauli“; hier herrscht juristischer Ausnahmezustand, und zwar dauerhaft.

Wenn ich zum Beispiel samstagsabends eine Tüte Altglas wegbringe, mache ich mich augenblicklich bußgeldfähig. Denn Flaschen sind am Wochenende zwischen 22 und 6 Uhr laut Glasgetränkebehältnisverbotsgesetz rund um die Reeperbahn verboten. Dass ich sie nur in den Container statt jemanden an den Kopf zu werfen gedenke, ist aus Polizeisicht nur partiell interessant.

Selbst das nicht zustellbare Marmeladenglas von Muttern, welches ich am Schalter der Postfiliale ausgehändigt bekomme, darf ich legal nicht mit nach Hause nehmen, wenn es versehentlich bis 22 Uhr in der Tasche verblieben ist, denn damit wäre ein Betreten der Straße verbunden, und das ist in Begleitung von Mutterns Marmelade wochenends nun mal verboten.

Frauen mit Parfümflakon nachts auf dem Kiez? Haha, träumt weiter!

Ähnliche kiezexklusive Regeln gelten für alles, was als Waffe missbrauchbar ist, zum Beispiel Panzerfäuste, Anthrax oder Napalm, aber auch Baseballschläger. Ein braver Handwerker, der mit Schweizermesser hurtig gen Kunden eilt, ist sofort dran, wenn er der Polizei in die aufnahmebereiten Arme läuft. Denn was ist ein Schweizermesser? Korrekt.

Wie laut Waffenverbotsgesetz Gegenstände aus der Grauzone à la Schraubenzieher, Hämmer, Bohrer, Zangen oder Zahnbürsten zu behandeln sind, vermag ich nicht genau zu sagen, doch wenn man mich fragte, riete ich vorsichtshalber von ihrer Mitführung ab.

Ebenso hat man sich nur auf St. Pauli verdachtsunabhängigen Taschenkontrollen zu stellen, wie Ms. Columbo zu wissen glaubt. Überall anderswo musst du dich lediglich ausweisen, hier aber auch den polizeilichen Blick auf deinen Kondombestand im Seitenfach gestatten.

Ein weiteres Sondergesetz gilt unter Missachtung der grundgesetzlich garantierten Gleichberechtigung ausschließlich für – oder besser gesagt: gegen – Frauen. Sie dürfen nämlich die Herbertstraße nicht betreten.

Allerdings scheint es sich dabei eher um privates Hausrecht zu handeln; ich habe jedenfalls noch nie einen Polizisten gesehen, der die Huren in der Herbertstraße vor weiblichem Besuch zu bewahren versucht. Das regeln die schon selber.

Doch ich will nicht schwarzmalen; es gibt nicht nur Sondergesetze, die St. Pauli Guantanamo Bay näherbringen. Zum Beispiel kennen wir so etwas wie eine Sperrstunde nur vom Hörensagen oder von Besuchen in München.

Wer auf dem Kiez Wirt wird, wird als Wirt wirken bis zum Abwinken oder er vom Barhocker fällt – und selbst dann muss er seine Bar noch lange nicht zumachen. Auch der Einzelhandel ist hier erfreulich dereguliert, zum ständigen Verdruss der Sauertöpfe in Kirchen und Gewerkschaften.

Das Schlimmste, was man hier also tun kann, ist Samstagnacht mit einem Rucksack voller Flaschen, Waffen und Marmeladengläser durch die Herbertstraße zu stapfen – als Frau.

Wahrscheinlich explodiert dann die Welt oder so was.


25 August 2009

Stern, schnuppe



Manchmal bleibt von einer Kieznacht kaum mehr übrig als ein Mercedesstern ohne Mercedes.

Einst wurden sie abgebrochen und als eine Art Skalp eingesteckt; inzwischen scheint der Besitz dieses Statussymbols weniger wichtig zu sein. Entscheidender hingegen, es nach dem Abbrechen gepflegt zu vandalisieren.

Zweifellos ist diese Vorgehensweise eine deutliche Warnung an jene, die hierher kommen werden – deutlicher, als den unversehrten Stern zu Hause als Trophäe an die Wand zu nageln.

Der abgebildete wurde übrigens inzwischen von der Stadtreinigung aufgekehrt. Sein Ex-Eigentümer kommt beim nächsten Mal bestimmt nicht mehr mit dem Mercedes, sondern mit dem Taxi.

Aber er kommt.

22 August 2009

Am Scheideweg

Nur selten im Leben steht man dort. Mir erging es heute so.

Nach kurzem Überlegen traf ich eine Entscheidung. Einfach weil es wichtig war, überhaupt eine zu treffen.


Sonst wäre ich jetzt noch immer in Eppendorf.

Die Vögel

Wie die treueste Leserschar weiß, hatten wir vor einiger Zeit ein ernstes Taubenproblem. Es wurde schließlich behoben durch die Vollvernetzung unseres Balkons. Er erhielt gleichsam ein Ganzkörperkondom und stellte danach einen Ausbund an Wohnlichkeit dar, zumindest im Vergleich zu vorher. 

Nach einigen paradiesischen Wochen entdeckte ich einen Guanoklecks auf dem Balkonboden. Ich ging der Sache aber nicht auf den Grund, sondern runzelte nur die Stirn. Vielleicht aus Selbstschutz. Eine Woche später war ich in der Küche und nahm im Augenwinkel eine Bewegung auf dem Balkon war. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah: eine Taube. Wie in Pablo Picassos Namen war sie auf den vollvernetzten Balkon gelangt? War das Ganzkörperkondom etwa undicht? 

