18 Oktober 2005

Der Hähnchengrill

Freddy ist Mitte 40 und heißt eigentlich gar nicht Freddy. Dafür hat er einen mehrteiligen indischen Namen, der irgendwann mit „Singh“ endet. Doch als er vor vielen Jahren den Grillimbiss in der Hein-Hoyer-Straße übernahm, stand vom Vorbesitzer „Freddy's“ draußen auf der Leuchtreklame, original mit Deppenapostroph, und Herr Singh dachte sich, ein mehrteiliger indischer Name könnte die Kundschaft irritieren. Also wurde er der neue Freddy.

Wenn man vor seinem blitzsauberen winzigen Souterrainladen auf der Hein-Hoyer-Straße steht, sieht man die Reeperbahn. Dort wogen die Menschen, dort tobt das Leben, sie liegt nur 50 Meter weit weg. Doch von den tausenden Touristen verirren sich nur wenige hierher. 50 Meter: Das ist eine Welt. Deshalb hat Freddy kaum Laufkundschaft, sondern vor allem Stammkunden aus den umliegenden Straßen, natürlich auch aus der Seilerstraße. Und wenn man den Stammkundenstatus einmal erreicht hat, wird man ihn nicht mehr los. Das ist ähnlich geregelt wie beim Nobelpreiskommitee in Stockholm.


Sonntagabend, nach einigen geflügellosen Monaten, war ich mal wieder bei Freddy auf ein Hähnchen mit Pommes Frites, und er macht die Augen groß, als ich die drei Stufen zu ihm hinuntersteige, sagt „Ah, wie geht's?“ und reicht mir begeistert die Hand. Gut geht's, und selbst? „Gut, gut“, lächelt Freddy und entfernt eilfertig irgendein Krümelchen Paprikapulver von der Anrichte. Wie gesagt: Der Laden ist blitzsauber. Die Uhr, die hinter ihm an der Wand hängt, ist sogar in Frischhaltefolie eingeschlagen. Aus irgendeinem Grund.


„Wie immer?“ fragt er. Wie immer, sagt der Stammkunde. Und muss trotz mehrmonatiger Geflügellosigkeit nicht mal mehr erwähnen, dass er die Pommes nur gesalzen, nicht gepfeffert bevorzugt. Und das Hähnchen geviertelt. Freddy hat halt ein Gedächtnis wie ein indischer Elefant. Und wenn er dir, dem Stammkunden, am Ende das Wechselgeld überreicht, schafft er es mit einer kühnen manuellen Drehtechnik, das Übergeben der Münzen in ein herzliches Händedrücken münden zu lassen. Das hatte der alte Freddy, der mit dem Deppenapostroph, bestimmt nicht drauf. Das kann nur der Herr Singh.

Große Musik, die heute aus dem iPod floss: „My back pages“ vom Keith Jarrett Trio, „Albatros“ von Peter Holler und „Night drive“ von Lynn Miles.


PS: Die Transen sind wieder da – nur zur Information.


17 Oktober 2005

Der Kiezfreak

Warum setzt man bloß eine Vernissage schon um 19 Uhr an? Die noch viel wichtigere Frage: Warum schreibe ich den Termin trotzdem um 20 Uhr in den Kalender? Als ich im Levantehaus in der Mönckebergstraße eintreffe, ist das Buffet jedenfalls schon geräumt, aber der Künstler noch ebenso präsent wie die Getränkevorräte.

Es ist der britische Gitarrist Chris Rea, jener ruhmreiche Verehrer von „Josephine“, der zum Pinsel gegriffen und das gemalt hat, von dem er am meisten versteht: Gitarren. Gitarren. Gitarren. Siehe Foto.

Auf dem Rückweg steige ich in St. Pauli aus der U3 und finde den Bahnsteig klangverseucht vor. Ein wilder Technotrance übertönt brutalstmöglich die üblichen Etüden aus den installierten Lautsprechern. Ich schaue mich um und sehe einen Typen, wie man ihn wirklich nur hier trifft: älterer Herr mit wirren grauen Locken und Schnauzer, obenrum lila Blouson aus Ballonseide, untenrum herzeigbare dunkle Anzugshose, in der Rechten einen Gettoblaster und in der Linken eine Halbliterbüchse Bier, die er mit offenkundiger Routine ihrer Bestimmung zuführt.

Er ist die Quelle des infernalischen Lärms, macht selbst aber einen sehr ungerührten Eindruck. Warum sein Gettoblaster schrillen Technotrance und nicht zum Beispiel Chris Reas „Josephine“ ausspuckt, werden wir nie erfahren, denn ich habe nicht gefragt.


Die Rückseite der Reeperbahn

Dieser Blog ist einen Monat alt, er heißt „Die Rückseite der Reeperbahn“, aber genau die gab es hier noch gar nicht in natura zu sehen. Das muss sich ändern.

Hier ist sie also, gesehen um 0:45 Uhr von unserem Südbalkon aus, bei Vollmond und angehaltenem Atem.

