13 Mai 2006

Fuck forever!

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ist der Leistungssport des Extremkonzerthopping nur in Hamburg möglich, einer Millionenstadt mit einem glasklaren Ballungszentrum: St. Pauli. Hier sagt ein Club dem anderen Hallo; manchmal trennt sie nur eine Straßenbreite. Am besten ausüben lässt sich das Extremkonzerthopping, wenn man mittendrin wohnt in diesem Ballungszentrum, etwa auf der Rückseite der Reeperbahn.

Als großer Schwachpunkt erweist sich höchstens der Terminkalender. Ein falscher Eintrag, und schon ist ein ganzer Tag verdorben, manchmal unrettbar. Ich habe es zum Beispiel mal geschafft, gleich zwei Konzerte an einem Abend zu verpassen. In der Markthalle in Bahnhofsnähe sollten die Cowboy Junkies spielen, eine verehrungswürdige Americanaband aus Toronto; am gleichen Abend spielten Muse in der Großen Freiheit auf dem Kiez.


Zwei Bands also, die ich sehen musste, klar. Um kurz vor halb neun stehe ich vor der Markthalle und wundere mich über Hamburgs komplettes Desinteresse. Ich bin einsam. Und das ist kein Wunder, denn in Wahrheit spielen die Cowboy Junkies, wie sich durch ein Telefonat mit Ms. Columbo herausstellt, in der Musikhalle, und die liegt ganz woanders.

Statt nun durch die Stadt zu karriolen und weitere Zeit zu verlieren, hake ich die Kanadier bedauernd ab und begebe mich direkt auf den Weg zu Muse. In der Großen Freiheit indes kommen mir bei meiner Ankunft verblüffenderweise bereits glückstrunkene Fans entgegen. Wie sich herausstellt, hatten Muse vor allem deshalb so früh und schnörkellos gespielt, weil abends noch eine Fußballübertragung mit einem englischen Team anstand. Die wollten Muse keinesfalls versäumen.

Tatsache jedenfalls war: Ich hatte es geschafft, an nur einem Abend zwei Konzerte zu verpassen. Heute gelang mir das Gegenteil. Um 20 Uhr betrete ich die Große Freiheit, um Belle & Sebastian zu sehen. Sänger Stuart Murdoch, ein schottisches Sensibelchen mit den feinsten Folkpopsongs im Köcher seit Erfindung der Byrds, trägt ein weißes langärmliges T-Shirt mit schwarzen Querstreifen, und als ich eine Dreiviertelstunde später das nur wenige Meter entfernte Grünspan betrete und die Babyshambles in Augenschein nehme, fällt mir auf: Auch Skandalnudel, Superjunkie und Kate-Moss-Popper Pete Doherty trägt genau dieses Hemd.

Das überhaupt feststellen zu können, fällt schon unter die Rubrik „Wunder gibt es immer wieder“, denn eigentlich lässt Doherty circa neun von zehn Konzerten ausfallen. Entweder wurde er gerade mal wieder wegen Drogenbesitzes verhaftet oder wegen Schlägereien; oder weil Kate ihn in die Entziehungsklinik schickte oder weil er zu doof, zu stoned oder zu wirr war, rechtzeitig ins richtige Flugzeug zu steigen.

Heute Abend aber ist all das merkwürdigerweise nicht geschehen. Doherty hat sich nicht einmal chemisch immobilisiert. Im Gegenteil: Der Abend verläuft hocherfreulich; die Band jagt durch ein weites Land, dessen Grenzen Dylan, Pogues, Sex Pistols, Bob Marley und Clash abgesteckt haben, und am Ende explodiert ihr Hit „Fuck forever!“ in den Raum und schneidet die aus einer zähen dampfenden Suppe bestehende Grünspanluft in wadendicke Scheiben.

Vor mir taumelt dazu ein blonder besoffener Teenager konvulsivisch durch einen selbstgeschaffenen Freiraum, und plötzlich rennt er los und springt einem korpulenten Teddybär von Twen in den massigen Rücken. Der wird in andere Menschen hineingeschleudert, dreht sich empört um, funkelt den Blonden aber nur unsicher und passiv aggressiv an, ehe er sich hilfesuchend seiner Freundin zuwendet. Für ihn ist die Sache damit erledigt.

Doch kaum hat er sich wieder der Bühne zugewandt, nimmt der Blonde wieder Anlauf und springt ihn erneut von hinten an wie ein Känguru im Koffeinrausch. Der Teddybär belässt es neuerlich bei einem mittelbösen Blick; dabei wäre inzwischen eine scharfe, gar körperliche Reaktion mehr als angemessen. Doch er ist jemand, der immer einstecken wird. Und der blonde Bengel wird irgendwann im Suff einmal an den Falschen geraten und danach mit einer krummen Nase durchs Leben laufen müssen.

Jetzt weiß er das noch nicht. Im Moment beherrscht Doherty seine Gedanken und Gefühle ganz und gar. Wie Doherty auf dem Wellenkamm brüllender Gitarren sein „Fuck forever!“ in die Welt schreit, als gäbe es kein Morgen: Das ist alles, was zählt. Und was kann ein Popsong mehr erreichen, als für drei Minuten der Zeit in die Speichen zu greifen, so dass Vergangenheit und Zukunft aufhören zu existieren und alles nur Gegenwart ist, eingefroren in Lärm und Schweiß und der Verheißung eines ewigen, glückseligen Stillstands?

Ja, das ist die große Fähigkeit des Pop: Für drei Minuten kann er eine Lüge so glaubhaft groß in den Raum stellen, dass sie zur unumstößlichen Wahrheit wird. Selbst ein Junkie wie Doherty kann das; selbst wenn er das gleiche Hemd trägt wie Stuart Murdoch, das schottische Sensibelchen von nebenan.


Foto: Die Deckenlampe des Grünspans, zitternd im Energiefeld des Pop.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, welche die Zeit stillstehen lassen können
1. „Gone up in flames“ von Morning Runner
2. „Sway“ von The Rolling Stones
3. „When the sun hits“ von Slowdive

11 Mai 2006

Null zu eins

Kramer und ich wollen unsere Fähigkeiten im Tischtennis wieder reaktivieren, wollen sie aus den Tiefen unserer neuronalen Netze hervorfischen. So etwas verlernt man ja nicht mehr, es ist nur verschüttet. Man muss das Körpergedächtnis wecken.

Entscheidend dafür ist eine Tischtennisplatte, und die haben wir unlängst auf einem Spielplatz in der Nähe der Redaktion entdeckt. Als wir mit Schlägern, Bällen und erwartungsfrohen neuronalen Netzen dort eintreffen, stellt die Platte sich als missbraucht heraus.

Eine Handvoll Erstklässlerinnen schubst darauf einen fußballgroßen Plastikball hin und her, und die Ansage eines der Mädchen („Eins zu null!“) minimiert unsere Hoffnung, in absehbarer Zeit die Spielfläche okkupieren zu können.