Nein: Aber zwischen Netzunterkante und Balkonboden klafft umlaufend eine Lücke von genau 82 Millimetern (Foto 1), ich habe mittlerweile nachgemessen. Und dort hatte das Viech sich anscheinend durchgequetscht. Jetzt flatterte es auf dem vollvernetzten Balkon herum und wusste nicht, was zu tun war. Denn hier gab es nichts, kein Fresschen, nur Plastikmöbel und einen Topf mit Minze, die Ms. Columbo sich seit dem Taubenbesuch die längste Zeit als Tee aufgegossen hat. Und vor allem gab es kein Entkommen. Die Taube war zwar clever genug gewesen, den Spalt zu finden, doch zu dämlich, um sich beim Fluchtversuch daran zu erinnern. 


Aufgeregt flatterte der Vogel nun hirnlos gegen die Netzwand, setzte sich ab und zu auf die Gießkanne, um zu kacken, und ich stand an der Scheibe und konnte a-b-s-o-l-u-t nichts tun. Die Menschheit hat es geschafft, auf den Mond zu kommen, doch wie ich persönlich dieser Taube nun den Ausweg verklickern sollte, das war mir so rätselhaft wie das verwirrende Geflecht der Gassen Ottensens, in dem ich mich regelmäßig verlaufe. 

Ratlos und vorsichtig betrat ich den Balkon, als der gefiederte Widerling mal kurz auf dem Boden Platz genommen hatte – und plötzlich schlüpfte er unten durch den Spalt. Bodenlose Erleichterung! Zumal der kleinhirnige Dinosauriernachfahr gewiss in den letzten Minuten ausreichend Panik geschoben hatte, um nie, nie mehr wiederzukommen. Tauben lernen ja aus so was. Und sie würde es aufgeregt den anderen sagen: Bleibt da weg, zu viel Adrenalin! Das Leben war schön. 

Eine Woche später allerdings rief Ms. Columbo nach mir. Ich eilte in die Küche und sah es. Drei Tauben. Auf dem Balkon. Der geschnäbelte Vollhorst von damals hatte die Story weitererzählt, und jetzt wollten seine Kumpels auch mal gucken. Ihre Panik bei meinem Anblick war zunächst groß. Ein einziges Geflatter, Gegurre und Gekacke machte sich breit unterm Netz, der Balkon war ein Tollhaus. Unsere Panik war kaum kleiner. Was nur tun? Vergrämer anrufen. 

Es war Samstagnachmittag, der Mann war entsprechend begeistert. Zumal er aus Bad Segeberg rüberkarriolen musste. „Das. Kriegen. Wirr. Schon. Hin“, schnarrte er im modulationsfreien Ton des Kehlkopfoperierten, der sich beim Sprechen ein Mikro mit Minilautsprecher an den Hals halten muss. Er hatte eine Decke mitgebracht. Die warf er über die Tauben, fing so eine nach der anderen ein und quetschte sie – nein, nicht zwischen seinen Handwerkerpranken zu Tode, wie es eine dunkle Seite in uns mit uneingestandener Angstlust erwartete, sondern zwischen den sich überlappenden Netzbahnen hindurch in die Freiheit. 

Dann spannte dieser Segeberger Samariter zwei Drähte vor den 82 Millimeter breiten Spalt und schnarrte zum Abschied ein blechernes „Auf. Wiederr. Sehen.“ Seitdem haben sie es nicht mehr geschafft, auf unseren Balkon vorzudringen. Doch gestern hörte ich es gurren im Halbschlaf, und etwas flatterte und kratzte am Schlafzimmerfenster. 

Sie wollen wieder rein, jetzt erst recht. Und sie sind sauer.

20 August 2009

Die aufgeflogene Flanage

Mist, der Aldiverkäufer ist uns Flaneuren auf die Schlenderschliche gekommen …

„Wieder Mittagspause?“, fragt er scheinbar leutselig, doch mit desillusioniertem Blick. Wir bejahen. „Na, klasse“, sagt er.

Dieses „Na, klasse“, die Art, wie der Aldiverkäufer Resignation und Weltekel in seine Intonation einfließen lässt, offenbart alles. Er hat uns durchschaut, er hat erkannt, dass wir dort bei Aldi nichts weiter tun als gemächlichen Schrittes die lieblos eingeräumten Regale abzuschreiten, uns lustvoll über die „Ampullen-Monatskur“ mokieren und abschätzig den Preis für die hinter Glas gesperrte externe Festplatte kommentieren (320 GB für wahnsinnige 59,99 Euro – hallo???).

Er weiß, wir werden hier nie etwas kaufen. Und durch sein „Na, klasse“ sollen auch wir wissen, dass er es weiß.

Irgendwie macht danach die Flanage nicht mehr so viel Spaß. Wir drücken uns an der Kassenschlange vorbei hinaus. Doch noch lange hallt sein „Na, klasse“ nach, und sein trauriger Blick hängt uns an den Kleidern wie ein Brandloch.

Vielleicht sollten wir doch mal was kaufen bei Aldi.
Zum Beispiel eine Dose Hundebelohnungskekse.

Foto: Aldi-Nord