16 Oktober 2005

Das große Tiefblau

Blog-Stammleser querbeet hat mich heute dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass ich nicht der Einzige bin, der das mediterrane Potenzial der Elbmetropole bemerkt hat. Er empfahl mir eine Web-Seite, die souverän den Nachweis erbringt, dass Hamburg in Wahrheit "Hamburgo“ heißt und für jede beliebige iberische Halbinsel eine Zierde wäre.

Das war auch der Grund, weshalb heute das Brötchenholen bei Rönnfeld eine Viertelstunde länger dauerte: ich konnte mich einfach nicht sattsehen am großen Tiefblau des Himmels über den strahlenden Fassaden St. Paulis, und deshalb feiert das heutige Foto erneut diesen großen Herbst. Das muss man ausnutzen; es werden andere Zeiten kommen.


Übrigens las ich am Samstag in der Mopo, ein Großteil der Hamburger Huren sei auf Außeneinsatz in München, beim Oktoberfest. Vielleicht erklärt das auch die weiterhin bestürzend
transenlose Schmuckstraße.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „The seventh seal“ von In The Nursery, „The black Winds“ von Helldorado und „The everthere“ von Elbow.

15 Oktober 2005

Die mediterranen Hanseaten

Die Bäume in Hamburg fragen sich zunehmend verständnisloser, wann denn endlich der Befehl zum Blättervergilben und -abwerfen kommt. Wahrscheinlich auch das abgebildete Exemplar an der Schulterblatt-Piazza, wo heute das Leben tobt wie zu besten Sommerzeiten.

Vor der portugiesischen Pastelaria Transmontana stehe ich wohlig 20 Minuten draußen in der Schlange, von oben die wärmste Oktobersonnendusche seit der letzten Eiszeit, von vorn ein Duftmix aus Natas, Galão und Toast und aus allen anderen Richtungen das gedämpfte Glücksgemurmel der sommerlich gekleideten Schanzenviertelmenschen, die heute nicht an gestern und morgen denken, sondern nur ans selige Hier und Jetzt.

Hamburger verwandeln sich augenblicklich von eingemummelten Raupen in juchzende Schmetterlinge, sobald die Sonne sagt: Hier bin ich! Wenn im Februar die ersten zagen Frühlingsahnungen aufkommen, stürmt der Hamburger dick verpackt ins Freie und wirft sich empört den Merinoschal über die Schulter, wenn seine Stammkneipe noch keine Tische rausgestellt hat. Die Chance ist aber klein, denn die Kneipiers sind ja selber Hamburger.

Und wer ein Cabrio hat, schlüpft beim ersten bleichen Spätwintersonnenstrählchen in Lammwollmantel und Thermohandschuhe und erkärt die Saison feierlich für eröffnet, natürlich mit versenktem Dach.

Jeder Hanseat ist tief im Herzen glühend mediterran, und er lebt das - der geografischen Lage zum Trotz - so oft und so lange aus wie irgend möglich. Heute ist es komplett ausgeschlossen, da nicht mitzutun. Ich reaktiviere also die Sonnenbrille und lese auf dem Balkon Zeitung, umwogt vom Soundtrack St. Paulis: von schräg gegenüber das Dauergebrumm der Klimaanlage des Spielsalons, aus südlicher Ferne das vereinzelte gutturale Sehnsuchtströten eines Kreuzfahrtschiffs, von der Reeperbahn her das urbane Grundrauschen des Individualverkehrs, vom Himmel das Wasserflugzeug und von irgendwoher die Hibbeligkeit einer Polizeisirene.

Und jetzt: der verdammte Mopedterrorist von gegenüber, der immer minutenlang öttelnd vorm automatischen Garagentor steht, bis es endlichendlich aufgegangen ist. Eine Kakophonie, klar. Doch sie klingt nach zu Hause.

Große Musik, die heute durch den iPod floss: „Lately“ von Vashti Bunyan, „Hope there's someone“ von Antony & The Johnsons und „Lelah Mae“ von Jeb Loy Nichols.

14 Oktober 2005

Die weißen Bademäntel

Ein Date mit Senait Mehari. Nach einem langen Interview letztes Jahr haben wir uns nicht mehr aus den Augen verloren, jetzt ist sie mal wieder in Hamburg, und wir treffen uns auf ein Bier (4,50 Euro für 0,3 Liter!) im Park Hyatt Hotel.

Merkwürdig: im Foyer, an der Rezeption und sogar im Fahrstuhl sind Menschen in schneeweißen Bademänteln anzutreffen. Sie schlurfen stumm und zufrieden über die Auslage, und ein leicht hospitalistisches Flair macht sich breit. Doch alles ist in Ordnung; diese Häufung weißer Bademäntel liegt einfach nur an der Anziehungskraft des gut ausgebauten Wellness-Bereichs, den das Hyatt seinen Gästen offeriert.