Trotzdem warten wir eine Weile, während der Punktestand enervierend langsam fortschreitet. Die Kinder sind offenbar angetan von ihrem öden Spiel. Also beschließen wir, den Spielplatz suchend zu umrunden – in der Hoffnung auf eine weitere, am besten freie Platte, finden aber nichts.

Alles ist da: Rutschbahnen, Drehscheiben, Reifenschaukeln, krakeelende Bälger aller Sprachen und Nationen, doch kein weiteres Rechteck mit aufgespanntem Netz. Wir postieren uns wieder in Plattennähe, um sofort einschreiten zu können, wenn die rücksichtslose Brut für eine Sekunde das Territorium freigeben sollte. „Eins zu null!“, schallt es schon wieder herüber, und wir sacken innerlich zusammen. Sie haben offenbar von vorne angefangen.

Mir wird kurz bewusst, wie die Situation auch missdeutet werden kann. Zwei erwachsene Männer mit deutlichen Alterungserscheinungen lungern an einem Kinderspielplatz herum und beobachten Vorschulmädchen beim elastischen Körperspiel. Ich versuche, möglichst antipädophil dreinzuschauen. Kramer auch.

„Eins zu null!“

Wir geben auf. Im Weggehen passieren wir eine ungefähr Vierjährige. „Du wirst irgendwann unsere Rente bezahlen müssen“, eröffne ich ihr freundlich und bestimmt, doch die Göre heuchelt Unverständnis.

Ein Tag der Niederlagen. Dabei haben wir keinen einzigen Ball geschlagen.

PS: Nein, das Bild hat keinen Bezug zu dieser Geschichte. Aber ich konnte die Kinder ja schlecht fotografieren. Spätestens dann hätte irgendjemand die Polizei gerufen.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Sportbezug
1. „Rummenigge all night long“ von Alain & Denise
2. „Football“ von Iggy Pop
3. „In Zaire“ von Johnny Wakelin

Warten auf TempEau

Kurzfristig hat TempEau, die älteste Boygroup der Welt, zu einem Barkassenkonzert in den Hafen geladen.

Die Schaluppe, so der Plan, schippert elbauf und -ab, während die Band den wolken- und makellosen Frühlingsabend mit Punkrock veredelt.

Ein genialer Trick: Wenn man’s doof findet, kann man trotzdem nicht abhauen.


Doch ich komme dank diverser Termine eh zu spät und vertreibe mir an Brücke 10 die Zeit bis zur Rückkehr der Ausflügler. Ergebnis des Wartens auf TempEau: dieses Foto.

PS: Eine Barkasse ist keine Schaluppe, stimmt. Aber schon so ähnlich.

Ex cathedra: Die Top 3 der Hafensongs
1. „Le port d’Amsterdam“ von Jacques Brel
2. „When the ship comes in“ von Bob Dylan
3. „Harbour city“ von Third I Vision

09 Mai 2006

Fifa World Cup? Nö: Fifi Wild Cup!

Nur noch drei Wochen bis zur WM!! Aber es sind doch noch mehr als vier, werden Schlaumeier jetzt einwenden. Falsch. Denn bereits ab 29. Mai steigt auf der Rückseite der Reeperbahn – genauer gesagt: im Millerntorstadion – die Mini-WM. Oder offiziell: der Fifi Wild Cup 2006.

Es nehmen Teams teil, die aus diversen Gründen, darunter fadenscheinigen, bisher nicht von der Fifa aufgenommen wurden. Nehmen wir Grönland. Grönland ist zwar sechsmal so groß wie Deutschland, darf aber nicht in die Fifa, weil es keinen Naturrasenplatz hat. Talente, Supertechniker, Hooligans: haben sie alles, die Grönländer, das ist Fifa-Boss Sepp Blatter aber alles wurst. Gras muss wachsen, sonst schüttelt er, dem selbst dort kaum noch was wächst, wo’s wirklich wichtig ist, bedauernd den Kopf. Auch Tibet rüttelt verzweifelt, doch vergebens am Zaun. Und warum – weil es zu hoch liegt? Blatter, selbst alpiner Herkunft, schweigt dazu betreten.

Auch gegenüber Sansibar und der Republik St. Pauli zeigt die Fifa sich arrogant und hartleibig. Bei der Mini-WM aber dürfen sie mitspielen; dafür sorgt die Kieztoleranz. Wer tagtäglich mit Olivia Jones konfrontiert wird, hat schließlich ein ausgeleiertes Verständnis von dem, was geht und was nicht.

Zurück zum Spocht: Wie ist eigentlich die Formkurve der Teams, was sagt der Biorhythmus, gibt es verletzte Stars, sind die Bälle aufgepumpt? Es ist nicht leicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Ich sage nur: Geheimtraining! Schreiten wir also zur Ferndiagnose.

Tibet scheint mir persönlich immense Vorteile zu haben. Schließlich trainieren sie das ganze Jahr über in ungefähr 60 000 Metern Höhe, ihre Atmungsorgane müssen sogar im Schlaf schuften wie Reiner Calmund allerhöchstens beim Liebesakt. Das führt natürlich – bei Tibetern, nicht bei Calmund – zu einer Lungenmuskulatur, die sogar der Hulk allenfalls am Glutaeus maximus aufweisen kann. Reisen die Tibeter also jetzt zur Rückseite der Reeperbahn, die sich nur eine Daumenbreite über Meereshöhe befindet, sind sie so leistungsfähig wie Popeye nach einer Überdosis Spinat.

Gegen die Favorisierung des Bergvolks spricht allerdings die schmähliche 1:4-Klatsche, die es sich trotz überlegener Lungen 2001 auf Grönland einfing. Offenbar führt die fischreiche Ernährung der Nordmänner zu fußballspezifischen Vorteilen. Zumindest in dieser Hinsicht dürfte Sansibar problemlos mithalten. Die klimatischen Verhältnisse am Millerntor im Spätfrühling werden dem Sansibarer bekannter vorkommen als dem dauerhaft vereisten Grönländer. Problem: Die Männer von vor der Küste Ostafrikas werden von einem ausgewiesenen Hirni trainiert, nämlich Oliver Pocher. Mal ehrlich: Dann hätten sie auch gleich Lothar Matthäus nehmen können.

Kaum Akklimatisierungsprobleme dürfte auch Gibraltar haben, das zudem, wäre es ein Club, zu den altehrwürdigsten Traditionsvereinen der Welt gezählt werden müsste. Seit 1895 trainieren die Männer vom Affenfelsen für den Fifi Wild Cup 2006; jetzt könnte ihre große Stunde schlagen. Bleibt als große Unbekannte die Republik St. Pauli, mit 2,6 Quadratkilometern der flächenmäßig kleinste Teilnehmerstaat. Man muss sich das mal vorstellen: St. Pauli passt 833.000-mal in Grönland!

