Neulich fragte mich ein Blogbesucher nach meiner Meinung zur Amazon-Prime-Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“, und ich musste gestehen, sie bisher nicht gesehen zu haben. Mein Interesse hält sich – nach allem, was ich darüber gelesen habe – auch in Grenzen. Noch eine Serie, die Zuhälter als irgendwie cool und ihren Lifestyle als erstrebenswert darstellt? Das macht so müde.
Zudem bin ich auch als Betreiber eines Blogs namens „Rückseite der Reeperbahn“ nur unzureichend kompetent, um eine Fiktionalisierung glaubhaft mit der Kiezrealität abgleichen zu können. Es gibt ja (mindestens) zwei St. Paulis: das Rotlichtmilieu und das Wohnviertel. Und ich tummle mich seit einem Vierteljahrhundert ganz überwiegend in Letzterem.
Meine Berührungspunkte mit dem Rotlicht sind an einer Hand abzuzählen. Einen echten Luden habe ich zum Beispiel nie kennengelernt. Ich sehe ab und zu Corvettes und Lamborghinis in der Straße parken (hier ein Bild von letzter Woche), aber gehören sie auch wirklich einer Rotlichtgröße? Gerichtsfeste Beweise fehlen. Bei einem Bier im La Paloma lernte ich mal eine Prostituierte kennen, die gerade Pause machte und mich und meinen Begleiter um eine Cola anschnorrte. Sie erzählte uns von ihrer Jugend in Ostdeutschland, was sie nach Hamburg verschlagen und wie sie ein Auskommen im Rotlichtviertel gefunden hatte. Eine freundliche junge Frau, die sich für die Cola bedankte und wieder zurückging an die Arbeit in der Davidstraße.
Persönlich kenne ich nur die nicht nur leicht schillernde Kiezgröße Kalle Schwensen. Der Kontakt kam beruflich zustande. Ich war Musikjournalist, und Kalle hatte die wiedervereinigten Tic Tac Toe am Start. Zeitweise informierte er mich via Facebook über seine Veranstaltungen wie Freistilboxen und Ähnliches.
Zweimal bin ich Kalle Schwensen in natura begegnet, und seither meide ich den Kontakt – vor allem deswegen, weil sein größter Ehrgeiz darin zu bestehen scheint, einem bei der Begrüßung den Mittelhandknochen zu brechen. Muss nicht sein. Auch dass er als selbst ernannter Welterklärer zuletzt mit Corona-Verschwörungsfantasien verhaltensauffällig wurde und Wolodymyr Selenskyj und Annalena Baerbock für europäische Großverbrecher hält (nicht aber Putin), spricht kaum dafür, den Kontakt zu reaktivieren.
Im Fitnessstudio begegnete mir ab und zu mal Inkasso-Henry, der in seiner großen Zeit für Luden Geld eintrieb. Henry ächzte und keuchte beim Bankdrücken wie ein Pottwal mit Katarrh. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, und dann las man Nachrufe auf ihn – wie jetzt auf den einstigen Nutella-Gang-Luden Klaus Barkowsky, der gestern früh vom Balkon seiner Wohnung in Altona gesprungen sein soll. Unter anderem seine Geschichte erzählt die erwähnte Amazon-Prime-Serie.
Was auffällt bei solchen Geschichten über Kiezgrößen, die sich einst die Zigarren mit Hundertmarkscheinen anzündeten: Die meisten (oder alle?) wurden arm, und sie sterben arm. Wo sind all die Millionen hin, die junge Frauen auf St. Pauli für sie erwirtschaftet haben? Jede Ludengeschichte, die ich je gehört habe, endet traurig, tragisch, deprimierend. Die Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ dürfte diesen Aspekt ihres Lifestyles aussparen. Aber wie gesagt: Ich habe sie nicht gesehen.
Wer sich hingegen bis heute mit cleveren Aktivitäten immer über Wasser halten konnte, ist Kalle Schwensen. Aktuell betreibt er einen anscheinend gut frequentierten Sadomasoklub in der Erichstraße. Aber Kalle ist ja auch kein Lude. Vielleicht bietet das die beste Chance, auf St. Pauli nicht arm zu sterben.
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