Senait ist wie aufgedreht, obwohl (oder weil) sie einen achtstündigen Interviewmarathon hinter sich hat. Sie erzählt, ihr Vater, zu dem sie keinen Kontakt mehr hat (warum, kann man im Buch „Feuerherz“ nachlesen), habe über sie gesagt: „Ich möchte Senait nicht zum Feind haben.“

Stimmt, es ist mit Sicherheit viel angenehmer, sie zum Freund zu haben. Ich frage, ob sie überhaupt je für eine Weile still sitzen kann. „Ja“, sagt sie, nippt an ihrem Holsten und grinst, „wenn ich schlafe.“


Große Musik, die heute durch den iPod floß: „Far away“ von Martha Wainwright, „Hard to love a man“ von Magnolia Electric Co. und „Cry“ von James Blunt.


13 Oktober 2005

Die verschwenderischen Zapfer

Mein Freund Gunnar, ein Profifotograf, hat sich die Bilder in diesem Blog mal angeschaut und kam zu dem fachkundigen Schluss, ich sei eindeutig ein „Stilllifer“.

Abgesehen davon, dass ein Wort, welches mit fünf strikt vertikal gebauten Buchstaben in Folge glänzt, nur Bewunderung verdient (selbst wenn es ein Anglizismus ist), so stimmt das absolut. Ich kann nur das halbwegs, was sich nicht bewegt.


Als neuerlicher Beweis mag das heutige Foto dienen, unlängst am Museum der Arbeit in Barmbek aufgenommen - obwohl der Kondensstreifen sich genau genommen schon irgendwie bewegt. Aber er atmet nicht, das ist wichtig.

Übrigens ist es auch meiner fotografischen Menschenscheu zu schulden und den grundsätzlichen Problemen, die es aufwirft, wenn man Fremde ohne ihr Einverständnis ablichtet, dass ich die folgende kleine Geschichte nicht bebildere.


Vor einigen Tagen sah ich am Rande des Heilggeistfeldes zwei abgerissene ältere Männer auf einer Bank sitzen. Sie beugten sich zueinander, als konzentrierten sie sich auf etwas. Im Vorübergehen sah ich, was es war.

Sie hatten ein Fünfliterfässchen Warsteiner zwischen sich auf der Bank stehen, und einer von ihnen versuchte das durch den Zapfhahn fließende Bier in eine leere Flasche zu füllen. Da der Strahl aber breiter war als die Halsöffnung, floß ein Gutteil davon auf den Bürgersteig. Wahrscheinlich hatten die beiden extra lange ihr Erbetteltes angespart, um sich eine preisgünstigere Großpackung leisten zu können - und dann das: keine Gläser. Das Leben ist kompliziert.


Ab heute gibt es an dieser Stelle übrigens immer die Songs des Tages. Nur zur Selbstvergewisserung. Und für die, die es interessiert. Heute also floß folgende große Musik durch meinen iPod: „Big Louise“ von Scott Walker, „Cripple Crow“ von Devendra Banhart und „Animal“ von Orenda Fink.

Natürlich noch viel mehr, denn ich war im Fitnessstudio, wo übrigens - o Wunder! - die Musik diesmal nicht ganz so schrecklich war wie im Eintrag „Das Fitnessstudio“
beschrieben (siehe September); und außerdem war sie auch etwas leiser, so dass ich die oben beschriebene große Musik sogar hören konnte, ohne meinen Hypotalamus persönlich mit den Ohrstöpseln bekannt machen zu müssen.

Sollte diese erfreuliche Entwicklung etwa daran liegen, dass ich bei der Bundeszentrale des Betreibers dezent auf den Blog-Eintrag „Das Fitnessstudio“ aufmerksam gemacht habe? Wenn ja, dann ist das der Beweis: Man kann die Welt ändern.

ICH kann die Welt ändern.


12 Oktober 2005

Die Transen

Seit drei Tagen sehe ich in der Schmuckstraße keine Transen mehr (Abbildung ähnlich). Ich bin besorgt. Normalerweise stehen sie schon morgens um kurz nach 9 da, wenn ich durchradle. Ich dachte aus irgendeinem Grund immer, es handele es sich dabei um Brasilianer. Doch unlängst erfuhr ich aus einem anderen Blog, dass die hiesige Transen-Genese eher im mexikanischen Raum zu suchen ist, ergänzt durch den asiatischen. 

Wie auch immer: Die üblichen Damenherrn sind plötzlich nicht mehr da, und ich bin besorgt. Das rührt her von einer Tragödie, die vor einiger Zeit geschah. Eines Tages machte die Mopo, eine Hamburger Boulevardzeitung, mit der Story ganz groß auf: Ein Transvestit aus der Schmuckstraße, Brasilianer, sei Opfer eines Mordanschlags geworden, Täter flüchtig. Als ich am folgenden Morgen durchfuhr, fehlte in der Tat eine aus der üblichen Besetzung. Und zwar jene, die ich für mich „Condoleezza“ genannt hatte, denn sie ähnelte der heutigen US-Außenministerin auf verblüffende Weise.  

Täglich hielt ich Ausschau, wochenlang, doch sie war nie zu sehen, und ich war mir sicher: Unzweifelhaft musste sie, Condoleezza, dem Mörder zum Opfer gefallen sein. Ein trauriger Gedanke. Doch dann eines Morgens, wie aus dem Nichts, wie auferstanden von den Toten: Condoleezza! Sie stand an üblicher Stelle, am Seiteneingang der Großen Freiheit 36, als wäre nichts gewesen - und es war großartig! Beinah wäre ich abgestiegen und hätte ihr meine Freude offenbart. Aber das hätte sie vielleicht falsch verstanden.  