Eine noch größere Unbekannte ist allerdings das ominöse sechste Team, welches aus bundesweiten Bewerbern ausgesucht wird und kurz vor Turnierbeginn noch ins Feld rutschen soll. Wie auch immer: Ich und meine Kumpels werden da sein ab 29. Mai, wenn die Mini-WM angepfiffen wird; vielleicht kann ich sogar Ms. Columbo überreden. Ja, ich will dabei sein, wenn die tibetanischen Pferdelungen alle anderen in Grund und Boden rennen und die Grönländer schwitzen wie die Iltisse. Vielleicht sehen wir uns ja auf der Gegengeraden.

Man kann sich übrigens einfach so eine Karte kaufen. Blatter wird toben!

PS: Dass auch diese Veranstaltung von interessierten Firmen gesponsert wird, ist mir egal. Dazu ist sie einfach zu charmant.

Ex cathedra: Die Top 3 der Lieder über die Kleinen
1. „Short people“ von Randy Newman
2. „Little Willy“ von The Sweet
3. „Tiny island“ von Leo Kottke

08 Mai 2006

Doktor, meine Augen!

Wenn du acht Stunden lang über fünfzig Plattenkritiken redigiert hast, fühlen sich deine Augen an wie glühende Bleikugeln; du willst sie am liebsten in eine Schüssel mit zerstampftem Eis legen.

Und wenn dir nach einem solchen Tag abends ein freundlicher Mensch die Gelegenheit gibt, aus dem 14. Stock des Reeperbahnhochhauses einen blutigen Sonnenuntergang zu fotografieren, dann … kann am Ende schon mal eine wilde Photoshoppsychedelia dabei herauskommen.

Den blauen Fleck hinterließ übrigens eins jener Neonvierecke, die zurzeit über Hamburgs Dächern schweben und Fußballtore symbolisieren. Es gibt kein Entkommen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Augenbezug
1. „Doctor my eyes“ von Jackson Browne
2. „As long as I can see the light“ von CCR
3. „Blinded by the light“ von Manfred Mann’s Earthband

07 Mai 2006

Bloggerlesung im Narrengarten

Während sich MILLIONEN unten an den Landungsbrücken beim 817. Hafengeburtstag die Kante geben, tun es rund 100 im proppevollen Fools Garden bei der Bloggerlesung. Das Gros der Promille erarbeitet man sich hier aber erst nach der Prosa, soviel Anstand muss sein. In nur fünf Minuten radle ich von der Rückseite der Reeperbahn dorthin: ein Entgegenkommen bei der Auswahl des Veranstaltungsortes, das ich spaßeshalber kurzzeitig auf mich münze.

Versammelt ist die Crème de la Crème der Szene. Es lesen Burnster (über einen großen Affen aus der Sicht einer kleinen Frau), MC Winkel (über Schwanzvergleiche auf dem Herrenklo), Kid37 (über das Schwimmengehen mit phallischen Baguettes), Don Dahlmann (über Lachanfälle beim Tantrakurs), die Schwadroneuse (über die komplexe Verbindung zwischen Hundehaufen und Flirtchancen), Lu (über … hm, weiß nicht mehr, waren aber mehrere klasse Kurztexte), Lyssa (über das Schicksal, beim Ballett wegen eines „soliden“ Körperbaus immer als Herrenersatz herhalten zu müssen), Herr Paulsen (über das versehentliche Verlieren der späteren Verlobten während einer Überfahrt nach Sylt), Merlix (über etwas … ganz großartig Witziges, das mir aber gerade beim Niederschreibenwollen gedanklich entflutscht) und weitere, die mir just nicht mehr einfallen.

Im Publikum sichtet man weitere Blogger, darunter ix und mspro, und das Ganze wird zu einem höchst kurzweiligen Dreistundenabend, der eins klar beweist: Blogs sind eine wunderbare Kreativmaschine, in denen es so witzig wie tabulos zugeht, so tragikomisch wie rabenschwarz – und die einzige Dame, die garantiert kein Visum kriegt fürs wilde, weite, schillernde Blogsurdistan, ist Frau Langeweile.

Das alles hat – zum Glück – noch immer viel von fröhlich legerem Untergrund, was man auch an kleinen Vorfällen am Rande merkt. Auf meinen Fünfzigeuroschein kann man an der Kasse nicht herausgeben (die lachhaften drei Euro Eintritt definieren übrigens – wie sich später herausstellen wird – ein Kosten/Nutzen-Verhältnis, für das jeder Großfirmensanierer töten würde); trotzdem kriege ich nach meiner treuherzig-pathetisch vorgebrachten Versicherung „Ich zahle später, ihr könnte mir vertrauen!“ den Einlassstempel auf den Daumenballen gedrückt.


Als ehrliche Haut marschiere ich sofort zum Tresen, um zum einen den Bierpegel auf bloglesungskompatibles Niveau zu hieven und zugleich meinen Fünfziger in handliche Teilmengen zu zerlegen, damit ich rasch meine Schulden am Einlass begleichen kann. Eine Minute später habe ich zusätzlich Schulden an der Bar, weil man auch dort vor der Gewaltigkeit des Fuffis kapitulieren muss – gleichwohl aber bereit ist, mir ein Flens auf Pump auszuhändigen.

Ich und mein unkaputtbarer Fünfziger müssen uns also im Lauf des Abends nicht nur auf die Lesung konzentrieren, sondern auch darauf, die anwachsende Zahl der Gläubiger zeitnah zu bedienen. Beides klappt.


Auf dem Rückweg muss ich feststellen, dass die Brandung der MILLIONEN Besucher des Hafengeburtstags inzwischen hochgeschwappt ist bis in Reeperbahnrückseitennähe. Autos stauen sich, sie hupen wütend, ihre Fenster sind offen, und aus einem, das vollbesetzt ist mit türkischen Teenagertestosteronbomben, kreischt mir beim Vorüberfahren ein Gesicht scatartige Lautfolgen vors Rad, als wollte es meine Reifen zum Platzen bringen. Seine Augen sind weitaufgerissen unterm Druck der pulsierenden Energie verbotener Substanzen, und sie leuchten, als unterzöge sich der junge Mann gerade einer Elektroschocktherapie.

Der ganze Kiez: ein einziger Fools Garden.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Lesebezug
1. „A day in a life“ von The Beatles
2. „Summertime in England“ von Van Morrison
3. „Book artists and poets“ von Steve Miller


06 Mai 2006

10 Wörter, die ich schon immer mal lesen wollte (1)

Bassholzschlitztrommel
Besamungskatheter
Dickdarmpolypen
Eierschalensollbruchstellenerzeuger
Fleckviehversteigerungshalle
Herrenhalbarmhemd
Nasshaftkraft
Pistazienschalenschnee
Schluppenblusen
Schultereckgelenkssprengung

05 Mai 2006

Die Merkwürdigen

Hamburg ist ein Hort der Seltsamkeiten. Menschen kaufen Baguettes und legen sie dann auf einer Randsteinecke ab. Andere kriegen die Krise in aller Öffentlichkeit oder schleppen sie zumindest mit dort hin.

