Katja Werker ist die beste deutsche Songwriterin. Und das liegt nicht nur an ihrer Schusseligkeit.
Manche Menschen sind Magneten. Sie ziehen das Unglück an wie ein Honigtopf die Wespe. Der Blumentopf fällt ihnen auf den Kopf. Es ist ihre EC-Karte, die im Automaten stecken bleibt.
Die Hotelbar dämmert vor sich hin. Kaum Gäste, es ist früher Nachmittag. Katja Werker flattert herein wie ein gerupfter Schwan, abgehetzt und atemlos. Schlaff fällt sie in den schweren Ledersessel. Das war mal wieder ein Vormittag! Dabei ging es gut los. Sie war gemütlich shoppen in der Hamburger Innenstadt, mal hier, mal da – und am Ende war ihr Handy weg. Also rollte sie ihre Einkaufstour noch mal von hinten auf, klapperte ein Geschäft nach dem anderen ab, immer ruheloser, immer adrenalingepeitschter.
Das Handy ist ihr wichtig, da sind die Nummern drin von jenen, die sie liebt und mag. Es gibt Menschen, deren Handyadressbuch ist voller. Doch Katja Werker war immer eine Außenseiterin, darin ist sie ausgebildet. „Ich führe ein anderes Leben als 99 Prozent der Frauen, die ich kenne“, wird sie später erzählen, als sie sich etwas erholt hat. Früher litt sie unter diesem Außenseitertum sehr, doch inzwischen gelingt es ihr, es umzudeuten. „Jetzt gestehe ich mir halt zu, Künstlerin zu sein“, sagt sie.
Das Gefühl des Danebenstehens ist aber immer noch da. Im neuen Song „Half of my Way“ singt sie: „The fields are so green/and they’ll always be/no matter which road/I take.“ Die unbekümmerte Welt, die dich nicht braucht: Darin besteht die dauerhafte Verletzung, die Katja Werker mit sich herumträgt. In ihrem dunkel schimmernden Songwriterpop scheint sie immer wieder auf.
Sie sitzt schmal im Ledersessel. Man spürt, wie ihre Herzfrequenz allmählich sinkt. „Einen Cocktail bitte“, sagt sie zum Kellner, „aber alkoholfrei.“
Es gibt dieses unrausrottbare Klischee vom Künstler, der seine Depressionen in Kunst verwandelt – Glück aus dem Unglück sozusagen. Doch wie das so ist mit den Klischees: Sie kommen nicht aus dem Nichts. Es sind geronnene Stereotypen von etwas, das wirklich existiert. Katja Werker wuchs im Pott auf, mitten im Malochermilieu. Ein unglückliches Kind, das sich fremd fühlte unter den anderen Kindern, das sich als Jugendliche in den Alkohol flüchtete, süchtig wurde und obdachlos. Ein Mädchen, das sich schließlich buchstäblich rettete in die Kunst.
Werker schrieb Songs, die wie offene Wunden waren. Später verfasste sie eine erschütternde Autobiografie über ihren Absturz und den seither herrschenden Kampf um die Balance. Sie schrieb immer mehr Songs über Dämonen, Ängste und Träume, und sie singt sie zu Klavier, Gitarren und Elektronika mit einem brüchigen Hauchen, das dir ins Ohr kriecht und vom Unglück flüstert – und das ist für dich das pure Glück.
Katja Werkers Songs lassen dich nicht kalt, auch wenn sie auf dem neuen Album „Dakota“ gefälliger und lauter daherkommen, auch wenn die Sonne nun zaghaft über den Horizont dieser Lieder lugt. Das ist Pop, verdammt, auch wenn es um den „Heartbreak Boulevard“ geht und darum, dass man sein Leben nicht im Laden an der Ecke kaufen kann; man muss es sich erkämpfen, Tag für Tag.
Werker weiß es wahrscheinlich nicht, aber sie ist der Traum jeder Plattenfirma. Sie tüftelt Songs aus, wie sie in Deutschland sonst niemand schreiben kann, zumindest keine Frau. Dann spielt sie die Lieder allein im Heimstudio ein, komplett mit allen Arrangements. „Den ganzen Winter über habe ich im Zimmer gesessen und daran gearbeitet, gegen all die Monster, die links und rechts auftauchten.“ Dann legt sie dem Label das Album auf den Tisch, und die braucht es nur noch zu verkaufen. Von ihrer 2000er CD „Contact myself“ gingen angeblich über 40 000 Einheiten weg – eine Sensation.