Also radelte ich an ihr vorbei und hatte einen äußerst beschwingten Arbeitstag. Seither bedeutet der Anblick Condoleezzas stets ein kleines Stück Glück. Seit drei Tagen allerdings sehe ich gar keine Transen mehr in der Schmuckstraße. Auch Condoleezza nicht. Ich bin besorgt.

 

11 Oktober 2005

Die Jukebox

Ja, es war ein Jugendtraum: eine eigene Jukebox, zu Hause, ganz für mich allein, mit meinen Lieblingssingles.

Dazu braucht man aber nicht nur einen Batzen übriges Geld und eine verständnislos-tolerante Lebensgefährtin, sondern auch die entsprechende Wohnung.


Die in St. Pauli hatte das richtige Format, endlich. Und schon kurz nach unserem Einzug ging ich Kleinanzeigen durch, telefonierte mit Inserenten, zockelte nach Wandsbek und Winterhude, nach Barmbek und Eimsbüttel – und schließlich nach Stillhorn, wo sie stand: meine Musikbox. Eine echte Wurlitzer.

Keine aus den Fünfzigern, die sind unbezahlbar, aber die späten Siebziger sind ein guter Kompromiss – vor allem, wenn die Lichtspiele der Box so hübsch kitschigbunt psychedelisch verspiegelt sind, dass es kaum stört, dem Plattenteller nicht beim Rotieren zusehen zu können.

Der Privatverkäufer, Cheffe einer vielköpfigen Sintifamilie, erbot sich, mit Hilfe diverser kräftiger Söhne den vier Zentner schweren Apparat nach Hamburg zu fahren, was ich gerne annahm
.

So geschah es. In St. Pauli luden sie den Trumm vom Transporter, stellten ihn ächzend auf dem Bürgersteig ab – und fuhren zu meiner Überraschung davon, wenngleich nicht grußlos. Da stand ich also nun, 80 plus 220 Kilo, ratlos. Ein paar herbeitelefonierte Freunde versuchten, mit mir das Ding in den zweiten Stock zu hieven, doch wir schafften nur eine einzige Treppenstufe. Und es drohte die Dunkelheit St. Paulis, wenn ihr wisst, was ich meine.


Mir blieb nichts anderes übrig, als – quasi über ein Notdiensttelefon – eine Spedition herbeizuflehen. Zwei Gorillas, ausgerüstet mit Tragegurten und einer an tausend Klavieren geschulten Grundgrimmigkeit, wuchteten die Wurlitzer hoch in den Flur.


Hat schon mal jemand einen Schlüsseldienst gerufen, weil er sich ausgesperrt hatte? Nun, die Kosten sind vergleichbar. Am Ende zahlte ich für sieben Meter Luftlinie rund ein Siebtel des Preises der Box.
Immerhin weiß ich jetzt ziemlich genau, was ein Jugendtraum wert ist.

Details auf Anfrage.


10 Oktober 2005

Der Obdachlose

Vor einiger Zeit ging ich an einem Verkäufer des Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt vorbei, es war vor der unteren Rolltreppe in der S-Bahnstation Reeperbahn. Plötzlich rief er mir vorbereitungslos zu mit geweiteten Augen: „Es hat geklappt mit der Wohnung!“

Ich wusste trocken und spontan mit einem „Herzlichen Glückwunsch!“ zu parieren. Und während ich lächelnd weiter mein Fahrrad Richtung Ausgang schob, rief er mir nach: „Und am 24. Dezember habe ich eine Frau!“


In diesem Augenblick schien jener sagenhafte Herzog'sche Ruck durchs Land zu gehen, die Rezession wurde schlagartig egal, alle Gläser waren dreiviertelvoll. Dieser Mann stand da und war glücklich. Der Optimismus hatte menschliche Gestalt angenommen.
Aber verdammt: Warum bin ich nicht umgekehrt, habe ihm die Hand geschüttelt und fünfzehn Hinz & Kunzt abgekauft? Verdammt!

Nun, es war eh nicht wahr, das alles. Er stand beim nächsten Mal wieder da und beim übernächsten Mal immer noch, und drei Wochen später auch. Keine Wohnung, keine Frau, nicht mal mehr ein Hinz & Kunzt.


Heute, als ich mit dem Schwaben, Kramer, C. und dem Franken nach der Arbeit vorm Aurel in Ottensen saß (im Oktober! In Südschweden! Es lebe der Treibhauseffekt!) und ein Feierabendbier trank, da kam eine schneidezahnlose Obdachlose vorbei, und ich kaufte ihr ein Hinz & Kunzt ab.


Die Entscheidung hatte irgendetwas mit dem Typen in der S-Bahnstation Reeperbahn zu tun. Ich weiß nur nicht genau was.