Wie dieses merkwürdige Pärchen. Als ich es zuletzt sah (von unserem Balkon aus), dachte ich noch, es befände sich in einer Ausnahmesituation. Er, mit Schnauzbart und Militaryjacke, schrie sie zusammen wie von Sinnen. Seine Arme schlenkerten dabei gefährlich sensenartig durch die Luft, und sie stand da, die schwarzen Haare schludrig hochgesteckt, und hielt sich an der Hundeleine fest, an deren anderem Ende eine handtaschengroße Promenadenmischung geduldig auf die Fortsetzung des Gassigehens wartete.

Ab und zu versuchte sie etwas zu sagen, woraufhin er einfach den Wut- und Lautstärkepegel verdoppelte. Er umkreiste sie dabei wie ein hungriger Panther und schrie und schrie. Keine Ahnung, um was es ging, ich verstand praktisch nichts.

Mir kam die Beziehung der beiden jedenfalls recht asymmetrisch vor. Auch die Qualität ihrer Konfliktbewältigungsstrategien schien mir steigerungsbedürftig. Doch ich hielt das, wie gesagt, für eine Ausnahmesituation.

Bis gestern morgen. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich die beiden wieder. Gleiche Konstellation, sogar gleiches Outfit. Und die gleiche Schreierei, das gleiche Gefuchtel, und wieder starrte sie dumpf und hundgebunden auf den Gehweg, hub hie und da an zu einer Erklärung, einem Widerwort, was sein Brüllen aber nur steigerte bis an den Rand der Hyperventilation.

Ihre … Kommunikation scheint generell dergestalt abzulaufen. Offenbar brauchen sie einander genau so. Wie anders wäre die eingespielte Choreografie und die Dauerhaftigkeit dieses öffentlichen Krisenszenarios zu erklären? Auch er müsste doch eigentlich glücklicher sein mit einer Frau, die seine Drüsen eher zur Endorphin- als zur Adrenalinproduktion anregt. Denkt man zumindest als Außenstehender, aber was weiß ich schon.

Ich rubriziere die beiden schulterzuckend unter sanktpaulianische Exzentriker, und wie es der Zufall will, läuft mir gestern ein weiterer, auf ganz andere Weise merkwürdiger Mensch über den Weg, diesmal in Ottensen.

Er tritt aus einem Ladengeschäft auf die Straße, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ungefähr Mitte 50, schlank, mit grauen, vollen Haaren und unauffälliger Brille. Er trägt ein legeres Freizeithemd, hat es allerdings in die Jeans gesteckt. Alles ganz normal. Gut, eine Nuance von Verwegenheit haftet ihm an, etwas leicht Udo-Kier-haftes. Doch dann fällt mein Blick auf seine Schuhe. Und ich weiß, dass ich erneut jemanden als urbanen Exzentriker rubrizieren muss.

Der graue, bebrillte Mittfünfziger, der hier gemütlich auf der Ottenser Hauptstraße eine Zigarette schmaucht, trägt … zehn Zentimeter hohe Highheels. Mit vergoldeten Absätzen.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit hohem Exzentrikgehalt
1. „This town ain’t big enough for both of us“ von Sparks
2. „Lola“ von The Kinks
3. „I fell in love with a dead boy“ von Antony & The Johnsons

04 Mai 2006

Die Fundstücke des Tages (17)

1. Mensch, ist das rührend. In einer ebenso dramatischen wie poetischen Mail an seine Fans jammert der sonst so martialische Bassist der Red Hot Chili Peppers, Flea (Foto), über den Unhold, der das neue Album „Stadium Arcadium“ bereits vor Veröffentlichung ins Netz gestellt hat. Und Flea informiert die Anhänger zudem in herzerweichenden Worten über die Folgen, die es für die Band hätte, lüden sie sich das Werk illegal down – man sollte einen Song draus machen:

„ … that will break my heart
it will break john frusciante's heart
it will break anthony kiedis's heart
and it will break the heart of chad smith …“

Vor allem der überraschende Schemawechsel in der letzten Zeile hat Klasse. Und mal ehrlich: Wer beim Lesen dieser Verse kein Taschentuch zückt, der hat sich noch nie in das verletzliche Innerste eines Multimillionärs hineinversetzt. Schämt euch.
2. Wer für die Zeitschrift Freundin bloggt, sollte laut Chefredakteurin Ulrike Zeitlinger angeblich bereit sein, „für erst mal no pay zu committen“. Frau Zeitlinger indes sollte erst mal für viel pay einen Rhetorikkurs joinen und erst danach wieder in public speaken. Got it?
3. Neue Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:
„ich blas dir einen“ (Rodenbach, Hessen)

„wichsen mit koks“ (Westhofen, Nordrhein-Westfalen)

„Nackte Frauen - Harley Davidson clubs“ (Wien, Österreich)

„meine ex saugt“ (Merrylands, New South Wales, Australien)

02 Mai 2006

Cold turkey

Unruhe macht sich breit. Ich bin fahrig und nervös. Meine Gedanken kreisen nur um das Eine. Aber ich habe es nicht. Ich brauche Hilfe, um es zu bekommen. Und der Dealer Mann, der es mir beschaffen kann, lässt sich gut bezahlen. Sehr gut. Doch was will ich machen? Es muss sein, ich muss das Geld locker machen. Sonst werde ich verrückt. Sonst tue ich Dinge, die ich bereuen werde.

Ms. Columbo zeigt ähnliche Symptome, wenn auch nicht so stark. Tatsache ist: Wir sind beide süchtig. Wir brauchen den Stoff, dringend. Sofort.

Und heute, heute war es endlich so weit, nach schrecklichen, furchtbaren, fiebrigen Tagen. Er kam. Der Mann, der unser Problem lösen konnte. Der Mann, der ihn wieder herstellte: unseren Internetzugang …

Manchmal frage ich mich, wie sie überhaupt funktioniert haben, jene Jahrzehnte ohne Web. Wie war es, keine Mails zu bekommen? Wie klappte das Leben ohne Google? War eine Existenz ohne Spiegel online nicht leer und fad? Wie fühlt man sich ohne den dpa-Ticker? Ohne Blogs?

Ja, es war ganz furchtbar, aus heutiger Sicht, aber es ging ja offenbar doch. Damals vermisste man nichts. Das onlinelose Leben war … auch schön, auf seine Art. Doch das wird auch der Junkie sagen, der die Zeit vor dem ersten Schuss Revue passieren lässt. Der erste Schuss verändert eben alles. Wie die erste Mail.

Es war ja nicht mal so, dass uns der Onlinezugang Ende April ganz und gar abhanden gekommen wäre. Nein: Nur das WLAN funktionierte nicht mehr, und wir mussten auf die archaische Kabelverbindung zurückgreifen. Es liefen wieder lachhafte Leitungen durch die Wohnung. Wir waren gefesselt an einen festen Ort. AirPort war tot, und das Ethernet als Methadon reichte einfach nicht aus, um die Entzugssymptome zu lindern.