Ihr neues Album „Dakota“ ist wärmer, weicher, Werker schreit auch mal. So könnte die größte deutsche Songwriterin glatt noch zum Popstar werden. Komischerweise wäre ihr das sogar recht; sie träumt von einem Auftritt bei der Echoverleihung und hält sich für stabil genug, so was durchzustehen. „Je mehr Erfahrung ich sammle“, hat sie festgestellt, „desto weniger verzweifelt bin ich über das, was passiert. Ich verliere nicht mehr so schnell die Nerven.“
Im ersten Geschäft, das sie betreten hatte – also ganz am Ende ihrer Rückwärtstour –, fand sie schließlich ihr Handy wieder. Doch sie weiß: Bald wird sie das Telefon wieder irgendwo liegen lassen. Sie ist halt so. Damals, in Brüssel, ging gleich ihre ganze Handtasche verloren. Sie saß im Bus auf dem Weg nach England, ihrer Trauminsel, als Trickdiebe zustiegen. „Die haben genau abgecheckt, wen sie beklauen können“, erzählt sie müde. „Und ich war diejenige.“ Natürlich.
Sie könnte jetzt gut ihren alkoholfreien Cocktail gebrauchen.
In der Handtasche waren Tickets, Geld, Handy, alles. England ade, sie musste raus aus dem Bus. Sie zog den Rucksack aus dem Kofferraum und stand alleine da, mittellos und panisch. „Ich bin durch Brüssel gelaufen, habe mich durchgeschnorrt“, erzählt sie. „Ich wollte telefonieren, aber man ließ mich nicht, weil ich so runtergekommen aussah, die Haare schief.“ Wenn Katja Werker redet, schaut sie immer ein wenig erschreckt, wie aufgescheucht. Ihr Blick ist der wachsame, übervorsichtige einer Frau, der schon viel zugestoßen ist und die weiß, dass ihr jeden Moment wieder etwas zustoßen kann.
Über ihrem Ledersessel hängt das Foto einer Hamburger Gebäudeflucht. Alle Linien stürzen symmetrisch hin zur Mitte, das Bild feiert Balance und Geometrie, und darunter sitzt die emotional gerade eher asymmetrische Sängerin. Ein sehr fotogener Kontrast – doch sie will nicht fotografiert werden. „Fotos“, seufzt sie, „sind für mich ein diffiziles Thema.“ Sie schaut sich nach dem Kellner um, doch er ist nirgends zu sehen. „Ich hatte mal eine beginnende Nebenhöhlenentzündung am Ende einer anstrengenden Promotour“, erzählt sie, „und wollte eigentlich nicht fotografiert werden. Es wurde ein grottiges, fürchterliches Bild, ganz schlimm. Und die haben das groß gedruckt – eine halbe Seite in der Tageszeitung!“
Sie schließt die Augen, als könnte sie so die Erinnerung verscheuchen. Auf den offiziellen Pressefotos hat man ihre Augen zentimeterbreit mit Kajal ummalt. Wie Spiegelbilder jener Schatten, die über ihrem Leben liegen.
Der Horror von Brüssel dauerte zwei volle Tage. Und er steigerte sich: Der Rucksack, den sie gegriffen hatte, war nicht ihrer. „Als ich mich umziehen wollte, wunderte ich mich über das Fußballtrikot, die Kamera, die Flasche Wein … bis es mir allmählich dämmerte, dass es der Rucksack meines Hintermanns war. Jetzt hatte ich gar nichts mehr: keine Hose zum Wechseln, keine Unterwäsche, keine Zahnbürste, kein Geld.“
Heute hat sie wenigstens einen Song darüber: „No Ticket back“. Über dem E-Piano schwebt ihre verfremdete, vereinsamte Stimme. Es geht um die Abhängigkeit von Scheinen und Bescheinigungen, ums Verlorengehen in der Fremde. „Die Kruste der Zivilisation ist dünn“, sinniert Katja Werker, „mitten in Europa.“ Sie würde jetzt sehr gern an ihrem Cocktail nippen.
Am Ende hat sie sich in Brüssel einfach in den Bus gesetzt, wie bei einer Sitzblockade. „Ich war seit 48 Stunden wach und hatte immer noch diesen Adrenalinschub durch den Schock. Zum Fahrer habe ich gesagt: ,Entweder Sie geben mir jetzt ein Ticket nach Hause oder ich schreie!‘ Da hat er okay gesagt. Und ich bin nach Hause gefahren.“
Allmählich füllt sich die Hotelbar, das Interview geht zu Ende. Katja Werkers Cocktail ist nicht mehr gekommen.
Es ist das einzige Getränk, das die Bedienung vergessen hat.