09 Oktober 2005

Die armen alten Meister

Vivaldi wirkt offenbar auf Junkies wie Merz auf Merkel: abschreckend. Das zumindest soll der Grund sein, weshalb der Betreiber der Hamburger U-Bahn jedes Wochenende die Station St. Pauli mit lieblichen Klängen beschallt. Heute empfing uns „Für Elise“, letztens waren es die „Vier Jahreszeiten“. Davor die „Vier Jahreszeiten“ und auch mal „Für Elise“. Gern auch umgekehrt.

Und in der Tat, es scheint zu wirken: Auch heute waren weder Junkies noch Bettler zu sehen. Nur Touristen und phlegmatische Einheimische. Ich habe natürlich nichts gegen Beethoven oder Vivaldi, aber jeden Sonntag mit den abgedroschensten Gassenhauern des Klassikkanons geplagt zu werden, schreckt auch mich ein wenig ab – und ich bin kein Junkie. Warum also, lieber HVV, nicht auch mal Schostakowitsch oder Stockhausen? Meinetwegen auch Orff. Oder Satie?

Die entscheidende Frage bleibt aber auch mit dieser Auswahl unbeantwortet: Warum überhaupt scheuen Junkies klassische Klänge wie ein Wal die Wüste? Und wer hat das überhaupt herausgefunden? Wurden die Junkies etwa aufgefordert („Liebe Junkies, …“), auf einer Auswahlliste anzukreuzen, was sie schlimmer fänden, Motörhead oder Mozart?

Jedenfalls hätten es sich die Klassiker der Klassik wohl niemals träumen lassen, dass ihre größten und erfolgreichsten Stücke dereinst mal auf die Funktion einer Vogelscheuche reduziert werden würden. Hamburg hat das hingekriegt – Glückwunsch.

08 Oktober 2005

Das Alte Land

Ein Ausflug zu dritt ins Alte Land, ein gigantisches Obstanbaugebiet südlich von Hamburg. Mit dem Katamaran braust man in einer kurzen Stunde flussabwärts hin, das Wasser der Elbe ist überhaucht von gleißendem Gekräusel. Wir suchen in der Nähe von Jork einen bestimmten Obsthof, wagen mitten in höchst ländlichem Ambiente eine „Abkürzung“ und verirren uns lustvoll ein wenig in den Apfelplantagen - was uns einen guten Grund liefert, rechts und links klitzekleine (genauer gesagt: apfelgroße) Mundraube zu begehen.

So gestärkt erreichen wir den Hof, wo man uns gleich mit Tüten ausstattet und erneut - diesmal ganz legal - in die Äpfel schickt. Mit entsprechenden Folgen, wie das Foto zeigt (links der Autor, rechts der Franke).

Auf der Rückfahrt per S-Bahn kommen wir durch den Bahnhof Harburg, und ich sehe plötzlich vor mir einen Sommertag im Jahr 2001, ich sehe, wie Mohammed Atta hier einsteigt, wie er sich einen Platz sucht in irgendeiner Ecke, vielleicht auf einem unserer Sitze, wie er Wilhelmsburg und Hammerbrook an sich vorüberziehen sieht, zum letzten Mal, dann den Hauptbahnhof, und dann weiter nach Norden, wie er irgendwann umsteigt in den Bus oder ein Taxi, in Fuhlsbüttel abfliegt nach Amerika, zum letzten Mal, wie er später in Washington durch die Schleuse geht, wie er nach New York fliegt, zum letzten Mal …

Wir sind zurück, kämpfen uns durch den entgegenkommenden Strom der Reeperbahn-Touristen
mit kiloschweren Apfeltüten, und das sieht bestimmt skurril aus. Doch keiner schert sich drum, der Kiez ist eh eine einzige Freakshow.

Und heute gehören wir eben auch mal dazu, ein bisschen wenigstens.

07 Oktober 2005

Die Kiezpolizisten

Vorm Bahnhof Altona fuhr heute ein Streifenwagen beinah einen Fahrradfahrer um - in einer Fußgängerzone! Die rechtlichen Probleme möchte ich mir gar nicht ausmalen. Aber es ist ja nichts passiert.

Genauso wie damals, als ich zwischen Schmuckstraße und Simon-von-Utrecht-Straße entlang radle und in einiger Entfernung vor mir zwei Polizisten sehe, die derart breit nebeneinander herschlendern, dass an ein Vorbeifahren nicht zu denken ist. Also klingle ich vorsorglich. Keine Reaktion. Fünf Meter hinter ihnen klingle ich erneut, diesmal deutlich schärfer im Ton. Und siehe da: eine Reaktion! Ohne den Weg freizumachen, dreht sich einer der beiden um und sagt: „Das hier ist kein Radweg.“

Autsch ... Stimmt. Jetzt wo er's sagt. Ein Fußweg. Und ich versuche, Kiezpolizisten da runterzuklingeln, die härtesten der harten! Mein fieberhaftes Grübeln um Schadensbegrenzung mündet in der beschämend lahmen Frage: „Aber wo denn dann?“ Die beiden stehen da, cool, lässig, mit leicht zurückgelehnten Köpfen und der ganzen Präsenz nicht nur des Gesetzes, sondern auch des moralischen Rechts, was ja beileibe nicht immer das Gleiche ist. „Hier gibt's keinen“, sagt der eine. „Da ist die Straße.“

Ich habe dann das Rad bis zur Ampel an der Großen Freiheit geschoben. Seither peile ich aufmerksamst die Lage vor mir, wenn ich zwischen Schmuckstraße und Simon-von-Utrecht-Straße entlang radle. Man weiß ja, was sie mit Wiederholungstätern machen.