Wenn ich im Urlaub bin, sondiere ich sofort die Onlinelage. Gibt es in diesem gottverlassenen Stranddorf ein Internetcafé? Und was – verdammt noch mal – mache ich, wenn nicht? Abreisen? Nur noch Großstadt buchen? Ich meine: Infrastruktur ist toll! Das findet auch Ms. Columbo.

Im Oktober fahren wir übrigens nun doch nicht nach Sardinien. Sondern nach Rom. Wegen der antiken Schätze. Klar.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Sucht
1. „Heroin“ von Velvet Underground
2. „Kokain“ von Hannes Wader
3. „I can't stop lovin you“ von Ray Charles

Oh my Google!

In der mittlerweile 16-teiligen Serie „Fundstücke des Tages“ habe ich dokumentiert, mit welch schrulligen Suchabfragen Websurfer bisweilen hierher finden. Und schon mehrfach fiel auf, welche Fehleinschätzung mancher Frage zugrunde liegt. Viele halten Google offenbar für eine Art virtuellen Experten, der nach Formulierung der Frage zu sinnieren beginnt und schließlich im Stile von Dr. Sommer sein sorgsam abgewogenes Fachwissen teilt.

Was dieser Blogger allerdings erlebt hat, toppt alles. Folgende Google-Abfrage nämlich führte zu seinem Blog:

also, das buch spielt zur zeit der großen hungersnot, und es geht um eine mutter (was mit dem vater ist, weiß ich nicht mehr genau, kann sein, dass der tot war), die ihre fünf, wenn ich mich recht erinnere, kinder retten möchte, und sie deshalb merh oder weniger dazu zwingt, nach amerika auszuwandern. eins von den kindern (ich bin mir ziemlich sicher, dass die peggy hieß), weigert sich und kehrt zu ihrer mutter zurück, ihre geschwister fahren nach new york. dort trennen sie sic dann, um arbeit usw. zu finden, versprechen sich aber, sich nicht zu vergessen und irgendwann wiederzusehen. und dann wird beschrieben, wie die sich alle so in ihrem leben zurecht finden.

Google revanchiert sich für die recht passable Inhaltsangabe (welchen Buches eigentlich?) mit fast 20.000 Treffern. Und jetzt gehe ich schlafen. Hoffentlich hält mich dieses seltsam zwanghafte Kopfschütteln nicht allzu lange wach.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs übers Suchen
1. „Searching“ von Michael Brook & Pieter Nooten
2. „I just haven’t found what I’m looking for“ von U2
3. „I will find you“ von Peter Hammill

01 Mai 2006

Das große Zuppeln

Foto: „Deutsches Strumpf Museum“ (sic!)

Einem drängenden und überaus akuten Problem hat sich die Weltöffentlichkeit bisher noch nicht mit der angebrachten Empörung gewidmet. Und zwar dem Sockenproblem. Es betrifft nur Menschen mit Schuhgröße 43, also überwiegend Männer. Auf jeden Fall mich.

Das Problem: Ich kann praktisch keine passenden Socken oder Strümpfe beschaffen. Entweder sie decken das Spektrum 39 bis 42 ab oder das von 43 bis 46. Für jemand mit der Schuhgröße 43 – also mich – ist das sehr unschön. Jene Socken nämlich, die als oberes Limit die 42 ausweisen, sind mir zu klein. Sie umklammern mir unschön fest Zehen, Spann und Knöchel und rutschen mir ständig so tief in den Schuh, dass meine Ferse entblößt am Ledersaum scheuert.

Ich bin also unablässig am Zuppeln und Fluchen und werfe die fußkondomartige Baumwollplage schließlich entnervt in den Mülleimer. Man wird sich jetzt fragen, warum ich meine geschundenen Füße nicht schon längst in die Obhut der größeren Sockenvariante gegeben habe. Nun, ich habe es versucht. Doch dummerweise erleichtern auch sie mir das Leben ganz und gar nicht.

Socken, welche ihre Existenz dem gewagten und letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch widmen, sämtliche Größen zwischen 43 bis 46 abzudecken, neigen nämlich stark dazu, mir zu groß zu sein. Auch das ist im Alltag alles andere als vergnüglich. Sie schlagen schmerzhafte Falten unter der Fußsohle, ich bin unablässig am Zuppeln und Fluchen und werfe diese Fußfoltern schließlich nur deshalb NICHT entnervt in den Mülleimer, weil auch ich ja schließlich irgendwas an den Füßen tragen muss.

Da ich mit meiner Größe 43 (wie auf den meisten anderen Gebieten auch) ein absoluter Durchschnittsbursche bin, nehme ich an, dass sich in Deutschland Tag für Tag unzählige solcher stillen Dramen abspielen, in denen zuppelnde, humpelnde und fluchende Männer eine unwürdige Rolle spielen.

Hiermit appelliere ich daher dramatisch an die Beinkleidindustrie: Schafft 43er Socken! Sonst wird euch, Bellinda, Ergee, Falke und wie ihr alle heißt, irgendwann ein Aufstand zuppelnder Männer hinwegfegen. We shall overcome!

Und ratet mal, wer den Mob anführen wird.

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs, in denen es um Füße und Schuhe geht
1. „Blue suede shoes“ von Elvis Presley
2. „Nur ein Strumpf von dir“ von Klaus Eberhartinger & Die Gruftgranaten
3. „A fool for your stockings“ von ZZ Top

28 April 2006

Ex Cathedra: Die Neuen Zehn Gebote

1. Verschwende keine Lebenszeit. Egal, wer dir was anderes erzählt, ob Benedikt oder Bin Laden: Du hast nur dieses Leben. Verschwende keine Minute davon.

2. Verschwende vor allem keine Lebenszeit an schlechte Musik. Gute Musik kann man erkennen: Stell dir vor, der Geist von John Peel tippte dir auf die Schulter, während du den iPod laufen hast, und liehe sich deine Ohrhörer. Würde er beifällig nicken? Dann hörst du gute Musik, verdammt noch mal.

3. Bleib nicht stehen, wenn du eine Rolltreppe betrittst. Niemand zwingt dich dazu. Und es schadet deiner Gesundheit. Am besten meidest du Rolltreppen.

4. Wenn du eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank nimmst, stell auch wieder eine hinein. Frag nicht, tu’s einfach.

5. Lache herzhaft, wenn du Esoterikern begegnest. Wer sich ernsthaft mit Astrologie, Homöpathie oder Friseurterminen nach Mondphasen beschäftigt, muss unbedingt ausgelacht werden. Wenn du milde gestimmt bist, kannst du diese Leute auch bedauern. Denn sie verschwenden Lebenszeit – an viel bescheuertere Dinge als nur an schlechte Musik.

