Ungerührt ignorieren sie den abendlichen Verkehr. Wer im Auto vorbeikommt, lässt sich zwar kurz irritieren, umkurvt dann aber doch mit dem typischen Fatalismus des Großstädters das Hindernis, um es sogleich wieder zu vergessen. Diese Typen muss ich mir anschauen, klar. Ich gehe runter.
„Was seid ihr denn für welche?“, schlage ich einen leutseligen Ton an, „habt ihr eine Wette verloren?“ (Das ist übrigens Ms. Columbos Theorie.) Die beiden, das sieht man gleich, sind St.-Pauli-Fans. Der eine, ein muskulöser Mensch mit Mütze, trägt als Gesinnungsnachweis ein T-Shirt mit Stadtteilschriftzug. Der andere, ein kleiner pummeliger Mittdreißiger von schon leicht angegrauter Provenienz (vor allem an den Schläfen), brabbelt etwas vor sich, ohne die von mir vorgebrachte Theorie von Ms. Columbo zu verifizieren.
„Bissu auch Paulifan?“, fragt er. „Bin ich“, bestätige ich. Inzwischen ist ein weiterer Passant hinzugetreten, ein arabisch und zugleich derangiert wirkender Bartträger mit zerrissenen einst weißen Hosen und Bierflasche in der Hand. Letzteres eint ihn übrigens mit den beiden Herren auf den Stühlen. Der Neuankömmling (auf dem Foto verdeckt) ist begeistert von der Situation. „Ihr seid so cool, ey, so cool!“, ruft er und offenbart dabei ein völlig entspanntes Verhältnis zu seinen zahlreichen prominent platzierten Zahnlücken.
Ungerührt, geradezu huldvoll nehmen die Kreuzungssitzer die Eloge entgegen. „Haste was zu kiffen?“, versucht der Mützenträger umstandslos die Diskussion in eine für ihn günstige Richtung zu lenken. Der Araber verneint und verweist kundig auf die Hafenstraße; außerdem steht ihm eh mehr der Sinn nach weiterer Untermauerung seiner „Ihr seid so cool!“-These.
„Bissu auch Mitglied im Pauliforum?“, wendet sich der Grauschläfige nun wieder an mich. „Bissu sweiunpfirsich? Du siessaus wie
sweiunpfirsich.“ Eine recht schmeichelhafte Schätzung, wie ich ihm dankbar zu verstehen gebe. Ich verzichte darauf, die an dieser Stelle eigentlich angebrachte Vertiefung der Diskussion über die Zahl 42 im Sinne Douglas Adams' anzugehen, denn von der Detlev-Bremer-Straße her hält ein Taxi auf unsere kleine Gesellschaft zu. Es bremst, und beim Umkurven dreht der wie beseelt dreinschauende Fahrer die Scheibe herunter und sagt: „Das ist so geil, so geil!“Die Begeisterungsstürme, die zwei mit Dope unterversorgte Betrunkene mitten auf einer Kiezkreuzung auszulösen vermögen, sind wirklich erstaunlich. Der kleine Pummel entwickelt plötzlich Theorien über die Richtung, aus der die unvermeidlichen Ordnungshüter bald anrollen werden. „Gleich kommt die Schmier!“, prognostiziert er, was ich als Kiezmetapher für die Polizei deute, „und zwar von da unten“, womit er die Westrichtung der Seilerstraße meint.
Vom Tippel II dringt inzwischen durch ausgesandte Boten eine betrübliche Kunde: Die Wirtin, heißt es, würde von nun an jede Bierversorgung des exterritorialen Gebietes einstellen. Unwiderruflich. Die Stuhlbesetzer nehmen es hin mit der Gelassenheit derjenigen, denen man zuletzt mehrfach bestätigt hat, cool und geil zu sein.
„Haste wirklich nix zu kiffen?“, wendet sich der Muskelmann wieder an das Zahnlückensortiment auf zwei Beinen. Jetzt lässt sich sogar die Wirtin selber blicken. „Gleich kommt die Schmier!“, warnt sie, doch das gehört auf der Kreuzung längst zum Allgemeinwissen. Selbst ich ertappe mich dabei, wie ich sie mitleidig anlächle.
Und wirklich: Die Schmier kommt. Allerdings aus ungeahnter Richtung, nämlich der Detlev-Bremer-Straße. Die beiden biersatten Verkehrshindernisse packen erstaunlich katzenartig ihre Stühle und huschen hinüber zum Tippel II, der Araber, der Bote des Bierstopps und ich treten dezent zurück an den Straßenrand.
Und als der Streifenwagen langsam über die Kreuzung gleitet wie ein witterndes Raubtier, ist das übliche Raum-Zeit-Kontinuum längst wieder hergestellt. Nichts mehr erinnert an die zwei traulichen Zecher, nichts mehr an unsere kleine Runde mitten auf der Straße, mitten im Verkehr.
Ich muss an Samuel Beckets Stück „Warten auf Godot“ denken, weiß aber nicht mehr, warum.
Ex cathedra: Die Top 3 der Songs über Kreuzungen und Straßen
1. „Crossroads" von Calvin Russell
2. „Crossroads" von Robert Johnson
3. „Our house" von Madness