06 Oktober 2005

Der Moskito

Hunderttausende Autos, Lkws und Busse sorgen in unermüdlichem Einsatz rund um die Uhr dafür, dass die Luft in Hamburg und speziell in St. Pauli für Insekten möglichst unangenehm ist. Das ist ein sehr positiver Aspekt: Man wird selten gestochen. Damals, nach der Oderflut, waren aber auch die Kfz-Armeen machtlos. Es war der Herbst, in dem wir uns geschlagen und entnervt ein Moskitonetz kauften.

Ein Moskitonetz. Mitten auf St. Pauli. Knapp südlich des Polarkreises. Seither ahnen wir, wie schlimm die Oderflut wirklich gewesen sein muss. Das Netz war die einzige Rettung. Doch wir haben es praktisch nur eine Saison gebraucht. Danach übernahm die Firewall des Individualverkehrs wieder das Kommando.

Bis gestern Nacht. Ein Sirren am Ohr. Und plötzlich ist es wieder wie damals, nach der Oderflut
: Ich checke die schwarzen Flecke an Wänden und Decken. Ich suche nach jener Schwärze, die einen Schatten wirft. Denn was Schatten wirft, ist ein Moskito, der lebt. Und er muß sterben. Er will das nicht und hat Strategien entwickelt, um meinen Nachstellungen zu entgehen. Er meidet zum Beispiel weiße Flächen. Stattdessen bevorzugt er Klecksmustertapeten und kackbraune Schrankwände.

Nach Darwins Evolutionslehre müssten also irgendwann jene Moskitos aussterben, die sich auf weißen Flächen in Kopfhöhe niederlassen. Dort erwische ich sie nämlich babyleicht, und sie können ihre Gene nicht weitergeben – und somit auch nicht ihre Vorliebe, sich auf weißen Flächen in Kopfhöhe niederzulassen.
Nachteil: Übrig blieben Mega-Moskitos, die dunkle Ecken direkt unter der Decke bevorzugen, welche nach unten von meterbreiten Schränken abgesichert sind. Soll ich also die Weißflächen-Moskitos nicht erschlagen, damit sie ihre Dummheit brav weitervererben und ich ihre Nachkommen leichter erwische? Auch keine Lösung.

Gestern Nacht jedenfalls war wieder mal einer da, Produkt des feuchten Sommers und goldenen Herbstes in der Stadt. Ich suchte nach bewährter Manier, bewaffnet mit der in vielen Schlachten erprobten gefalteten Zeitschrift (eine Ausgabe von September 1998). Nichts. Erst als das Licht aus war, kam es wieder, dieses Sirren. Es handelte sich offenbar um einen Mega-Moskito: unentdeckbar im Hellen, blutrünstig in der Schwärze der Nacht. Doch gestern half mir der Zufall: Bei einigen panischen Ohrfeigen, die ich mir selber im Dunkeln verpasste, muss ich ihn erwischt haben. Obwohl die Leiche nie gefunden wurde.

Jetzt bin ich alarmiert. Zum Glück weiß ich noch, wo das Moskitonetz liegt.

05 Oktober 2005

Die Kühlschrankstemmer

In der Seilerstraße gibt es haufenweise sogenannte Import/Export-Läden. Draußen stehen meist ein paar Kisten mit traurigen LPs herum (James Last: „Jetzt geht die Party richtig los!"), drinnen sind diese Geschäfte stets voll bis unters Dach mit Unterhaltungselektronik knapp diesseits des Schrottzustands – plus einem bis zwei meist schnauzbärtiger Herren, die in dem Sekundenbruchteil, wenn du die Tür öffnest, tiefer in dein Innerstes schauen als jeder freudianisch ausgebildete Psychoanalytiker.

Sie wissen genau, wie sehr du dir wünschst, den mitgebrachten Videorekorder wirklich loszuwerden, auch wenn du so tust, als blute dir das Herz vor Trennungsschmerz. Mich hat mal einer bei einem durchaus passablen Gerät (ich glaube von Philips, Neupreis einst rund 1000 Mark) auf 5 Euro runtergehandelt. Eine Niederlage, die ich noch immer nicht verdaut habe.


Frappierend sind die kontrastreichen Nachbarschaften. Da gibt es diese Videothek für Schwule (Foto), deren Hauptattraktion die allmonatliche „FKK-Party – Das Original!“
ist, was immer sie darunter verstehen. Und direkt daneben ein Import/Export-Laden, der sich auf Haushaltsgeräte spezialisiert hat und tagein-, tagaus seilerstraßenverengend von Transportern und Klein-Lkws umlagert wird, die unablässig Kühlschränke, Trockner und Waschmaschinen aufnehmen und ausspucken. Eine ganze Armada hemdsärmeliger, schnauzbärtiger Herren mit Kippen in den Mundwinkeln ächzt und wuchtet sie Stund' um Stund' rein und raus und raus und rein.