6. Sichere deine Daten! Sichere deine Daten! Am besten dreifach und an verschiedenen Orten. Wir waren so blöd, immer kurzlebigere Speichermedien zu erfinden. Eine Steintafel hält Jahrtausende, die selbstgebrannte CD nur noch fünf Jahre. Damit unsere Lebensdaten erhalten bleiben, müssen wir sie sichern, doppelt und dreifach. Miete für deine wichtigste Backup-DVD ein Bankschließfach. Du wirst mir irgendwann sabbernd vor Dankbarkeit nachträglich viel Geld für diesen Tipp bezahlen wollen. Abonniere dafür lieber zehn Obdachlosenzeitschriften.

7. Liebe! Wen auch immer. Es tut gut. Und es verlängert dein Leben, so dass du mehr Zeit zum Nichtverschwenden hast.

8. Versuche das Dickicht deiner Vorurteile zu erkennen. Sie umstellen dich unsichtbar. Die einzige Machete, die ihnen beikommen kann, ist die Neugierde. Sei neugierig!

9. Folge keinen Führern. Vor allem nicht solchen, die dich davon abhalten wollen, weiße Socken zu tragen.

10. Versuche auf keinen Fall, cool zu sein. Es sei denn, du planst eine Karriere als Witzfigur. Dann versuche auf jeden Fall, cool zu sein.


(PS: Hm, eigentlich ein schönes neues Stöckchenspiel, nicht wahr? Wie wär's, German Psycho …?)

27 April 2006

Die Fundstücke des Tages (16)

1. Im uebel & gefährlich stehen nicht nur fein illuminierte Gläser hinter einem stillgelegten Tresen, sondern heute auch der 18-jährige Sänger Paolo Nutini auf der Bühne. Er spielt ein kleines Konzert für Journalisten. In Großbritannien ist der Schotte schon eine gewisse Nummer, vielleicht wird er sogar der neue James Blunt. Mit Sicherheit fangen die Inselteenies an zu kreischen, wenn Nutini sich ständig in den Schritt greift; wir indes nehmen es eher amüsiert zur Kenntnis. Hoffen wir mal, dass der Bursche gefunden hat, was er suchte.

2. Gewöhnlich halte ich es ja mit Harry Rowohlt und seinem sinngemäß zitierten Spruch: „Dereinst wirst du dich für jeden Kalauer, den du dir verkniffen hast, vor deinem Schöpfer verantworten müssen.“ Deshalb schäme ich mich auch dieses Exemplares nicht: Was sind Paparazzi aus Sicht des Ernst-August von Hannover? Durchlauchterhitzer … Aber was zu weit geht, geht zu weit. Am Seiteneingang der Zeisehallen in Ottensen hängt ein Plakat, das ein kleines Folkfestival ankündigt. Und eine der mitspielenden Bands trägt den ganz, ganz übel hingedrechselten Namen „Fiddelaltermolk“. Das.geht.einfach.nicht.


3. Neue Google-Suchabfragen, die zu meinem Blog führten:

„pizarro oben ohne“ (Weißes Moor, Niedersachsen)

„dein traum von multi-kulti platz wie eine seifenblase, denn er ist nichts weiter als nur eine leere phrase“ (Sulzbach, Saarland)


Ex cathedra: Die Top 3 der schönsten Folksongs
1. „Dirty old town“ von The Pogues
2. „Caroline's tune“ von John Renbourn
3. „The lass of Aughrim“ von Beth Patterson

Der Franke ist überall

Neulich bei der Aldi-Flanage faselte der Franke plötzlich etwas von einem „Karaoke-Sender“, und ich dachte sofort an eine Radiostation mit Instrumentalversionen gängiger Hits. Eine Horrorvorstellung, offen gesagt. Ich konnte mir auch nicht recht vorstellen, was der eigentlich für seinen zwar hoffnungslos verengten, doch akzeptablen Musikgeschmack (Giant Sand Calexico, Prince, und das war's) bekannte Franke an einem solchen Nullniveausender wohl finden könnte.

Wie immer aber war es optisch ganz anders, als es sich akustisch dargestellt hatte. Denn als ich mich umdrehte, stand der Mann vor einem großräumig verpackten HiFi-Gerät, welches in Großbuchstaben seine Funktionalität auf folgenden Punkt brachte: „Karaoke-Center“.

Warum falle ich immer wieder rein auf seine milieubedingten Zungenunfälle? Eigentlich müsste ich doch allmählich über ein eingebautes Übersetzungsprogramm verfügen, welches die verhunzten Silben, die tagtäglich aus des Franken Mund taumeln wie ein Schwarm betrunkener Dörrobstmotten, in verständliches Deutsch übersetzen. Das ist aber nicht der Fall.

Auch in meiner Abwesenheit hören die Unfälle nicht auf (warum auch?), wie mir der lebende Konsonantenverweichlicher unlängst berichtete. Diesmal stieß er allerdings an seine sprachlichen Grenzen, obwohl er sich sogar tapfer darum bemüht hatte, Weltläufigkeit zu simulieren. Wie so oft war die bedauernswerte Verkäuferin einer Konditorei im Mittelpunkt des Geschehens.

Die erstaunte Frau wurde konfrontiert mit folgender Frankenfrage: „Haben Sie Nuhgattgrosohngs?“ So weit, so viertelverständlich. Doch nicht das eigenwillig verfränkischte Französisch stieß bei der hanseatischen Verkäuferin auf Nichtbegreifen: Sie kannte das Produkt einfach nicht.


Schließlich klärte sich – mithilfe deskriptiver Annäherung und Gebärdensprache – die Sache auf. Hier in Hamburg nämlich heißt das Süßgebäck nicht Nougatcroissant, sondern angeblich Nusskipferl. Klingt zwar eher bayerisch, aber so erzählt’s der Franke. Und so verengt auch sein Musikgeschmack ist, so unverfälscht vermag er doch die kleinen Dramen seines Alltags wiederzugeben; deshalb will ich ihm mal glauben.

Selbst als wir vergangenes Wochenende in Berlin waren, gemahnte manches an das urige Redaktionsoriginal. Beispielsweise durchschritten wir schmunzelnd und seiner eingedenk eine gewisse Frankenstraße. Und wie hieß die Kneipe ebenda? Frankeneck. Wir fühlten uns gleich wie zu Hause, obwohl dies in Berlin, während man an einen nach Hamburg exportierten Würzburger denken muss, recht schräg anmutet.

Die Kneipe hatte übrigens noch nicht auf, sonst hätten wir uns dort Kaltgetränke einverleibt und gegenseitig „Dang-ge!“ zugerufen. Nächstes Mal.

Die bisherigen Teile der Frankensaga
19. Der Kulturstoffel 18. Fußball auf Fränkisch! 17. Auhuuu! 16. Die Bettelblickattacke 15. Der Franke bleibt störrisch 14. Der unvollendete Panini-Coup 13. Duck dich, Sylt! 12. Auf Partypatrouille 11. Laggs auf vier Uhr 10. Der Franke ist überall 9. Die Greeb-Pfanne 8. Erste gegen dritte Liga 7. Die verspätete Riesenkartoffel 6. Der historische Tag 5. Der Alditag 4. Der Faschingskrapfen 3. Der Klozechpreller 2. Der Dude 1. Das Alte Land

25 April 2006

Im Zelt mit den Red Hot Chili Peppers

Sonst spielen die Red Hot Chili Peppers vor 60 000 Leuten, heute nur vor 600. Ins Zirkuszelt an der Glacischaussee werden 200 Fans und 400 Gäste eingelassen, und der Promigehalt ist so hoch wie der Fettanteil in Gorgonzola.