Das alles erinnert beim täglich zweifachen Vorbeiradeln an den ätzenden (und dazu untertariflich bezahlten) Job von Sisyphos. Und was denken die fatalistischen Kühlschrankstemmer wohl über die allmonatlichen Besucher der „FKK-Party – Das Original!"? Kennt man sich, grüßt man sich? Oder bleiben das unversöhnliche Parallelwelten? Ich werde das mal recherchieren.

Wenn ich mich traue.

04 Oktober 2005

Das Hotel

In der Clemens-Schulz-Straße, gar nicht weit weg von Renates Käse-und Weinladen, steht das schmuddeligste Haus weit und breit. Obgleich in seinem faden, funktionalen Grau deutlich sichtbar ein Nachkriegsbau, war es offenbar nie ein Heim, das sich liebevoller Hege und Pflege erfreuen durfte.

Längst haben Grafitti-Sprayer mit St.-Pauli-typischer Gesinnung („Nazis raus!“) das Kommando übernommen, was irgendwem – wer immer sich auch Eigentümer nennen darf – offenbar so was von wurst ist.


Doch das alles wäre kaum der Rede wert in Hamburgs ärmstem Stadtteil, wenn nicht eine armselige, als Türdach stoisch aus der Wand sprießende Außenwerbung diesen Trauerkloß von Haus als Hotel ausweisen würde. Als HOTEL!

Samt „Einzel & Doppelzimmer" mit „fließend warm & kalt Wasser“, worüber zwei gleichfalls von Grafitti und allgemeiner Lieblosigkeit schwer ramponierte Schilder hoffnungslos informieren.


Aber der dickste Klopfer ist der Name der Absteige: „Hotel HOHENZOLLERN“. Kann es einen schonungsloseren Kommentar zum Zustand des deutschen Adels geben?

Allenfalls die Frisur von Ernst-August von Hannover.

03 Oktober 2005

Der Schuh

Wenn ein verlängertes Wochenende ansteht, macht das Tollhaus Kiez Überstunden. Wie heute früh, am blutjungen Tag der Deutschen Einheit. Auf der Straße lange nach Mitternacht plötzlich Geschrei, von einer sehr hellen, sehr besoffenen Stimme. Wieder mal Straßenkino, denke ich, und betrete gemessenen Schritts den Balkon. Eine sehr blonde Frau brüllt auf der anderen Straßenseite einen sehr stummen Mann an; er wirkt wie ein melancholischer Türsteher.

Sie zetert, zieht ihren rechten Schuh aus, pfeffert ihn weg, ihm vor die Füße. Man versteht kein Wort. Sie verstummt kurz, um sich zwecks oraler Erleichterung ganz anderer Art über die Baustellenabsperrung zu beugen, nimmt den Faden aber gleich danach wieder auf - und den Schuh natürlich, den sie erneut wirft, diesmal nach ihm. Er will den Rückzug antreten, sie humpelt hinterher, obgleich ihre Standfestigkeit an die eines Kreisels erinnert, der stark an Schwung verloren hat.

Sie kriegt ihn zu fassen, krallt nach seiner Jacke, zieht sie ihm dabei schreiend halb aus. Er immer noch stumm, nicht aber die beiden Hilfspolizisten, die eigentlich die Falschparker-Armada abzetteln wollten und jetzt alarmiert herbeieilen. Ihr schwant Unheil, ihr vernebeltes Ich trifft im Prinzip die richtige Entscheidung: Flucht. Allerdings gerät die ihr taumelnd, schier kreisförmig. Ihr Erzürner dackelt nebenher, die Polizisten holen sie ein, ein paar Ermahnungen, dann lassen sie die beiden wieder allein.

Und sofort geht's weiter. Sie schreit, wirft schon wieder den Schuh, verschwindet im Eingang der Spielhalle gegenüber. Die Polizisten kommen zurück, verhandeln mit dem ratlosen Tropf - und entscheiden, einen Streifenwagen herzufunken. Fünf Minuten später ist der da, zwei Beamte holen die Frau aus der Spielhalle und verfrachten sie ins Auto. Das letzte, was ich höre, ist die sehr laute Stimme eines Polizisten aus dem Streifenwagen: „Ziehen Sie endlich ihren Schuh wieder an!"

Ihr Begleiter trollt sich. Wie das Paar sich wieder zusammenraufen will, ist mir schleierhaft. Er hat sie ja quasi der Polizei ausgeliefert. Eigentlich ein Grund, mit mehr zu werfen als nur einem Schuh.

02 Oktober 2005

Die Warnung

Wenn ich sonntagsmorgens zum Brötchenholen durchs Viertel radle, schaue ich nicht in die Ferne, auf die nächste Kreuzung oder den entgegenkommenden Verkehr. Nein, mein Blick klebt am Asphalt.

Nach dem ortsüblichen Fieber der Samstagnacht nämlich sind die Straßen erschöpft und wie erschlagen, und obwohl die Besenwagen schon seit Sonnenaufgang durch St. Pauli kriechen, sind noch überall die Spuren der Ekstase und Ernüchterung zu sehen.


Vor allem die kunterbunte Vielfalt der Scherben zwingt Radfahrer zum starren Blick aufs Terrain unmittelbar vorm Vorderrad. Ich fahre Slalom die Seilerstraße hinunter, biege rechts ab in die Hein-Hoyer-Straße, überquere die Simon-von-Utrecht- und Clemens-Schulz-Straße, hole mir dank akrobatischer Fahrkünste KEINEN Platten und parke vor der Konditorei Rönnfeld.

Der kleine Familienladen trotzt wacker den Attacken von Ketten wie Kamps & Co. und ist sonntags erste Wahl. Dann nämlich steht die alte Frau Rönnfeld höchstselbst im Laden; sie geht auf die 80 zu, ist auf ansteckende Weise kreuzfidel, begrüßt einen mit Namen und hat die üblichen vier Sesambrötchen schon griffbereit zurückgelegt.

Heute lobt sie völlig zurecht das Wetter, das uns nachmittags in den Park Planten & Blomen treibt. Mit seinen Wasserspielen, Waldpfaden und vergnügten Enten macht er fast vergessen, dass wir mitten in einer Millionenstadt leben. Und seine Schilder warnen saisonal unabhängig vor Gefahren – zum Beispiel vor gefährlich dünnen Eisdecken (Foto).

Heute, an diesem glorios sonnigen Oktobertag, wollen wir von so was aber rein gar nichts wissen.

Der Leierkasten

Auf N3 lief gestern eine Doku über St. Pauli, und es ist immer wieder schön, den Kiez im Fernsehen thematisiert zu sehen - vor allem deshalb, weil ja alle Klischees, die so kursieren, auch wirklich mehr oder weniger wahr sind. Sogar, dass hinterm Amüsement die Tragödie hockt, im Halbdunkel.

Über einen fidel aussehenden Typen Marke Althippie, der mir manchmal beim Einkaufen über den Wegt rollt (er sitzt im Rollstuhl und nennt sich Murmel), erzählt mir N3, dass er im Sterbehospiz in der Nachbarstraße lebt und sich sehr darauf freut, bald im Himmel putzen zu können. Er hätte es da oben nämlich gern blitzeblank, wenn Chuck Berry eintrudelt; der Rock'n'Roller ist sein großer Held. Und auch für B. B. King würde er gern die Wolken wienern.

In diesem Film kommt auch die 87-jährige Friede vor, die jahrzehntelang im „Lockenpuff" gearbeitet hat. „Lockenpuff"? Damit meint sie ihren Frisiersalon. In St. Pauli hat eben fast alles mit Sex zu tun. Und der hat - bei aller Schmuddeligkeit - auch seine Ästhetik. Ein Bordell in der Nacht, dessen Leuchtreklame sich in den Dächern der Autos heimelig spiegelt: Das hat was.

Gilt auch für die Lasterhöhle Leierkasten in der Kastanienallee.


01 Oktober 2005

Die Frau auf dem Bürgersteig

Auf dem Weg ins Konzert. Vorm East-Hotel liegt eine junge Frau auf dem Trottoir, umringt von zwei Männern und einer weiteren Frau. Ich steige vom Rad und frage, ob ich helfen kann.

„Nein, alles klar“, sagt einer der Männer, „sie hat sich nur übergeben und ist dann umgefallen. Sie raucht schon wieder.“ Und in der Tat: Das tut sie. Sie liegt langgestreckt und bewegungslos auf den herbstkalten Platten des Bürgersteigs, sie trägt nabelfrei eine goldfarbene Discolackweste – und zieht an der Zigarette, die ihr fürsorglich in den Mund gesteckt wird.

Ob ich nicht lieber einen Arzt rufen soll? Nein, nein, alles klar, alles im Griff.

So radle ich weiter, umfahre ein paar Meter weiter mit letzter Not den strahlenförmig ausgebreiteten Inhalt ihres Magens und erreiche wenig später das Knust, einen zum Kuscheln netten Club im Schanzenviertel, der den großen Vorteil hat, zur Hälfte aus Konzertsaal und zur anderen Hälfte aus Tresen zu bestehen. So lässt es sich leben.

Es spielt Ex-Pulp-Gitarrist Richard Hawley (Foto, mit Heiligenschein) vor lachhaft wenigen Zuschauern (wovon rund ein Drittel der gleichen Spezies wie ich angehören, nämlich jener der Musikjournalisten), doch er schwelgt selbstvergessen im eigenen Oeuvre; es ist, als windsurften wir auf einem Meer aus Paradiescreme. Auf dem Rückweg komme ich wieder am East-Hotel vorbei. Das Quartett ist längst weitergezogen, sogar die Kotze ist schon trocken.

Das Wochenende auf dem Kiez: Es kann losgehen.