Bassmann Flea (Foto) kann dem frischen Boxweltmeister Wladimir Klitschko praktischerweise persönlich gratulieren, Reinhold Beckmann hält glückselig und graumeliert Hof am Springbrunnen, als wüsste er genau, dass jeder, der sich an ihm vorbeidrängt, ihn um seine WM-Finalkarten beneidet. So ist es ja auch, verdammt …

Neben mir steht Sergej Barbarez und knipst mit seinem supertollen Fotohandy die Chilis, obwohl er von der Plattenfirma bestimmt sogar einen Mitschnitt auf DVD bekäme, bäte er nur darum. Einen Augenblick lang überlege ich, auf Barbarez mit den Worten zuzugehen: „Entschuldigen Sie, wissen Sie eigentlich, dass sie Sergej Barbarez verblüffend ähnlich sehen? Sie könnten Geld damit machen!“

Doch Peppers-Gitarrist John Frusciante lenkt mich ab, weil er sich obenrum gerade frei macht. Der Mann sieht aus wie ein Jesusfreak von 1970, und er ist die einzige Hühnerbrust unter lauter Testosteronbomben. Flea, Anthony Kiedis und Drummer Chad Smith müssen mindestens so viel Zeit mit Bankdrücken wie mit Komponieren verbringen, sonst kämen sie kaum auf diese gewaltig pulsierenden Muskelstränge unter den geschmacklosen Tätowierungen.

Im Garten, wo ich am zweiten Chardonnay des Abends nippe, tauscht Mousse T. gerade Handynummern mit einer jungen Frau, die garantiert nicht seine Gattin ist. Dietmar Beiersdorfer, das wird auf den ersten Blick klar, müsste mal zum Friseur. Aber Kiedis und Frusciante auch, ehrlich gesagt. Letzterer covert kurz vor Schluss den Bee-Gees-Heuler „How deep is your love“ – offenbar ein Konter gegen Fleas Soloversion von Neil Youngs „The needle and the damage done“, die Ex-Junkie Frusciante wohl persönlich genommen hat.

Der Bretterboden schwingt im Takt der Drums, man fühlt sich leicht, man schwebt, und plötzlich ist Kalifornien überall. Inzwischen bin ich so weit chardonnayisiert, dass ich meinen Barbarez-Ulk doch noch an den Mann bringen will, doch ich stoße nur immer wieder auf Beckmann. Er hat Finalkarten, verdammt …

Ex cathedra: Die Top 3 der Songs von Neil Young
1. „Hurricane“
2. „On the beach“
3. „Out on the weekend“

24 April 2006

Der Suffkopp und Olaf

Alberto Giacomettis schwarzer zwölfseitiger unregelmäßiger Kubus, den er einem Gemälde von Albrecht Dürer entnahm und verkörperlichte, hat eine dunkle Aura, die dich zum Zittern bringt. Wenn man davorsteht, fühlt man sich wie ein Australopithecus vorm geheimnisvollen Monolithen in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“.

Der Kubus ist Bestandteil der grandiosen Ausstellung „Melancholie – Genie und Wahnsinn“, die wir am Wochenende in der Berliner Neuen Nationalgalerie besuchten. Auf dem Rückweg pulverisierte allerdings das Profane rasch jedes erhabene Gefühl. Vor einem Krankenhaus zog ein volltrunkener Berliner seine immer engeren Kreise, bis er schließlich rücklings aufs Pflaster fiel. Sein vegetatives Nervensystem war offenbar gelähmt von einer alkoholischen Springflut, die ihm durch alle Adern jagte. Er flüsterte, alle Extremitäten von sich gestreckt: „… Hilfe …“

Wir gingen weiter; immerhin war er gerade aus dem Krankenhaus getaumelt, dort hatte man sicherlich die Lage unter Kontrolle. Hatte man nicht: Als wir uns umblickten, stand der arme Wicht plötzlich schwankend auf der vierspurigen Straße und verschwand dann stürzend zwischen geparkten Wagen. Okay, die Lage war ernst. Am nächsten Tag in der BZ lesen zu müssen, in Schöneberg sei ein Mann mit der Rekordmarke von 5,8 Promille vor einen Laster getaumelt und plattgemacht worden, schien mir wenig verlockend, selbst wenn mein Seelenheil mir nicht das Wichtigste ist auf der Welt.

Als ich zurückkam zum Krankenhausempfang, um mal wieder einen Anruf bei der Polizei zu erbitten, war der Pförtner bereits in dieser Sache tätig, allerdings ohne rechte Überzeugung. „Ach“, winkte er ab, „die fahren ihn sowieso nur bis zur nächsten Ecke und werfen ihn wieder raus.“ Meine Glaube an solch nützliche Einrichtungen wie Ausnüchterungszellen erschien mir plötzlich romantisch und naiv. Aber vielleicht hatte der Pförtner ja auch Unrecht. Wenig später jedenfalls kam uns ein Streifenwagen entgegen.

Die Berliner Merkwürdigkeiten rissen indes nicht ab. Wir kamen zum Beispiel an einer Kneipe vorbei, die den bizarren Namen „Tüsselbrand’s Malustra“ trug. Und abends, auf dem Bahnsteig im Bahnhof Zoo, schlurfte der Ex-SPD-Generalsekretär Olaf Scholz erhobenen Kinns an uns vorbei Richtung 1. Klasse. Das kam mir komisch vor. Sollte Scholz – immerhin Altonas (und somit auch unser) Abgeordneter im Bundestag – nicht sonntagsabends von Hamburg nach Berlin unterwegs sein statt umgekehrt? Oder habe ich jetzt – ups – etwas enttarnt, was Scholz tunlichst vor Münte zu verbergen erpicht war?

Andererseits trug er zwar das Kinn hoch, aber nicht mal eine Sonnenbrille.

Ex cathedra: Die Top 3 der Suffsongs
1. „Down drinking at the bar“ von Loudon Wainwright III
2. „One Bourbon, one scotch, one beer“ von John Lee Hooker
3. „Streams of whiskey“ von The Pogues

23 April 2006

Die Evolution und Berlin

Berlin ist schon merkwürdig. Im Bus am Bahnhof Zoo lösen wir Tickets und werden von einem gelben Kasten zum Entwerten derselben aufgefordert. Allerdings ist der Schlitz schmaler als die Tickets breit sind. Sie passen einfach nicht rein.

Wir erwägen Experimente wie Falten der Fahrkarten oder gewaltsames Verbreitern des Entwertungsschlitzes, beschließen aber am Ende doch, die Sache stillschweigend hinzunehmen und eventuelle Kontrolleure in kampfeslustige Diskussionen über die Detailschwächen des Berliner Nahverkehrssystems zu verwickeln.

Die Fahrt allerdings verläuft ohne Zwischenfälle, und an der Zielhaltestelle erweist sich sogar die archaisch anmutende Wegbeschreibung von Dr. K. („ ... über große Straße Richtung Osten ...“) als nicht komplett undechiffrierbar. Denn unter Reaktivierung bestimmter Steinzeitgene identifiziere ich trotz dichter Wolkendecke die korrekte Himmelsrichtung.

Ich bin stolz wie Oskar, Ms. Columbo hält mich für einen Helden. Und mir wird plötzlich klar, wie unsere Spezies es schaffen konnte, zur dominierenden auf diesem Planeten zu werden.

Mehr über die Evolution und Berlin nach unserer Rückkehr.

21 April 2006

Das Päckchen

Nehmen wir mal an, du hast eine neue tödliche Waffe erfunden, vielleicht groß wie eine Tafel Schokolade, und du willst sie einem interessierten Forscherkollegen postalisch zukommen lassen. Dann musst du natürlich Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.

Zum Beispiel musst du sichergehen, dass nur er, der Kollege, die tödliche Waffe erhält. Schließlich könnte eine Katastrophe geschehen, wenn sie in falsche Hände geriete.

Ganz wichtig also: Auf dem Päckchen sollte, für den Zusteller deutlich sichtbar, jedwede Nachbarschaftszustellung ausgeschlossen sein.


Heute bekam ich so ein Päckchen.

Und was könnte nicht alles geschehen, wenn der Adressat nach Erhalt die tödliche Waffe verliehe oder verschenkte? Nicht auszudenken!

Also musst du den Adressaten eindringlich und unter Androhung hoher Strafen dazu verpflichten, die tödliche Waffe niemals (in Worten: NIEMALS) ohne deine Supervision aus der Hand zu geben.

Auf einem Zettel, der dem Päckchen, das ich heute erhielt, beilag, war genau das unzweideutig festgelegt.

Und dabei will ich doch einfach nur jungen Männern in kurzen Hosen dabei zuschauen, wie sie gegen einen Ball treten. Männo.


Ex cathedra: Die Top 3 der Songs mit Postbezug
1. „The letter“ von The Box Tops
2. „Please Mr. Postman“ von The Beatles
3. „Dead flowers“ von The Rolling Stones

20 April 2006

Das muss jetzt mal raus

Die Grundausstattung von Großstädten verdient ohne Zweifel Lob. Ob Kneipen, Kinos, Clubs oder käuflicher Sex: alles da, und zwar nah und unmittelbar. Was an Städten jedoch meist stört und aus meiner Sicht sehr verzichtbar ist, sind – Menschen. (Ja, ich bin mir der Paradoxie dieser Aussage bewusst.)

Fakt ist: Großstadtmenschen nerven. Sie sind im Weg. Sie errichten Hindernisse. Immer. Heute etwa radle ich verbotenerweise über den engen Gehweg am Mercadoparkhaus, als sich plötzlich die Tür eines parkenden Autos öffnet und die ganze Breite des Weges barriereartig blockiert. Schuld: ein Mensch.

Oder abends, in der Fußgängerzone der Neuen Großen Bergstraße (Foto): Eine ältere Dame mit Dackel als Appendix gibt der kackbraunen Fußhupe so viel Gummiband, wie sie nur haben möchte. Und sie möchte viel, oh ja. Die Fußgängerzone ist dort zwar sehr, sehr breit, das Gummiband aber auch sehr, sehr lang.

Eine Dame mit Dackel reicht aus, um der Neuen Großen Bergstraße eine Vollsperrung zu verpassen. Wüsste das der Hamburger Verkehrssenator, er könnte depressiven Hundebesitzern pipileicht wieder Lebenssinn vermitteln, indem er sie an Bau- oder Unfallstellen als hochflexible Absperrgitter einsetzte. Doch das passiert ja nicht. Stattdessen beanspruchen diese Menschen in freier Wildbahn ungeheure Freiflächen, die für Fußgänger und Radfahrer augenblicklich nicht mehr nutzbar, ja sogar gefährlich sind.

Doch heute ging es noch mal gut, Dackel und Dame waren letztlich dank meiner schier übermenschlichen Radelroutine knapp zu umfahren. Meine Grundthese aber sah ich erneut belegt: Großstadtmenschen nerven. Vor allem und besonders auch auf Radwegen, wo sie, wenn ich vorbeikomme, meist träumerisch herumstehen – bereit, im entscheidenden Moment einen unmotiviert anarchischen Schritt zur Seite zu tun, damit ich sie säuberlichst über den Haufen fahren kann.

Warum schauen sie sich nicht um, bevor sie dumme Dinge tun? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eins: Großstadtmenschen nerven. Ihre Sinne scheinen unterm Dauerfeuer urbaner Reize und Ausscheidungen komplett abzustumpfen. Sie sehen nichts, sie hören nichts. Sie leben – obgleich umwogt von Hundertausenden anderer – in einer hermetischen Egoblase.

Auch der Radler, der heute in Ottensen auf die tolle Idee kam, den Gehweg zu verlassen und dumpffröhlich quer über die Bahrenfelder Straße zu rollen, obwohl ich dort gerade mit beträchtlicher Geschwindigkteit von meinem Vorfahrtsrecht Gebrauch zu machen gedachte. Wir stiegen beide in die Eisen wie ein Schmuckstraßenfreier, der versehentlich eine Transe gebucht hat. Gerade so vermieden wir den Crash, doch eins wurde mir mal wieder klar: In einer Großstadt ohne Menschen wäre diese Situation erst gar nicht entstanden.

Vielleicht würde ich es sogar akzeptieren, mich täglich ins Gewimmel dieser Gefahrguttransporter auf zwei Beinen stürzen zu müssen, wenn sie mir garantierten, von den ihnen zur Verfügung stehenden Sinnen auch Gebrauch zu machen. Davon kann aber nicht die geringste Rede sein.

Neulich sah ich einen Menschen halb im Laufschritt auf mich zukommen und dabei aus unerfindlichen Gründen hinter sich blicken. Er übertrug gleichsam mir, der ich meine Sinne adäquat in Betrieb hatte, die Verantwortung, den Weg zu räumen und auszuweichen. Doch mich überkam eine kleine sardonische Lust auf Konfrontation, und ich ließ es drauf ankommen.

Rumms, machte es. Schulter gegen Schulter. Er drehte sich um mit jenem erschreckten Staunen im Gesicht, als wäre er davon ausgegangen, in einer Großstadt ohne Menschen unterwegs zu sein.

Und plötzlich fühlte ich mich ihm sogar ein wenig verbunden.

Ex cathedra: Die Top 3 der urbanen Songs
1. „The city sleeps“ von MC 900 Ft. Jesus
2. „Summer in the city“ von Lovin’ Spoonful
3. „Crosstown traffic“ von Jimi Hendrix